Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Mus Töne in Noten zu schreiben, wodurch nicht nur jederTon nach seiner Höhe und Tiefe, sondern auch nach seiner Dauer und andern Abwechslungen auf eine sehr bequäme Weise, kann bezeichnet werden, wel- ches den Vortrag eines Tonstüks erstaunlich erleich- tert, und eben darum auch die Musik selbst in ihren wesentlichen Theilen befördert hat. Jm XIV Jahr- hundert soll die Art ein Tonstük durch Noten zu bezeichnen, durch einen französischen Doktor der freyen Künste, Jehan de Meurs oder de Muris noch mehr ver- vollkommnet worden seyn. Wenigstens schreibet man ihm die Erfindung der verschiedenen Formen der Noten, wodurch die Dauer der Töne, angezeiget wird, zu; woran aber Rousseau, wie es scheinet nicht ohne guten Grund, zweifelt. Es scheinet aber, daß die Erfindung der Noten, und dessen was sonst zum Schreiben der Tonstüke gehöret, erst in dem nächst verflossenen Jahrhundert ihre Vollkommenheit erreicht habe. Von andern allmähligen Verbesserungen der Kunst, Es scheinet, daß man bis ins XVI Jahrhundert Mus ohngefehr gleich gemacht worden. Ehe diese halbeTöne eingeführet worden, konnte man nicht anders, als nach den sogenannten Kirchentönen (*) modu- liren. Spiehlte man in der jonischen Tonart, oder nach iziger Art zu sprechen aus C, so war es noth- wendig C dur, weil das C keine weiche Tonleiter hatte, so wenig als aus A, oder der äolischen Ton- art, nach einer harten Tonleiter konnte gespiehlt werden. Doch ist bis izt die eigentliche Epoche der Einführung der heutigen vier und zwanzig Tonarten, so neu sie auch ist, nicht bestimmt. Vermuthlich sind nicht alle neuere halbe Töne auf einmal, son- dern nur allmählig in den Orgeln angebracht wor- den. Dadurch sind die chromatischen und enhar- monischen Gänge in die Musik eingeführt, und da- her ist auch die Mannigfaltigkeit der Modulationen vermehrt worden. Jn gedachtem XVI Jahthun- dert, haben Zerlino und Salinas das meiste zum Wachsthum der Musik beygetragen. Es scheinet auch daß der vielstimmige Saz, und die begleitende Harmonie damals in der Musik eingeführt worden. Jn dem leztverwiechenen Jahrhundert hat die wo (*) S.
Tonarten der Alten. [Spaltenumbruch] Muſ Toͤne in Noten zu ſchreiben, wodurch nicht nur jederTon nach ſeiner Hoͤhe und Tiefe, ſondern auch nach ſeiner Dauer und andern Abwechslungen auf eine ſehr bequaͤme Weiſe, kann bezeichnet werden, wel- ches den Vortrag eines Tonſtuͤks erſtaunlich erleich- tert, und eben darum auch die Muſik ſelbſt in ihren weſentlichen Theilen befoͤrdert hat. Jm XIV Jahr- hundert ſoll die Art ein Tonſtuͤk durch Noten zu bezeichnen, durch einen franzoͤſiſchen Doktor der freyen Kuͤnſte, Jehan de Meurs oder de Muris noch mehr ver- vollkommnet worden ſeyn. Wenigſtens ſchreibet man ihm die Erfindung der verſchiedenen Formen der Noten, wodurch die Dauer der Toͤne, angezeiget wird, zu; woran aber Rouſſeau, wie es ſcheinet nicht ohne guten Grund, zweifelt. Es ſcheinet aber, daß die Erfindung der Noten, und deſſen was ſonſt zum Schreiben der Tonſtuͤke gehoͤret, erſt in dem naͤchſt verfloſſenen Jahrhundert ihre Vollkommenheit erreicht habe. Von andern allmaͤhligen Verbeſſerungen der Kunſt, Es ſcheinet, daß man bis ins XVI Jahrhundert Muſ ohngefehr gleich gemacht worden. Ehe dieſe halbeToͤne eingefuͤhret worden, konnte man nicht anders, als nach den ſogenannten Kirchentoͤnen (*) modu- liren. Spiehlte man in der joniſchen Tonart, oder nach iziger Art zu ſprechen aus C, ſo war es noth- wendig C dur, weil das C keine weiche Tonleiter hatte, ſo wenig als aus A, oder der aͤoliſchen Ton- art, nach einer harten Tonleiter konnte geſpiehlt werden. Doch iſt bis izt die eigentliche Epoche der Einfuͤhrung der heutigen vier und zwanzig Tonarten, ſo neu ſie auch iſt, nicht beſtimmt. Vermuthlich ſind nicht alle neuere halbe Toͤne auf einmal, ſon- dern nur allmaͤhlig in den Orgeln angebracht wor- den. Dadurch ſind die chromatiſchen und enhar- moniſchen Gaͤnge in die Muſik eingefuͤhrt, und da- her iſt auch die Mannigfaltigkeit der Modulationen vermehrt worden. Jn gedachtem XVI Jahthun- dert, haben Zerlino und Salinas das meiſte zum Wachsthum der Muſik beygetragen. Es ſcheinet auch daß der vielſtimmige Saz, und die begleitende Harmonie damals in der Muſik eingefuͤhrt worden. Jn dem leztverwiechenen Jahrhundert hat die wo (*) S.
