wo jeder Schritt des Gesanges ausdrükend und be- deutend seyn soll, ungemein viel leiden. Freylich hat man auch an Feuer, Lebhaftigkeit, und an den mancherley Schattirungen der Empfindung durch die Mannigfaltigkeit der neuern melodischeu Erfin- dung, und selbst durch kluge Uebertretung der stren- gen harmonischen Regeln, gewonnen. Aber nur große Meister wissen diese Vortheile zu nuzen.
Daß die Musik in den neuern Zeiten, dem schö- nen und sehr geschmeidigen Genie, und der feinen Empfindsamkeit der Jtaliäner das meiste zu danken habe, ist keinem Zweifel unterworfen. Aber auch aus Jtalien ist das meiste, wodurch der wahre Ge- schmak verdorben worden, vornehmlich die Ueppig- keit der nichts sagenden und blos das Ohr küzelnden Melodien, in die Kunst gekommen. Schwerlich werden die meisten Ausländer, die in vielen Stüken gegen das deutsche Genie unüberwindliche Vorur- theile haben, unsrer Nation das Recht wiederfahren lassen, das ihr in Absicht auf die Musik gebührt. Sie werden nie mit wahrer Freymüthigkeit gestehen, daß unsre Bache, Händel, Graun, Haße in die Classe der Männer gehören, die der heutigen Musik die größte Ehre machen. Händel hat, nicht seine bewundrungswürdige Kunst, sondern blos die Aus- breitung seines Ruhmes, dem Zufall zu danken, daß er durch seinen Aufenthalt in England den National- stolz dieser sonderbaren Nation, intereßirt hat: hätte er alles gethan, was er würklich gethan hat, so würde seiner kaum erwähnet werden, wenn blos seine Werke, ohne seine Person nach jenem Lande gekommen wären. Graun, der an Lieblichkeit des Gesanges alle übertrift, und an Richtigkeit und Reichthum der Harmonie, auch genauer Beobach- tung aller Regeln, kaum irgend einem andern nach- steht, ist außer Deutschland fast gar nicht bekannt.
Ueber die Theorie der Kunst ist bis izt, wenn man das, was die Richtigkeit und Reinigkeit der Harmo- nie, und die Regeln der Modulation betrift, aus- nihmt, wenig beträchtliches geschrieben worden. Selbst das, was die Harmonie betrift ist nicht aus zuverläßigen Grundsäzen hergeleitet worden. Das wichtigste Werk über die Theorie wird ohne Zweifel das seyn, was der Berlinische Tonsezer Hr. Kirn- berger unternommen hat, wenn erst der zweyte Theil desselben wird an das Licht getreten seyn. (+) Schon [Spaltenumbruch]
Myt
im ersten Theile ist die Kenntnis der Harmonie aus dem unbegreiflichen Chaos, worin sie, nicht in den Tonstüken großer Meister, sondern in den theoreti- schen Schriften darüber, gelegen hat, in ein helles Licht gesezt worden. Jn diesem ganzen Werke bin ich überall den harmonischen Regeln dieses Mannes, so weit ich sie einzusehen im Stande war, gefolget. Und hier wird auch der bequämste Ort seyn, über- haupt das Bekenntnis abzulegen, daß das, was ich über diese Kunst hier und da bemerkt habe, aus dem Unterricht geflossen ist, den mir dieser in seiner Kunst höchst erfahrne und scharfsinnige Mann, mit ausnehmendem Eyfer ertheilt hat.
Mythologie. (Dichtkunst.)
Jede Nation hat ihre Mythologie, oder fabelhafte Geschichte, worauf sich ihre Religion auch zum Theil die Nationalsittenlehre gründet, und darin die wah- ren oder falschen Nachrichten von ihrem Ursprung und den ältesten Begebenheiten der bürgerlichen Ge- sellschaft eingehüllt liegen. Aber gemeiniglich ver- steht man unter dieser Benennung das Fabelsy- stem der Griechen, oder der Römer. Da die alten Dichter einen sehr vielfältigen Gebrauch von ihrer Mythologie gemacht haben, so ist sie auch von den Neuern, seitdem sie in den verschiedenen Dichtungs- arten sich die Griechen und Römer zu Mustern ge- wählt haben, in die Werke der Poesie aufgenom- men worden. Einige neuere Dichter scheinen zu glauben, daß man noch gegenwärtig einen eben so uneingeschränkten Gebrauch davon machen könne, als ehedem in der griechischen und lateinischen Poesie; andre scheinen sie fast gänzlich zu verwerfen. Die Frage von dem Gebrauch und Mißbrauch der My- thologie hat der Verfasser der bekannten Fragmente in der dritten Sammlung mit guter Urtheilskraft und ausführlich untersucht, auch dadurch ihren Ge- brauch und Mißbrauch wol bestimmt, so daß wenig Neues hierüber zu sagen ist. Wir begnügen uns demnach hier einige beyfällige Gedanken über diese Sache vorzutragen.
