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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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R.


Nachahmung.
(Schöne Künste.)

Wer nicht nach eigenen Vorstellungen handelt,
sondern etwas darum thut, weil andere vor
ihm dasselbe gethan haben, und wer in seinen Hand-
lungen nicht seinen eigenen Begriffen folget, son-
dern das, was andere gethan haben, zur Vorschrift
nihmt, der ist ein Nachahmer: Original ist der,
dessen Handlungen aus seinen eigenen Vorstellungen
entstehen, und der in der Ausführung seinen eige-
nen Begriffen folget.

Es giebt Menschen, die in ihrem Denken und
Handeln so wenig eigenes haben, denen es an Kraft
oder Muth zu erfinden, so sehr fehlet, daß sie im-
mer nur das thun, was sie von andern sehen. Diese
sind das imitatorum servum pecus des Horaz; blinde,
kindische Nachahmer andrer Menschen. Jhre Hand-
lungen sind mehr Nachäffungen, ohne eigene Ab-
sichten, als Nachahmungen. So äffen Kinder in
ihren Spiehlen zum Zeitvertreib ernsthafte Handlun-
gen der Männer nach, deren Natur und Zwek sie
nicht einsehen. Andere, auch wol selbstdenkende
und aus Ueherlegung handelnde Menschen, ahmen
das schon vorhandene nach; weil sie erkennen, oder
empfinden, daß sie dadurch sicherer zum Zweke ge-
langen, als wenn sie selbst erfänden. Sie entdeken
in fremden Erfindungen gerade das, was sie nö
thig haben, und bedienen sich desselben zu ihren ei-
genen Absichten. Dieses aber geschiehet, nach Be-
schaffenheit des besondern Genies der Nachahmer,
mit mehr oder weniger Freyheit und eigener Mit-
würkung.

Wer allezeit denkt und überlegt, ahmet frey
nach. Er siehet in den Werken, die er sich zueignet,
gewisse Sachen, die zu seinem Zweke nicht dienen;
diese nihmt er in sein Werk nicht auf, sondern
wählt an deren Stelle andere nach seiner Absicht.
Dadurch wird sein Werk, das in der Hauptsach eine
Nachahmung ist, in besondern Theilen ein Original-
werk. Er kann der freye verständige Nachahmer ge-
nennet werden. Andre haben zwar aus Einsicht und
Ueberlegung fremde Werke oder Handlungen, als
die schiklichsten zu ihrer Absicht gewählt; aber ent-
[Spaltenumbruch] weder aus Trägheit, oder aus Mangel einer schär-
feren Beurtheilungskraft, beurtheilen sie nicht jedes
Einzele darin, sondern nehmen alles als gut und
schiklich an; machen ihr eigenes Werk mehr zu einer
Copey, als zu einer Nachahmung; und in dem sie
jedes Einzele des fremden Werks auch in das ihrige
bringen, so geschiehet es, daß sie auch das, was
ihrem Zwek fremd, oder gar zuwieder ist, mit auf-
nehmen. Diese sind knechtische, ängstliche Nachah-
mer. So ahmen die meisten Menschen in ihrer
Lebensart, in ihren häuslichen Einrichtungen andere
nach, ohne zu überlegen, was sie, nach ihrer be-
sondern Lage und nach ihren Umständen anders ma-
chen sollten.

Es giebt also dreyerley Arten der Nachahmung.
Die Nachäffung, die ein bloßes Kinderspiel ist, und
aus unbestimmter, keinen Zwek kennender Lust sich
zu beschäftigen entstehet, wodurch man verleitet
wird, zum Spiehl das zu thun, was andre in an-
drer Absicht gethan haben. So machen viel seichte
Köpfe aus den schönen Künsten ein Kinderspiel, und
äffen die Werke derselben nach, wie etwa Kinder
Soldaten spiehlen. Anakreon ein im Ueberfluß
sinnlicher Ergözlichkeiten lebender feiner und wiziger
Wollüstling, scherzte aus der Fülle des Vergnügens
mit Wein und Liebe; ein schwacher Jüngling, der
weder einen Funken von dem Geist des Thejers be-
sizet, noch irgend etwas von seinem Wolleben ge-
nießt, äffet seine Lieder nach, und wird zum Gespötte.

Die andere Art der Nachahmung ist die knechti-
sche und ängstliche; sie wählt zwar aus Ueberlegung
das Original, das sie sich zum Muster nihmt; aber
indem sie ohne Ueberlegung auch das Zufällige da-
rin nachahmet, was sich zu dem besondern Zwek
der Nachahmung nicht schiket, bringet sie ein Werk
hervor, in welchem viel unschikliches, oder gar un-
gereimtes ist. So wählet ein neuer Baumeister
aus guter Ueberlegung die dorische Ordnung zu ei-
nem Gebäude; aber indem er jedes Einzele, das er
darin findet, in sein Werk aufnihmt, und Hirnschä-
del von Opferthieren, oder Opfergefäße in seine
Metopen sezet, machet er oft etwas unsinniges.
Also kann diese Art der Nachahmung ein im Grunde

sonst
Zweyter Theil. F f f f f
R.


Nachahmung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Wer nicht nach eigenen Vorſtellungen handelt,
ſondern etwas darum thut, weil andere vor
ihm daſſelbe gethan haben, und wer in ſeinen Hand-
lungen nicht ſeinen eigenen Begriffen folget, ſon-
dern das, was andere gethan haben, zur Vorſchrift
nihmt, der iſt ein Nachahmer: Original iſt der,
deſſen Handlungen aus ſeinen eigenen Vorſtellungen
entſtehen, und der in der Ausfuͤhrung ſeinen eige-
nen Begriffen folget.