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Auf der andern Seite kann man<lb/> aber auch nicht in Abrede ſeyn, daß von den Ver-<lb/> ziehrungen und den mehrern Freyheiten in Behand-<lb/> lung der Harmonie nach und nach ein ſo großer<lb/> Mißbrauch iſt gemacht worden, daß die Muſik ge-<lb/> genwaͤrtig in Gefahr ſteht, gaͤnzlich auszuarten.<lb/> Jn dem vorigen Jahrhundert und in den erſten<lb/> Jahren des gegenwaͤrtigen iſt die Reinigkeit des<lb/> Sazes in Abſicht auf die Harmonie und die Regel-<lb/> maͤßigkeit der melodiſchen Fortſchreitungen auf das<lb/> Hoͤchſte getrieben worden, und es kann nicht ge-<lb/> laͤugnet werden, daß nicht beydes zu dem ernſthaf-<lb/> ten Kirchengeſang hoͤchſt nothwendig ſey. Beyde<lb/> werden gegenwaͤrtig von vielen gering geſchaͤzt, oder<lb/> gar fuͤr unnuͤze Pedanterey gehalten, wodurch be-<lb/> ſonders die Kirchenmuſik und alle andern Gattungen,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">wo</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [792[774]/0209]
Muſ
Muſ
Toͤne in Noten zu ſchreiben, wodurch nicht nur jeder
Ton nach ſeiner Hoͤhe und Tiefe, ſondern auch nach
ſeiner Dauer und andern Abwechslungen auf eine
ſehr bequaͤme Weiſe, kann bezeichnet werden, wel-
ches den Vortrag eines Tonſtuͤks erſtaunlich erleich-
tert, und eben darum auch die Muſik ſelbſt in ihren
weſentlichen Theilen befoͤrdert hat. Jm XIV Jahr-
hundert ſoll die Art ein Tonſtuͤk durch Noten zu
bezeichnen, durch einen franzoͤſiſchen Doktor der freyen
Kuͤnſte, Jehan de Meurs oder de Muris noch mehr ver-
vollkommnet worden ſeyn. Wenigſtens ſchreibet
man ihm die Erfindung der verſchiedenen Formen der
Noten, wodurch die Dauer der Toͤne, angezeiget
wird, zu; woran aber Rouſſeau, wie es ſcheinet nicht
ohne guten Grund, zweifelt. Es ſcheinet aber,
daß die Erfindung der Noten, und deſſen was ſonſt
zum Schreiben der Tonſtuͤke gehoͤret, erſt in dem
naͤchſt verfloſſenen Jahrhundert ihre Vollkommenheit
erreicht habe.
Von andern allmaͤhligen Verbeſſerungen der Kunſt,
in Abſicht auf das Weſentliche derſelben, wird man
nicht eher richtig urtheilen koͤnnen, bis ein Mann,
der dazu hinlaͤngliche Kenntnis hat, eine Samm-
lung auserleſener Geſaͤnge aus verſchiedenen Zeiten,
nach der izigen Art in Noten geſchrieben, heraus-
geben wird, damit ſie mit Fertigkeit koͤnnen ge-
fungen, und folglich richtig beurtheiler werden. Die
oben angefuͤhrte Nachricht des P. Gerberts laͤßt uns
hieruͤber nicht ganz ohne Hofnung. Am ſicherſten
aber waͤre dieſe Arbeit von dem beruͤhmten Pater
Martini in Bologna zu erwarten. Was wir von
der Beſchaffenheit der Muſik in den mittlern Zeiten
noch wiſſen, betrift faſt allein den Kirchengeſang.