1. Mythologische Wesen, sie seyen Personen, oder Sachen, als Dinge betrachtet, die einen be- stimmten Charakter haben, können als einzele alle- gorische, oder metaphorische Bilder so gut gebraucht
wer-
(+) Der erste Theil ist vor etwa 2 Jahren unter dem Titel: [Spaltenumbruch]d. Kunst des reinen Sazes in der Musik herausgekommen.
[Spaltenumbruch]
Muſ
wo jeder Schritt des Geſanges ausdruͤkend und be- deutend ſeyn ſoll, ungemein viel leiden. Freylich hat man auch an Feuer, Lebhaftigkeit, und an den mancherley Schattirungen der Empfindung durch die Mannigfaltigkeit der neuern melodiſcheu Erfin- dung, und ſelbſt durch kluge Uebertretung der ſtren- gen harmoniſchen Regeln, gewonnen. Aber nur große Meiſter wiſſen dieſe Vortheile zu nuzen.
Daß die Muſik in den neuern Zeiten, dem ſchoͤ- nen und ſehr geſchmeidigen Genie, und der feinen Empfindſamkeit der Jtaliaͤner das meiſte zu danken habe, iſt keinem Zweifel unterworfen. Aber auch aus Jtalien iſt das meiſte, wodurch der wahre Ge- ſchmak verdorben worden, vornehmlich die Ueppig- keit der nichts ſagenden und blos das Ohr kuͤzelnden Melodien, in die Kunſt gekommen. Schwerlich werden die meiſten Auslaͤnder, die in vielen Stuͤken gegen das deutſche Genie unuͤberwindliche Vorur- theile haben, unſrer Nation das Recht wiederfahren laſſen, das ihr in Abſicht auf die Muſik gebuͤhrt. Sie werden nie mit wahrer Freymuͤthigkeit geſtehen, daß unſre Bache, Haͤndel, Graun, Haße in die Claſſe der Maͤnner gehoͤren, die der heutigen Muſik die groͤßte Ehre machen. Haͤndel hat, nicht ſeine bewundrungswuͤrdige Kunſt, ſondern blos die Aus- breitung ſeines Ruhmes, dem Zufall zu danken, daß er durch ſeinen Aufenthalt in England den National- ſtolz dieſer ſonderbaren Nation, intereßirt hat: haͤtte er alles gethan, was er wuͤrklich gethan hat, ſo wuͤrde ſeiner kaum erwaͤhnet werden, wenn blos ſeine Werke, ohne ſeine Perſon nach jenem Lande gekommen waͤren. Graun, der an Lieblichkeit des Geſanges alle uͤbertrift, und an Richtigkeit und Reichthum der Harmonie, auch genauer Beobach- tung aller Regeln, kaum irgend einem andern nach- ſteht, iſt außer Deutſchland faſt gar nicht bekannt.
Ueber die Theorie der Kunſt iſt bis izt, wenn man das, was die Richtigkeit und Reinigkeit der Harmo- nie, und die Regeln der Modulation betrift, aus- nihmt, wenig betraͤchtliches geſchrieben worden. Selbſt das, was die Harmonie betrift iſt nicht aus zuverlaͤßigen Grundſaͤzen hergeleitet worden. Das wichtigſte Werk uͤber die Theorie wird ohne Zweifel das ſeyn, was der Berliniſche Tonſezer Hr. Kirn- berger unternommen hat, wenn erſt der zweyte Theil deſſelben wird an das Licht getreten ſeyn. (†) Schon [Spaltenumbruch]
Myt
im erſten Theile iſt die Kenntnis der Harmonie aus dem unbegreiflichen Chaos, worin ſie, nicht in den Tonſtuͤken großer Meiſter, ſondern in den theoreti- ſchen Schriften daruͤber, gelegen hat, in ein helles Licht geſezt worden. Jn dieſem ganzen Werke bin ich uͤberall den harmoniſchen Regeln dieſes Mannes, ſo weit ich ſie einzuſehen im Stande war, gefolget. Und hier wird auch der bequaͤmſte Ort ſeyn, uͤber- haupt das Bekenntnis abzulegen, daß das, was ich uͤber dieſe Kunſt hier und da bemerkt habe, aus dem Unterricht gefloſſen iſt, den mir dieſer in ſeiner Kunſt hoͤchſt erfahrne und ſcharfſinnige Mann, mit ausnehmendem Eyfer ertheilt hat.
