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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ans Ant

Aber die Baumeister sind nicht die einzigen, die
in das Anstößige fallen. Man trifft es auch in
andern Künsten an. Die Mahler drängen oft eine
Menge Personen in einen Raum zusammen, wo
sie schlechterdings nicht Platz haben können; sie
bringen Licht dahin, wo es unmöglich hinfallen
kann; sie zeichnen Figuren in unmöglichen Stellun-
gen. Dahin gehören auch alle Fehler gegen die
Perspektive, weil sie alle dem nothwendigen entge-
gen sind.

Jn den Schauspielen trifft man das Anstößige
oft an. Plautus versetzt seine Zuhörer bisweilen
aus Athen nach Rom, oder läßt sie vielmehr zu
gleicher Zeit an beyden Orten seyn; auch ist oft
eine handelnde Person zugleich der, den er vorstellt,
und auch das, was er würklich ist, ein bloßer Co-
mödiant. So ist es anstößig, wenn Sachen, die
schlechterdings Geheimnisse seyn sollen, laut aus-
gerufen werden; wenn in Selbstgesprächen die
Personen das Wort an die Zuschauer richten, wo-
durch sie zugleich allein und doch auch in Gesell-
schaft sind.

Das Anstößige gehört unter die wichtigsten Feh-
ler, besonders deswegen, weil es die Täuschung,
die so oft der vornehmste Grund der guten Wür-
kung eines Werks ist, gänzlich zernichtet. Es be-
leidiget die Vorstellungskraft so sehr, daß man ge-
zwungen wird, das Auge von dem beleidigenden
Gegenstand wegzuwenden. So wie bisweilen ein
einziger kleiner Spaß eine sehr ernsthafte Scene
lächerlich machen kann; so kann auch das Anstößige,
in einem einzigen Theile, die Würkung eines sonst
guten Werks völlig auf heben.

Geschikte Künstler fallen blos aus Unachtsamkeit
in diesen Fehler, den sie also durch eine strenge
Aufmerksamkeit auf die Natur jedes einzelen Thei-
les ihrer Werke leicht vermeiden. Wer nur auf
die Würkung des Ganzen sieht, und sich die Mühe
nicht giebt, jeden einzeln Theil in besondere Auf-
merksamkeit zu nehmen, kann leicht darein fallen.

Antik.
(Zeichnende Künste.)

So werden die Werke der zeichnenden Künste ge-
nennt, die ganz oder in Trümmern von den Völ-
kern auf uns gekommen sind, bey welchen die Künste
ehedem geblühet haben. Es sind geschnittene Stei-
ne, Münzen, Statuen, geschnitzte und geformte
[Spaltenumbruch]

Ant
Werke, Gemählde, Gebäude und Trümmer dersel-
ben, die in diese Classe gehören. Werke aus allen
Zeiten der Kunst, von ihrem Anfang, höchsten Flor
und ihrem Verfalle. Die, welche aus dem schön-
sten Zeitpunkt der Kunst in Griechenland übrig ge-
blieben, und einige andere, die später nach jenen ge-
macht worden, werden für vollkommene oder doch
der Vollkommenheit sich nähernde Muster gehalten.
Wenn Künstler, oder Lehrer der Kunst, mit Bewun-
drung von den Antiken sprechen, so ist es nur von
diesen wenigen Stüken zu verstehen. Denn unter
den Antiken finden sich nur allzu viel, die von der
abnehmenden Kunst in den späten Zeiten des Alter-
thums zeugen.

Man bewundert an den Antiken folgende wesent-
liche Stüke der Kunst. Die Schönheit der For-
men überhaupt; die höchste Schönheit der mensch-
lichen Gestalt, und besonders der Köpfe; die Größe
und Hoheit des Ansehens und der Charaktere; den
richtigsten und zugleich edeln und großen Ausdruk
der Leidenschaften, der aber allezeit der Schönheit
untergeordnet ist. Kein Ausdruk ist bey den Al-
ten so stark, daß er der Schönheit schadet. Sie
sind überhaupt nicht der Natur, sondern, dem Jdeal
gefolget. Alles, was einen besondern Menschen
anzeiget, wurde von ihnen verworfen. