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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ode

Deswegen aber ist nicht jede Ode erhaben, oder
hinreißend; aber jede ist in ihrer Art, nach Maaß-
gebung dessen, was sie ausdrükt, höchst poetisch;
ihr Ausdruk, oder ihre Wendung, hat allemal, wenn
auch der Jnhalt noch so klein, noch so gering ist,
etwas Außerordentliches, das den Zuhörer überrascht,
mehr oder weniger in Verwunderung sezet, oder
doch sehr einnihmt. Um dieses zu fühlen, lese man
die zwanzigste Ode des ersten Buchs vom Horaz.
Mecänas bat sich selbst bey dem Dichter zu Gaste;
in der gemeinen Sprache würde dieser ihm geant-
wortet haben: du kannst kommen, wenn du mit
schlechterm Wein, als dessen du gewohnt bist, vor-
lieb nehmen willst.
Ein Dichter, der sich nicht
bis zum Ton der Ode heben kann, würde dieses
etwas feiner und wiziger sagen: Horaz aber giebt
dem Gedanken eine Wendung, wodurch er den em-
pfindungsvollen sapphischen Ton verträgt: und in-
dem er ihn in einer hohen poetischen Laune vor-
trägt, wird er zur Ode.

Es ist also nicht die Größe des Gegenstandes
der besungen wird, nicht die Wichtigkeit des Stoffs,
darin man den Charakter dieses Gedichtes zu suchen
hat; es erhält ihn allein von dem besondern und
höchstlebhaften Genie des Dichters, der auch eine
gemeine Sache in einen Lichte sieht, darin sie die Phan-
tasie und die Empfindung reizet. So leicht es ist
das Charakteristische dieser Dichtungsart bey jeder
guten Ode zu empfinden, so schweer ist es, dasselbe
durch umständliche Beschreibung zu entwikeln.

Da sie die Frucht des höchsten Feuers der Begei-
sterung, oder wenigstens des lebhaftesten Anfalls der
poetischen Laune ist; so kann sie keine beträchtliche
Länge haben. Denn dieser Gemüthszustand kann
seiner Natur nach nicht lange dauren. Und da man
in einem solchen Zustande alles übersieht, was nicht
sehr lebhaft rühret, so sind in der Ode Gedanken,
Empfindungen, Bilder, jeder Ausdruk entweder
erhaben, hyperbolisch, stark, und von lebhaftem
Schwung, oder von besonderer Annehmlichkeit; al-
les Bedächtliche und Gesuchte fällt da nothwendig
weg. Darum ist auch die Ordnung der Gedanken
darin zwar höchst natürlich für diesen ausserordent-
lichen Zustand des Gemüthes, darin man nichts
sucht, aber einen Reichthum lebhafter Vorstellungen
von selbst, von der Natur angebothen, findet; man
empfindet, wie ein Gedanken aus dem andern ent-
standen ist, nicht durch methodisches Nachdenken,
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Ode
sondern der Lebhaftigkeit der Phantasie und des
Wizes gemäß. Es ist darin nicht die nothwendige
Ordnung, wie in den Gedanken, den ein zergliedern-
der, oder zusammensezender Verstand entwikelt, aber
eine den Gesezen der Einbildungskraft, und der Em-
pfindung gemäße, nach welcher der poetische Taumel
des Dichters, insgemein sich auf eine unerwartete
Weise endiget, und in dem Zuhörer Ueberraschung,
oder sanftes Vergnügen zurükläßt. Dadurch wird
jede Ode eine wahrhafte und sehr merkwürdige
Schilderung des innern Zustandes, worin ein Dich-
ter von vorzüglichem Genie, durch eine besondere
Veranlassung auf eine kurze Zeit ist gesezt worden.
Man wird von diesem sonderbaren Gedicht einen
ziemlich bestimmten Begriff haben, wenn man sich
dasselbe als eine erweiterte, und nach Maaßgebung
der Materie mit den kräftigsten, schönsten, oder
lieblichsten Farben der Dichtkunst ausgeschmükte Aus-
rufung
vorstellt.