Mythologie. (Dichtkunſt.)
Jede Nation hat ihre Mythologie, oder fabelhafte Geſchichte, worauf ſich ihre Religion auch zum Theil die Nationalſittenlehre gruͤndet, und darin die wah- ren oder falſchen Nachrichten von ihrem Urſprung und den aͤlteſten Begebenheiten der buͤrgerlichen Ge- ſellſchaft eingehuͤllt liegen. Aber gemeiniglich ver- ſteht man unter dieſer Benennung das Fabelſy- ſtem der Griechen, oder der Roͤmer. Da die alten Dichter einen ſehr vielfaͤltigen Gebrauch von ihrer Mythologie gemacht haben, ſo iſt ſie auch von den Neuern, ſeitdem ſie in den verſchiedenen Dichtungs- arten ſich die Griechen und Roͤmer zu Muſtern ge- waͤhlt haben, in die Werke der Poeſie aufgenom- men worden. Einige neuere Dichter ſcheinen zu glauben, daß man noch gegenwaͤrtig einen eben ſo uneingeſchraͤnkten Gebrauch davon machen koͤnne, als ehedem in der griechiſchen und lateiniſchen Poeſie; andre ſcheinen ſie faſt gaͤnzlich zu verwerfen. Die Frage von dem Gebrauch und Mißbrauch der My- thologie hat der Verfaſſer der bekannten Fragmente in der dritten Sammlung mit guter Urtheilskraft und ausfuͤhrlich unterſucht, auch dadurch ihren Ge- brauch und Mißbrauch wol beſtimmt, ſo daß wenig Neues hieruͤber zu ſagen iſt. Wir begnuͤgen uns demnach hier einige beyfaͤllige Gedanken uͤber dieſe Sache vorzutragen.
1. Mythologiſche Weſen, ſie ſeyen Perſonen, oder Sachen, als Dinge betrachtet, die einen be- ſtimmten Charakter haben, koͤnnen als einzele alle- goriſche, oder metaphoriſche Bilder ſo gut gebraucht
wer-
(†) Der erſte Theil iſt vor etwa 2 Jahren unter dem Titel: [Spaltenumbruch]d. Kunſt des reinen Sazes in der Muſik herausgekommen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0210"n="793[775]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Muſ</hi></fw><lb/>
wo jeder Schritt des Geſanges ausdruͤkend und be-<lb/>
deutend ſeyn ſoll, ungemein viel leiden. Freylich<lb/>
hat man auch an Feuer, Lebhaftigkeit, und an den<lb/>
mancherley Schattirungen der Empfindung durch<lb/>
die Mannigfaltigkeit der neuern melodiſcheu Erfin-<lb/>
dung, und ſelbſt durch kluge Uebertretung der ſtren-<lb/>
gen harmoniſchen Regeln, gewonnen. Aber nur<lb/>
große Meiſter wiſſen dieſe Vortheile zu nuzen.</p><lb/><p>Daß die Muſik in den neuern Zeiten, dem ſchoͤ-<lb/>
nen und ſehr geſchmeidigen Genie, und der feinen<lb/>
Empfindſamkeit der Jtaliaͤner das meiſte zu danken<lb/>
habe, iſt keinem Zweifel unterworfen. Aber auch<lb/>
aus Jtalien iſt das meiſte, wodurch der wahre Ge-<lb/>ſchmak verdorben worden, vornehmlich die Ueppig-<lb/>
keit der nichts ſagenden und blos das Ohr kuͤzelnden<lb/>
Melodien, in die Kunſt gekommen. Schwerlich<lb/>
werden die meiſten Auslaͤnder, die in vielen Stuͤken<lb/>
gegen das deutſche Genie unuͤberwindliche Vorur-<lb/>
theile haben, unſrer Nation das Recht wiederfahren<lb/>
laſſen, das ihr in Abſicht auf die Muſik gebuͤhrt.<lb/>
Sie werden nie mit wahrer Freymuͤthigkeit geſtehen,<lb/>
daß unſre <hirendition="#fr">Bache, Haͤndel, Graun, Haße</hi> in die<lb/>