Es giebt Menſchen, die in ihrem Denken und
Handeln ſo wenig eigenes haben, denen es an Kraft
oder Muth zu erfinden, ſo ſehr fehlet, daß ſie im-
mer nur das thun, was ſie von andern ſehen. Dieſe
ſind das imitatorum ſervum pecus des Horaz; blinde,
kindiſche Nachahmer andrer Menſchen. Jhre Hand-
lungen ſind mehr Nachaͤffungen, ohne eigene Ab-
ſichten, als Nachahmungen. So aͤffen Kinder in
ihren Spiehlen zum Zeitvertreib ernſthafte Handlun-
gen der Maͤnner nach, deren Natur und Zwek ſie
nicht einſehen. Andere, auch wol ſelbſtdenkende
und aus Ueherlegung handelnde Menſchen, ahmen
das ſchon vorhandene nach; weil ſie erkennen, oder
empfinden, daß ſie dadurch ſicherer zum Zweke ge-
langen, als wenn ſie ſelbſt erfaͤnden. Sie entdeken
in fremden Erfindungen gerade das, was ſie noͤ
thig haben, und bedienen ſich deſſelben zu ihren ei-
genen Abſichten. Dieſes aber geſchiehet, nach Be-
ſchaffenheit des beſondern Genies der Nachahmer,
mit mehr oder weniger Freyheit und eigener Mit-
wuͤrkung.

Wer allezeit denkt und uͤberlegt, ahmet frey
nach. Er ſiehet in den Werken, die er ſich zueignet,
gewiſſe Sachen, die zu ſeinem Zweke nicht dienen;
dieſe nihmt er in ſein Werk nicht auf, ſondern
waͤhlt an deren Stelle andere nach ſeiner Abſicht.
Dadurch wird ſein Werk, das in der Hauptſach eine
Nachahmung iſt, in beſondern Theilen ein Original-
werk. Er kann der freye verſtaͤndige Nachahmer ge-
nennet werden. Andre haben zwar aus Einſicht und
Ueberlegung fremde Werke oder Handlungen, als
die ſchiklichſten zu ihrer Abſicht gewaͤhlt; aber ent-
[Spaltenumbruch] weder aus Traͤgheit, oder aus Mangel einer ſchaͤr-
feren Beurtheilungskraft, beurtheilen ſie nicht jedes
Einzele darin, ſondern nehmen alles als gut und
ſchiklich an; machen ihr eigenes Werk mehr zu einer
Copey, als zu einer Nachahmung; und in dem ſie
jedes Einzele des fremden Werks auch in das ihrige
bringen, ſo geſchiehet es, daß ſie auch das, was
ihrem Zwek fremd, oder gar zuwieder iſt, mit auf-
nehmen. Dieſe ſind knechtiſche, aͤngſtliche Nachah-
mer. So ahmen die meiſten Menſchen in ihrer
Lebensart, in ihren haͤuslichen Einrichtungen andere
nach, ohne zu uͤberlegen, was ſie, nach ihrer be-
ſondern Lage und nach ihren Umſtaͤnden anders ma-
chen ſollten.

Es giebt alſo dreyerley Arten der Nachahmung.
Die Nachaͤffung, die ein bloßes Kinderſpiel iſt, und
aus unbeſtimmter, keinen Zwek kennender Luſt ſich
zu beſchaͤftigen entſtehet, wodurch man verleitet
wird, zum Spiehl das zu thun, was andre in an-
drer Abſicht gethan haben. So machen viel ſeichte
Koͤpfe aus den ſchoͤnen Kuͤnſten ein Kinderſpiel, und
aͤffen die Werke derſelben nach, wie etwa Kinder
Soldaten ſpiehlen. Anakreon ein im Ueberfluß
ſinnlicher Ergoͤzlichkeiten lebender feiner und wiziger
Wolluͤſtling, ſcherzte aus der Fuͤlle des Vergnuͤgens
mit Wein und Liebe; ein ſchwacher Juͤngling, der
weder einen Funken von dem Geiſt des Thejers be-
ſizet, noch irgend etwas von ſeinem Wolleben ge-
nießt, aͤffet ſeine Lieder nach, und wird zum Geſpoͤtte.

Die andere Art der Nachahmung iſt die knechti-
ſche und aͤngſtliche; ſie waͤhlt zwar aus Ueberlegung
das Original, das ſie ſich zum Muſter nihmt; aber
indem ſie ohne Ueberlegung auch das Zufaͤllige da-
rin nachahmet, was ſich zu dem beſondern Zwek
der Nachahmung nicht ſchiket, bringet ſie ein Werk
hervor, in welchem viel unſchikliches, oder gar un-
gereimtes iſt. So waͤhlet ein neuer Baumeiſter
aus guter Ueberlegung die doriſche Ordnung zu ei-
nem Gebaͤude; aber indem er jedes Einzele, das er
darin findet, in ſein Werk aufnihmt, und Hirnſchaͤ-
del von Opferthieren, oder Opfergefaͤße in ſeine
Metopen ſezet, machet er oft etwas unſinniges.
Alſo kann dieſe Art der Nachahmung ein im Grunde

ſonſt
Zweyter Theil. F f f f f
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 795[777]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/212>, abgerufen am 25.11.2024.