Wir müssen aber nicht vergessen, auch eine ganz
eigene Versart mit zu dem Charakter der Ode zu
rechnen. Man kann leicht erachten, daß ein so
außerordentlicher Zustand, wie der ist, da man vor
Fülle der Empfindung singt und springet, (dies ist
würklich der natürliche Zustand, der die Ode her-
vorgebracht hat) auch einen außerordentlichen Ton
und Klang verursachen werde. Der Dichter nihmt
da Bewegung, Wolklang und Rhythmus, als be-
währte Mittel die Empfindung zu unterhalten, und
zu stärken, zu Hülfe. (*) Jch habe anderswo eine
Beobachtung angeführt, welche beweiset, wie viel
Kraft das Melodische des Sylbenmaaß habe, um
den Dichter in seiner Laune zu unterhalten. (*) Jn
der Gemüthslage, worin der Odendichter sich be-
findet, spricht man gerne in kurzen, sehr klangrei-
chen Säzen, die bald länger, bald kürzer sind, nach
Maaßgebung der Empfindung, die man äußert.

Daher ist zu vermuthen, daß jede würkliche Ode,
sie sey hebräischen, griechischen, oder celtischen Ur-
sprunges, in dem Klange mehr Musik verrathen
wird, als jede andere Dichtungsart. Dieses liegt
in der Natur. Als man nachher, die von der Na-
tur erzeugten Oden zum Werk der Kunst machte,
dachte man vielfältig über das Sylbenmaaß nach,
und das feine Ohr der griechischen Dichter fand
mancherley Gattungen desselben. (*) Die Anord-
nung der Verse in Strophen, die nach einem Mu-

ster
(*) S.
Melodie,
Takt,
Rhoth-
mus.
(*) S.
die Vorre-
de zu der
ersten
Samm-
lung der
Gedichte
der Frau
Karschin
(*) S.
Splhen-
maaß,
Versart.
K k k k k 3
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Ode

Deswegen aber iſt nicht jede Ode erhaben, oder
hinreißend; aber jede iſt in ihrer Art, nach Maaß-
gebung deſſen, was ſie ausdruͤkt, hoͤchſt poetiſch;
ihr Ausdruk, oder ihre Wendung, hat allemal, wenn
auch der Jnhalt noch ſo klein, noch ſo gering iſt,
etwas Außerordentliches, das den Zuhoͤrer uͤberraſcht,
mehr oder weniger in Verwunderung ſezet, oder
doch ſehr einnihmt. Um dieſes zu fuͤhlen, leſe man
die zwanzigſte Ode des erſten Buchs vom Horaz.
Mecaͤnas bat ſich ſelbſt bey dem Dichter zu Gaſte;
in der gemeinen Sprache wuͤrde dieſer ihm geant-
wortet haben: du kannſt kommen, wenn du mit
ſchlechterm Wein, als deſſen du gewohnt biſt, vor-
lieb nehmen willſt.
Ein Dichter, der ſich nicht
bis zum Ton der Ode heben kann, wuͤrde dieſes
etwas feiner und wiziger ſagen: Horaz aber giebt
dem Gedanken eine Wendung, wodurch er den em-
pfindungsvollen ſapphiſchen Ton vertraͤgt: und in-
dem er ihn in einer hohen poetiſchen Laune vor-
traͤgt, wird er zur Ode.

Es iſt alſo nicht die Groͤße des Gegenſtandes
der beſungen wird, nicht die Wichtigkeit des Stoffs,
darin man den Charakter dieſes Gedichtes zu ſuchen
hat; es erhaͤlt ihn allein von dem beſondern und
hoͤchſtlebhaften Genie des Dichters, der auch eine
gemeine Sache in einen Lichte ſieht, darin ſie die Phan-
taſie und die Empfindung reizet. So leicht es iſt
das Charakteriſtiſche dieſer Dichtungsart bey jeder
guten Ode zu empfinden, ſo ſchweer iſt es, daſſelbe
durch umſtaͤndliche Beſchreibung zu entwikeln.