Von Tanz- und andern Melodien aͤlterer Zeiten,
weiß man ſehr wenig, und doch wuͤrde man uns
auch ſolche vorlegen muͤſſen, wenn wir von der Be-
ſchaffenheit der aͤltern Muſik uͤberhaupt ein Urtheil
zu faͤllen haͤtten.
Es ſcheinet, daß man bis ins XVI Jahrhundert
die diatoniſchen Tonleiter der Alten, in Abſicht auf
das Harmoniſche darin, ohne andere Veraͤnderung,
als den weitern Umfang in der Hoͤhe und Tiefe, bey-
behalten habe: und in Abſicht auf die Modulation
iſt man lediglich bey den Tonarten der Alten bis auf
dieſelbe Zeit ſtehen geblieben. Erſt in erwaͤhntem
Jahrhundert ſcheinet der Gebrauch der neuern hal-
ben Toͤne allmaͤhlig eingefuͤhrt worden zu ſeyn, wo-
durch jeder Ton in ſeinen Jntervallen, den andern
ohngefehr gleich gemacht worden. Ehe dieſe halbe
Toͤne eingefuͤhret worden, konnte man nicht anders,
als nach den ſogenannten Kirchentoͤnen (*) modu-
liren. Spiehlte man in der joniſchen Tonart, oder
nach iziger Art zu ſprechen aus C, ſo war es noth-
wendig C dur, weil das C keine weiche Tonleiter
hatte, ſo wenig als aus A, oder der aͤoliſchen Ton-
art, nach einer harten Tonleiter konnte geſpiehlt
werden. Doch iſt bis izt die eigentliche Epoche der
Einfuͤhrung der heutigen vier und zwanzig Tonarten,
ſo neu ſie auch iſt, nicht beſtimmt. Vermuthlich
ſind nicht alle neuere halbe Toͤne auf einmal, ſon-
dern nur allmaͤhlig in den Orgeln angebracht wor-
den. Dadurch ſind die chromatiſchen und enhar-
moniſchen Gaͤnge in die Muſik eingefuͤhrt, und da-
her iſt auch die Mannigfaltigkeit der Modulationen
vermehrt worden. Jn gedachtem XVI Jahthun-
dert, haben Zerlino und Salinas das meiſte zum
Wachsthum der Muſik beygetragen. Es ſcheinet
auch daß der vielſtimmige Saz, und die begleitende
Harmonie damals in der Muſik eingefuͤhrt worden.
Jn dem leztverwiechenen Jahrhundert hat die
Muſik durch Einfuͤhrung der Opern und der Con-
certe, einen neuen Schwung bekommen. Man hat
angefangen die Kuͤnſte der Harmonie weiter zu trei-
ben, und mehr melismatiſche Verziehrungen in den
Geſang zu bringen. Dadurch iſt allmaͤhlig die ſo-
genannte gakante, oder freyere und leichtere Schreib-
art und weit mehr Mannigfaltigkeit der Takte und
der Bewegungen in der Muſik aufgekommen. Es
iſt nicht zu leugnen, daß nicht dadurch die melo-
diſche Sprache der Leidenſchaften ungemein viel ge-
wonnen habe. Auf der andern Seite kann man
aber auch nicht in Abrede ſeyn, daß von den Ver-
ziehrungen und den mehrern Freyheiten in Behand-
lung der Harmonie nach und nach ein ſo großer
Mißbrauch iſt gemacht worden, daß die Muſik ge-
genwaͤrtig in Gefahr ſteht, gaͤnzlich auszuarten.
Jn dem vorigen Jahrhundert und in den erſten
Jahren des gegenwaͤrtigen iſt die Reinigkeit des
Sazes in Abſicht auf die Harmonie und die Regel-
maͤßigkeit der melodiſchen Fortſchreitungen auf das
Hoͤchſte getrieben worden, und es kann nicht ge-
laͤugnet werden, daß nicht beydes zu dem ernſthaf-
ten Kirchengeſang hoͤchſt nothwendig ſey. Beyde
werden gegenwaͤrtig von vielen gering geſchaͤzt, oder
gar fuͤr unnuͤze Pedanterey gehalten, wodurch be-
ſonders die Kirchenmuſik und alle andern Gattungen,
wo
(*) S.
Tonarten
der Alten.
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