Claſſe der Maͤnner gehoͤren, die der heutigen Muſik<lb/>
die groͤßte Ehre machen. Haͤndel hat, nicht ſeine<lb/>
bewundrungswuͤrdige Kunſt, ſondern blos die Aus-<lb/>
breitung ſeines Ruhmes, dem Zufall zu danken, daß<lb/>
er durch ſeinen Aufenthalt in England den National-<lb/>ſtolz dieſer ſonderbaren Nation, intereßirt hat: haͤtte<lb/>
er alles gethan, was er wuͤrklich gethan hat, ſo<lb/>
wuͤrde ſeiner kaum erwaͤhnet werden, wenn blos<lb/>ſeine Werke, ohne ſeine Perſon nach jenem Lande<lb/>
gekommen waͤren. <hirendition="#fr">Graun,</hi> der an Lieblichkeit des<lb/>
Geſanges alle uͤbertrift, und an Richtigkeit und<lb/>
Reichthum der Harmonie, auch genauer Beobach-<lb/>
tung aller Regeln, kaum irgend einem andern nach-<lb/>ſteht, iſt außer Deutſchland faſt gar nicht bekannt.</p><lb/><p>Ueber die Theorie der Kunſt iſt bis izt, wenn man<lb/>
das, was die Richtigkeit und Reinigkeit der Harmo-<lb/>
nie, und die Regeln der Modulation betrift, aus-<lb/>
nihmt, wenig betraͤchtliches geſchrieben worden.<lb/>
Selbſt das, was die Harmonie betrift iſt nicht aus<lb/>
zuverlaͤßigen Grundſaͤzen hergeleitet worden. Das<lb/>
wichtigſte Werk uͤber die Theorie wird ohne Zweifel<lb/>
das ſeyn, was der Berliniſche Tonſezer Hr. <hirendition="#fr">Kirn-<lb/>
berger</hi> unternommen hat, wenn erſt der zweyte Theil<lb/>
deſſelben wird an das Licht getreten ſeyn. <noteplace="foot"n="(†)">Der erſte Theil iſt vor etwa 2 Jahren unter dem Titel:<lb/><cb/><hirendition="#fr">d. Kunſt des reinen Sazes in der Muſik</hi> herausgekommen.</note> Schon<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Myt</hi></fw><lb/>
im erſten Theile iſt die Kenntnis der Harmonie aus<lb/>
dem unbegreiflichen Chaos, worin ſie, nicht in den<lb/>
Tonſtuͤken großer Meiſter, ſondern in den theoreti-<lb/>ſchen Schriften daruͤber, gelegen hat, in ein helles<lb/>
Licht geſezt worden. Jn dieſem ganzen Werke bin<lb/>
ich uͤberall den harmoniſchen Regeln dieſes Mannes,<lb/>ſo weit ich ſie einzuſehen im Stande war, gefolget.<lb/>
Und hier wird auch der bequaͤmſte Ort ſeyn, uͤber-<lb/>
haupt das Bekenntnis abzulegen, daß das, was<lb/>
ich uͤber dieſe Kunſt hier und da bemerkt habe, aus<lb/>
dem Unterricht gefloſſen iſt, den mir dieſer in ſeiner<lb/>
Kunſt hoͤchſt erfahrne und ſcharfſinnige Mann, mit<lb/>
ausnehmendem Eyfer ertheilt hat.</p></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#g">Mythologie</hi>.<lb/>
(Dichtkunſt.)</head><lb/><p><hirendition="#in">J</hi>ede Nation hat ihre Mythologie, oder fabelhafte<lb/>
Geſchichte, worauf ſich ihre Religion auch zum Theil<lb/>
die Nationalſittenlehre gruͤndet, und darin die wah-<lb/>
ren oder falſchen Nachrichten von ihrem Urſprung<lb/>
und den aͤlteſten Begebenheiten der buͤrgerlichen Ge-<lb/>ſellſchaft eingehuͤllt liegen. Aber gemeiniglich ver-<lb/>ſteht man unter dieſer Benennung das Fabelſy-<lb/>ſtem der Griechen, oder der Roͤmer. Da die alten<lb/>
Dichter einen ſehr vielfaͤltigen Gebrauch von ihrer<lb/>
Mythologie gemacht haben, ſo iſt ſie auch von den<lb/>