Da ſie die Frucht des hoͤchſten Feuers der Begei-
ſterung, oder wenigſtens des lebhafteſten Anfalls der
poetiſchen Laune iſt; ſo kann ſie keine betraͤchtliche
Laͤnge haben. Denn dieſer Gemuͤthszuſtand kann
ſeiner Natur nach nicht lange dauren. Und da man
in einem ſolchen Zuſtande alles uͤberſieht, was nicht
ſehr lebhaft ruͤhret, ſo ſind in der Ode Gedanken,
Empfindungen, Bilder, jeder Ausdruk entweder
erhaben, hyperboliſch, ſtark, und von lebhaftem
Schwung, oder von beſonderer Annehmlichkeit; al-
les Bedaͤchtliche und Geſuchte faͤllt da nothwendig
weg. Darum iſt auch die Ordnung der Gedanken
darin zwar hoͤchſt natuͤrlich fuͤr dieſen auſſerordent-
lichen Zuſtand des Gemuͤthes, darin man nichts
ſucht, aber einen Reichthum lebhafter Vorſtellungen
von ſelbſt, von der Natur angebothen, findet; man
empfindet, wie ein Gedanken aus dem andern ent-
ſtanden iſt, nicht durch methodiſches Nachdenken,
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Ode
ſondern der Lebhaftigkeit der Phantaſie und des
Wizes gemaͤß. Es iſt darin nicht die nothwendige
Ordnung, wie in den Gedanken, den ein zergliedern-
der, oder zuſammenſezender Verſtand entwikelt, aber
eine den Geſezen der Einbildungskraft, und der Em-
pfindung gemaͤße, nach welcher der poetiſche Taumel
des Dichters, insgemein ſich auf eine unerwartete
Weiſe endiget, und in dem Zuhoͤrer Ueberraſchung,
oder ſanftes Vergnuͤgen zuruͤklaͤßt. Dadurch wird
jede Ode eine wahrhafte und ſehr merkwuͤrdige
Schilderung des innern Zuſtandes, worin ein Dich-
ter von vorzuͤglichem Genie, durch eine beſondere
Veranlaſſung auf eine kurze Zeit iſt geſezt worden.
Man wird von dieſem ſonderbaren Gedicht einen
ziemlich beſtimmten Begriff haben, wenn man ſich
daſſelbe als eine erweiterte, und nach Maaßgebung
der Materie mit den kraͤftigſten, ſchoͤnſten, oder
lieblichſten Farben der Dichtkunſt ausgeſchmuͤkte Aus-
rufung
vorſtellt.

Wir muͤſſen aber nicht vergeſſen, auch eine ganz
eigene Versart mit zu dem Charakter der Ode zu
rechnen. Man kann leicht erachten, daß ein ſo
außerordentlicher Zuſtand, wie der iſt, da man vor
Fuͤlle der Empfindung ſingt und ſpringet, (dies iſt
wuͤrklich der natuͤrliche Zuſtand, der die Ode her-
vorgebracht hat) auch einen außerordentlichen Ton
und Klang verurſachen werde. Der Dichter nihmt
da Bewegung, Wolklang und Rhythmus, als be-
waͤhrte Mittel die Empfindung zu unterhalten, und
zu ſtaͤrken, zu Huͤlfe. (*) Jch habe anderswo eine
Beobachtung angefuͤhrt, welche beweiſet, wie viel
Kraft das Melodiſche des Sylbenmaaß habe, um
den Dichter in ſeiner Laune zu unterhalten. (*) Jn
der Gemuͤthslage, worin der Odendichter ſich be-
findet, ſpricht man gerne in kurzen, ſehr klangrei-
chen Saͤzen, die bald laͤnger, bald kuͤrzer ſind, nach
Maaßgebung der Empfindung, die man aͤußert.

