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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Myt
werden, als die Sachen, welche die Natur, oder die
Künste hervorbringen. Nur müssen dabey, wie
bey andern Bildern, die wesentlichen Regeln, daß
sie bekannt und der Materie anständig seyen, in Acht
genommen werden. Für gemeine Leser schiken sich
unbekanntere mythologische Bilder nicht, und in ei-
nem geistlichen Gedichte können das Elysium und
der Tartarus nicht erscheinen. Aber der Grund,
warum sie da verworfen werden, giebt auch tausend
andern aus der Natur oder Kunst hergenommenen
Bildern, die Ausschließung aus solchen Gedichten.
2. Eben so frey kann man die Mythologie zum
Stoff moralischer, oder blos lustiger Erzählungen
brauchen. Es wird wol keinem Menschen einfallen Ha-
gedorns Philemon und Baucis, oder Bodmers Pyg-
malion, oder Wielands Erzählung von dem Urtheil
des Paris deswegen zu tadeln, daß die handelnden
Personen aus der Mythologie genommen sind.
Ueberhaupt also, kann das ganze mythologische
Fach, als eine Vorrathskammer angesehen werden,
aus der Personen und Sachen als Bilder, oder als
Beyspiele herzunehmen sind, und ihr Gebrauch ist
nicht mehr eingeschränkt, als der Gebrauch irgend
eines andern Faches.
3. Hingegen können mythologische Wesen nie,
als würkliche, die außer dem Bildlichen, was darin
liegt, eine wahrhafte Existenz haben, gebraucht
werden. Horaz konnte, da er einer nahen Todes-
gefahr entgangen war, noch sagen: Wie nahe war
es daran, daß ich das Reich der Proserpina und
den richtenden Acacus gesehen hätte,
u. s. w. we-
nigstens hatten damals diese Wesen in der Meinung
des Pöbels noch einige Wahrheit. Aber gegenwär-
tig würde durch eine solche unmittelbare Verbin-
dung des fabelhaften mit dem wahren, einer ernst-
haften Sache das Gevräg des Scherzes geben. Es
scheinet überhaupt damit die B. schaffenheit zu haben,
wie mit der Einmischung allegorischer Personen in
historische Gemählde, davon wir anderswo gespro-
chen haben. (*) Es hat etwas anstößiges, sie mit
den in der Natur vorhandenen Wesen in eine Classe
gestellt zu sehen. Jn der äsopischen Fabel sprechen
die Thiere mit einander, wie vernünftige Wesen,
aber wer gegenwärtig in der Epopöe einen Helden
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sich mit seinem Pserd unterreden ließe, würde nicht
zu ertragen seyn. Eine ähnliche Beschaffenheit hat
es mit der Mythologie in so fern sie historisch behan-
delt wird.

Seit kurzem haben einige, die das große Anse-
hen Klopstoks für sich haben, angefangen, die Na-
tionalmythologie der nordischen Völker zu brauchen.
Meines Erachtens war der Einfall nicht glüklich.
Was für ein erstaunlicher Unterschied zwischen der
Mythologie der Griechen, die so voll Annehmlich-
keit, so voll reizender Bilder ist, und der armen
Mythologie der Celten? Wer wird das Elysium mit
allen seinen Lieblichkeiten, gegen Valhalla, wo die
Seeligen aus den Hirnschädeln ihrer Feinde Bier
und Brantewein trinken, vertauschen können? Die
angenehmen Früchte des griechischen Erdreichs ste-
chen nicht mehr gegen die herbe Frucht des nordi-
schen Schleedorns ab, als die reizenden Bilder der
griechischen Fabel, gegen die rohen der Celtischen.

Aber wenn die mythologischen Personen nicht
mehr in die Handlung unsers Heldengedichts, oder
unsers Drama eingeführt werden können, so ver-
liehren wir eine Quelle des Wunderbahren. Das
ist wahr, und in diesem Stüke sind wir in dem Fall
erwachsener Menschen, die man nicht mehr durch
Kindermährchen in Schreken, oder Erstaunen sezen
kann. Die reifere Vernunft erfodert ein anderes
Wunderbare, als die noch kindische Phantasie. Die-
ses männliche Wunderbare haben große Dichter
auch zu finden gewußt. Jst denn im verlohrnen
Paradies, in der Meßiade, in der Noachide weni-
ger Wunderbares, als in der Jlias, oder in der
Odyssee? "Freylich nicht. Aber philosophische Köpfe
haben Mühe sich an die biblische Mythologie zu ge-
wöhnen." Das kann seyn; auch ist die Dichtkunst
überhaupt nicht für solche philosophische Köpfe bey
denen die Einbildungskraft beständig von dem Ver-
stand in Fesseln gehalten wird. "Also, Erdichtung
für Erdichtung, hätte man ja beym Alten bleiben
können." Das hätte man gekonnt, wenn nicht
jene Erdichtungen allen izt durchgehends erkannten
Wahrheiten so gerad entgegen stühnden, und wenn
nicht die Regel des Horaz in der Natur gegründet
wäre: Ficta sint proxima veris.