Neuern, ſeitdem ſie in den verſchiedenen Dichtungs-<lb/>
arten ſich die Griechen und Roͤmer zu Muſtern ge-<lb/>
waͤhlt haben, in die Werke der Poeſie aufgenom-<lb/>
men worden. Einige neuere Dichter ſcheinen zu<lb/>
glauben, daß man noch gegenwaͤrtig einen eben ſo<lb/>
uneingeſchraͤnkten Gebrauch davon machen koͤnne,<lb/>
als ehedem in der griechiſchen und lateiniſchen Poeſie;<lb/>
andre ſcheinen ſie faſt gaͤnzlich zu verwerfen. Die<lb/>
Frage von dem Gebrauch und Mißbrauch der My-<lb/>
thologie hat der Verfaſſer der bekannten Fragmente<lb/>
in der dritten Sammlung mit guter Urtheilskraft<lb/>
und ausfuͤhrlich unterſucht, auch dadurch ihren Ge-<lb/>
brauch und Mißbrauch wol beſtimmt, ſo daß wenig<lb/>
Neues hieruͤber zu ſagen iſt. Wir begnuͤgen uns<lb/>
demnach hier einige beyfaͤllige Gedanken uͤber dieſe<lb/>
Sache vorzutragen.</p><lb/><list><item>1. Mythologiſche Weſen, ſie ſeyen Perſonen,<lb/>
oder Sachen, als Dinge betrachtet, die einen be-<lb/>ſtimmten Charakter haben, koͤnnen als einzele alle-<lb/>
goriſche, oder metaphoriſche Bilder ſo gut gebraucht<lb/><fwplace="bottom"type="catch">wer-</fw><lb/></item></list></div></div></body></text></TEI>
[793[775]/0210]
Muſ
Myt
wo jeder Schritt des Geſanges ausdruͤkend und be-
deutend ſeyn ſoll, ungemein viel leiden. Freylich
hat man auch an Feuer, Lebhaftigkeit, und an den
mancherley Schattirungen der Empfindung durch
die Mannigfaltigkeit der neuern melodiſcheu Erfin-
dung, und ſelbſt durch kluge Uebertretung der ſtren-
gen harmoniſchen Regeln, gewonnen. Aber nur
große Meiſter wiſſen dieſe Vortheile zu nuzen.
Daß die Muſik in den neuern Zeiten, dem ſchoͤ-
nen und ſehr geſchmeidigen Genie, und der feinen
Empfindſamkeit der Jtaliaͤner das meiſte zu danken
habe, iſt keinem Zweifel unterworfen. Aber auch
aus Jtalien iſt das meiſte, wodurch der wahre Ge-
ſchmak verdorben worden, vornehmlich die Ueppig-
keit der nichts ſagenden und blos das Ohr kuͤzelnden
Melodien, in die Kunſt gekommen. Schwerlich
werden die meiſten Auslaͤnder, die in vielen Stuͤken
gegen das deutſche Genie unuͤberwindliche Vorur-
theile haben, unſrer Nation das Recht wiederfahren
laſſen, das ihr in Abſicht auf die Muſik gebuͤhrt.
Sie werden nie mit wahrer Freymuͤthigkeit geſtehen,
daß unſre Bache, Haͤndel, Graun, Haße in die
Claſſe der Maͤnner gehoͤren, die der heutigen Muſik
die groͤßte Ehre machen. Haͤndel hat, nicht ſeine
bewundrungswuͤrdige Kunſt, ſondern blos die Aus-
breitung ſeines Ruhmes, dem Zufall zu danken, daß
er durch ſeinen Aufenthalt in England den National-
ſtolz dieſer ſonderbaren Nation, intereßirt hat: haͤtte
er alles gethan, was er wuͤrklich gethan hat, ſo
wuͤrde ſeiner kaum erwaͤhnet werden, wenn blos
ſeine Werke, ohne ſeine Perſon nach jenem Lande
gekommen waͤren. Graun, der an Lieblichkeit des
Geſanges alle uͤbertrift, und an Richtigkeit und
Reichthum der Harmonie, auch genauer Beobach-
tung aller Regeln, kaum irgend einem andern nach-
ſteht, iſt außer Deutſchland faſt gar nicht bekannt.