Daher iſt zu vermuthen, daß jede wuͤrkliche Ode,
ſie ſey hebraͤiſchen, griechiſchen, oder celtiſchen Ur-
ſprunges, in dem Klange mehr Muſik verrathen
wird, als jede andere Dichtungsart. Dieſes liegt
in der Natur. Als man nachher, die von der Na-
tur erzeugten Oden zum Werk der Kunſt machte,
dachte man vielfaͤltig uͤber das Sylbenmaaß nach,
und das feine Ohr der griechiſchen Dichter fand
mancherley Gattungen deſſelben. (*) Die Anord-
nung der Verſe in Strophen, die nach einem Mu-

ſter
(*) S.
Melodie,
Takt,
Rhoth-
mus.
(*) S.
die Vorre-
de zu der
erſten
Samm-
lung der
Gedichte
der Frau
Karſchin
(*) S.
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maaß,
Versart.
K k k k k 3
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[831[813]/0248] Ode Ode Deswegen aber iſt nicht jede Ode erhaben, oder hinreißend; aber jede iſt in ihrer Art, nach Maaß- gebung deſſen, was ſie ausdruͤkt, hoͤchſt poetiſch; ihr Ausdruk, oder ihre Wendung, hat allemal, wenn auch der Jnhalt noch ſo klein, noch ſo gering iſt, etwas Außerordentliches, das den Zuhoͤrer uͤberraſcht, mehr oder weniger in Verwunderung ſezet, oder doch ſehr einnihmt. Um dieſes zu fuͤhlen, leſe man die zwanzigſte Ode des erſten Buchs vom Horaz. Mecaͤnas bat ſich ſelbſt bey dem Dichter zu Gaſte; in der gemeinen Sprache wuͤrde dieſer ihm geant- wortet haben: du kannſt kommen, wenn du mit ſchlechterm Wein, als deſſen du gewohnt biſt, vor- lieb nehmen willſt. Ein Dichter, der ſich nicht bis zum Ton der Ode heben kann, wuͤrde dieſes etwas feiner und wiziger ſagen: Horaz aber giebt dem Gedanken eine Wendung, wodurch er den em- pfindungsvollen ſapphiſchen Ton vertraͤgt: und in- dem er ihn in einer hohen poetiſchen Laune vor- traͤgt, wird er zur Ode. Es iſt alſo nicht die Groͤße des Gegenſtandes der beſungen wird, nicht die Wichtigkeit des Stoffs, darin man den Charakter dieſes Gedichtes zu ſuchen hat; es erhaͤlt ihn allein von dem beſondern und hoͤchſtlebhaften Genie des Dichters, der auch eine gemeine Sache in einen Lichte ſieht, darin ſie die Phan- taſie und die Empfindung reizet. So leicht es iſt das Charakteriſtiſche dieſer Dichtungsart bey jeder guten Ode zu empfinden, ſo ſchweer iſt es, daſſelbe durch umſtaͤndliche Beſchreibung zu entwikeln. Da ſie die Frucht des hoͤchſten Feuers der Begei- ſterung, oder wenigſtens des lebhafteſten Anfalls der poetiſchen Laune iſt; ſo kann ſie keine betraͤchtliche Laͤnge haben. Denn dieſer Gemuͤthszuſtand kann ſeiner Natur nach nicht lange dauren. Und da man in einem ſolchen Zuſtande alles uͤberſieht, was nicht ſehr lebhaft ruͤhret, ſo ſind in der Ode Gedanken, Empfindungen, Bilder, jeder Ausdruk entweder erhaben, hyperboliſch, ſtark, und von lebhaftem Schwung, oder von beſonderer Annehmlichkeit; al- les Bedaͤchtliche und Geſuchte faͤllt da nothwendig weg. Darum iſt auch die Ordnung der Gedanken darin zwar hoͤchſt natuͤrlich fuͤr