(*) S.
Allegorie
in der Mah-
lerey.
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Myt
werden, als die Sachen, welche die Natur, oder die
Kuͤnſte hervorbringen. Nur muͤſſen dabey, wie
bey andern Bildern, die weſentlichen Regeln, daß
ſie bekannt und der Materie anſtaͤndig ſeyen, in Acht
genommen werden. Fuͤr gemeine Leſer ſchiken ſich
unbekanntere mythologiſche Bilder nicht, und in ei-
nem geiſtlichen Gedichte koͤnnen das Elyſium und
der Tartarus nicht erſcheinen. Aber der Grund,
warum ſie da verworfen werden, giebt auch tauſend
andern aus der Natur oder Kunſt hergenommenen
Bildern, die Ausſchließung aus ſolchen Gedichten.
2. Eben ſo frey kann man die Mythologie zum
Stoff moraliſcher, oder blos luſtiger Erzaͤhlungen
brauchen. Es wird wol keinem Menſchen einfallen Ha-
gedorns Philemon und Baucis, oder Bodmers Pyg-
malion, oder Wielands Erzaͤhlung von dem Urtheil
des Paris deswegen zu tadeln, daß die handelnden
Perſonen aus der Mythologie genommen ſind.
Ueberhaupt alſo, kann das ganze mythologiſche
Fach, als eine Vorrathskammer angeſehen werden,
aus der Perſonen und Sachen als Bilder, oder als
Beyſpiele herzunehmen ſind, und ihr Gebrauch iſt
nicht mehr eingeſchraͤnkt, als der Gebrauch irgend
eines andern Faches.
3. Hingegen koͤnnen mythologiſche Weſen nie,
als wuͤrkliche, die außer dem Bildlichen, was darin
liegt, eine wahrhafte Existenz haben, gebraucht
werden. Horaz konnte, da er einer nahen Todes-
gefahr entgangen war, noch ſagen: Wie nahe war
es daran, daß ich das Reich der Proſerpina und
den richtenden Acacus geſehen haͤtte,
u. ſ. w. we-
nigſtens hatten damals dieſe Weſen in der Meinung
des Poͤbels noch einige Wahrheit. Aber gegenwaͤr-
tig wuͤrde durch eine ſolche unmittelbare Verbin-
dung des fabelhaften mit dem wahren, einer ernſt-
haften Sache das Gevraͤg des Scherzes geben. Es
ſcheinet uͤberhaupt damit die B. ſchaffenheit zu haben,
wie mit der Einmiſchung allegoriſcher Perſonen in
hiſtoriſche Gemaͤhlde, davon wir anderswo geſpro-
chen haben. (*) Es hat etwas anſtoͤßiges, ſie mit
den in der Natur vorhandenen Weſen in eine Claſſe
geſtellt zu ſehen. Jn der aͤſopiſchen Fabel ſprechen
die Thiere mit einander, wie vernuͤnftige Weſen,
aber wer gegenwaͤrtig in der Epopoͤe einen Helden
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Myt
ſich mit ſeinem Pſerd unterreden ließe, wuͤrde nicht
zu ertragen ſeyn. Eine aͤhnliche Beſchaffenheit hat
es mit der Mythologie in ſo fern ſie hiſtoriſch behan-
delt wird.

Seit kurzem haben einige, die das große Anſe-
hen Klopſtoks fuͤr ſich haben, angefangen, die Na-
tionalmythologie der nordiſchen Voͤlker zu brauchen.
Meines Erachtens war der Einfall nicht gluͤklich.
Was fuͤr ein erſtaunlicher Unterſchied zwiſchen der
Mythologie der Griechen, die ſo voll Annehmlich-
keit, ſo voll reizender Bilder iſt, und der armen
Mythologie der Celten? Wer wird das Elyſium mit
allen ſeinen Lieblichkeiten, gegen Valhalla, wo die
Seeligen aus den Hirnſchaͤdeln ihrer Feinde Bier
und Brantewein trinken, vertauſchen koͤnnen? Die
angenehmen Fruͤchte des griechiſchen Erdreichs ſte-
chen nicht mehr gegen die herbe Frucht des nordi-
ſchen Schleedorns ab, als die reizenden Bilder der
griechiſchen Fabel, gegen die rohen der Celtiſchen.

Aber wenn die mythologiſchen Perſonen nicht
mehr in die Handlung unſers Heldengedichts, oder
unſers Drama eingefuͤhrt werden koͤnnen, ſo ver-
liehren wir eine Quelle des Wunderbahren. Das
iſt wahr, und in dieſem Stuͤke ſind wir in dem Fall
erwachſener Menſchen, die man nicht mehr durch
Kindermaͤhrchen in Schreken, oder Erſtaunen ſezen
kann. Die reifere Vernunft erfodert ein anderes
Wunderbare, als die noch kindiſche Phantaſie. Die-
ſes maͤnnliche Wunderbare haben große Dichter
auch zu finden gewußt. Jſt denn im verlohrnen
Paradies, in der Meßiade, in der Noachide weni-
ger Wunderbares, als in der Jlias, oder in der
Odyſſee? „Freylich nicht. Aber philoſophiſche Koͤpfe
haben Muͤhe ſich an die bibliſche Mythologie zu ge-
woͤhnen.“ Das kann ſeyn; auch iſt die Dichtkunſt
uͤberhaupt nicht fuͤr ſolche philoſophiſche Koͤpfe bey
denen die Einbildungskraft beſtaͤndig von dem Ver-
ſtand in Feſſeln gehalten wird. „Alſo, Erdichtung
fuͤr Erdichtung, haͤtte man ja beym Alten bleiben
koͤnnen.“ Das haͤtte man gekonnt, wenn nicht
jene Erdichtungen allen izt durchgehends erkannten
Wahrheiten ſo gerad entgegen ſtuͤhnden, und wenn
nicht die Regel des Horaz in der Natur gegruͤndet
waͤre: Ficta ſint proxima veris.



(*) S.
Allegorie
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lerey.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 794[776]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/211>, abgerufen am 25.11.2024.