Ueber die Theorie der Kunſt iſt bis izt, wenn man
das, was die Richtigkeit und Reinigkeit der Harmo-
nie, und die Regeln der Modulation betrift, aus-
nihmt, wenig betraͤchtliches geſchrieben worden.
Selbſt das, was die Harmonie betrift iſt nicht aus
zuverlaͤßigen Grundſaͤzen hergeleitet worden. Das
wichtigſte Werk uͤber die Theorie wird ohne Zweifel
das ſeyn, was der Berliniſche Tonſezer Hr. Kirn-
berger unternommen hat, wenn erſt der zweyte Theil
deſſelben wird an das Licht getreten ſeyn. (†) Schon
im erſten Theile iſt die Kenntnis der Harmonie aus
dem unbegreiflichen Chaos, worin ſie, nicht in den
Tonſtuͤken großer Meiſter, ſondern in den theoreti-
ſchen Schriften daruͤber, gelegen hat, in ein helles
Licht geſezt worden. Jn dieſem ganzen Werke bin
ich uͤberall den harmoniſchen Regeln dieſes Mannes,
ſo weit ich ſie einzuſehen im Stande war, gefolget.
Und hier wird auch der bequaͤmſte Ort ſeyn, uͤber-
haupt das Bekenntnis abzulegen, daß das, was
ich uͤber dieſe Kunſt hier und da bemerkt habe, aus
dem Unterricht gefloſſen iſt, den mir dieſer in ſeiner
Kunſt hoͤchſt erfahrne und ſcharfſinnige Mann, mit
ausnehmendem Eyfer ertheilt hat.
Mythologie.
(Dichtkunſt.)
Jede Nation hat ihre Mythologie, oder fabelhafte
Geſchichte, worauf ſich ihre Religion auch zum Theil
die Nationalſittenlehre gruͤndet, und darin die wah-
ren oder falſchen Nachrichten von ihrem Urſprung
und den aͤlteſten Begebenheiten der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft eingehuͤllt liegen. Aber gemeiniglich ver-
ſteht man unter dieſer Benennung das Fabelſy-
ſtem der Griechen, oder der Roͤmer. Da die alten
Dichter einen ſehr vielfaͤltigen Gebrauch von ihrer
Mythologie gemacht haben, ſo iſt ſie auch von den
Neuern, ſeitdem ſie in den verſchiedenen Dichtungs-
arten ſich die Griechen und Roͤmer zu Muſtern ge-
waͤhlt haben, in die Werke der Poeſie aufgenom-
men worden. Einige neuere Dichter ſcheinen zu
glauben, daß man noch gegenwaͤrtig einen eben ſo
uneingeſchraͤnkten Gebrauch davon machen koͤnne,
als ehedem in der griechiſchen und lateiniſchen Poeſie;
andre ſcheinen ſie faſt gaͤnzlich zu verwerfen. Die
Frage von dem Gebrauch und Mißbrauch der My-
thologie hat der Verfaſſer der bekannten Fragmente
in der dritten Sammlung mit guter Urtheilskraft
und ausfuͤhrlich unterſucht, auch dadurch ihren Ge-
brauch und Mißbrauch wol beſtimmt, ſo daß wenig
Neues hieruͤber zu ſagen iſt. Wir begnuͤgen uns
demnach hier einige beyfaͤllige Gedanken uͤber dieſe
Sache vorzutragen.
1. Mythologiſche Weſen, ſie ſeyen Perſonen,
oder Sachen, als Dinge betrachtet, die einen be-
ſtimmten Charakter haben, koͤnnen als einzele alle-
goriſche, oder metaphoriſche Bilder ſo gut gebraucht
wer-
(†) Der erſte Theil iſt vor etwa 2 Jahren unter dem Titel:
d. Kunſt des reinen Sazes in der Muſik herausgekommen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 793[775]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/210>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.