dieſen auſſerordent- lichen Zuſtand des Gemuͤthes, darin man nichts ſucht, aber einen Reichthum lebhafter Vorſtellungen von ſelbſt, von der Natur angebothen, findet; man empfindet, wie ein Gedanken aus dem andern ent- ſtanden iſt, nicht durch methodiſches Nachdenken, ſondern der Lebhaftigkeit der Phantaſie und des Wizes gemaͤß. Es iſt darin nicht die nothwendige Ordnung, wie in den Gedanken, den ein zergliedern- der, oder zuſammenſezender Verſtand entwikelt, aber eine den Geſezen der Einbildungskraft, und der Em- pfindung gemaͤße, nach welcher der poetiſche Taumel des Dichters, insgemein ſich auf eine unerwartete Weiſe endiget, und in dem Zuhoͤrer Ueberraſchung, oder ſanftes Vergnuͤgen zuruͤklaͤßt. Dadurch wird jede Ode eine wahrhafte und ſehr merkwuͤrdige Schilderung des innern Zuſtandes, worin ein Dich- ter von vorzuͤglichem Genie, durch eine beſondere Veranlaſſung auf eine kurze Zeit iſt geſezt worden. Man wird von dieſem ſonderbaren Gedicht einen ziemlich beſtimmten Begriff haben, wenn man ſich daſſelbe als eine erweiterte, und nach Maaßgebung der Materie mit den kraͤftigſten, ſchoͤnſten, oder lieblichſten Farben der Dichtkunſt ausgeſchmuͤkte Aus- rufung vorſtellt. Wir muͤſſen aber nicht vergeſſen, auch eine ganz eigene Versart mit zu dem Charakter der Ode zu rechnen. Man kann leicht erachten, daß ein ſo außerordentlicher Zuſtand, wie der iſt, da man vor Fuͤlle der Empfindung ſingt und ſpringet, (dies iſt wuͤrklich der natuͤrliche Zuſtand, der die Ode her- vorgebracht hat) auch einen außerordentlichen Ton und Klang verurſachen werde. Der Dichter nihmt da Bewegung, Wolklang und Rhythmus, als be- waͤhrte Mittel die Empfindung zu unterhalten, und zu ſtaͤrken, zu Huͤlfe. (*) Jch habe anderswo eine Beobachtung angefuͤhrt, welche beweiſet, wie viel Kraft das Melodiſche des Sylbenmaaß habe, um den Dichter in ſeiner Laune zu unterhalten. (*) Jn der Gemuͤthslage, worin der Odendichter ſich be- findet, ſpricht man gerne in kurzen, ſehr klangrei- chen Saͤzen, die bald laͤnger, bald kuͤrzer ſind, nach Maaßgebung der Empfindung, die man aͤußert. Daher iſt zu vermuthen, daß jede wuͤrkliche Ode, ſie ſey hebraͤiſchen, griechiſchen, oder celtiſchen Ur- ſprunges, in dem Klange mehr Muſik verrathen wird, als jede andere Dichtungsart. Dieſes liegt in der Natur. Als man nachher, die von der Na- tur erzeugten Oden zum Werk der Kunſt machte, dachte man vielfaͤltig uͤber das Sylbenmaaß nach, und das feine Ohr der griechiſchen Dichter fand mancherley Gattungen deſſelben. (*) Die Anord- nung der Verſe in Strophen, die nach einem Mu- ſter (*) S. Melodie, Takt, Rhoth- mus. (*) S. die Vorre- de zu der erſten Samm- lung der Gedichte der Frau Karſchin (*) S. Splhen- maaß, Versart. K k k k k 3

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 831[813]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/248>, abgerufen am 06.05.2024.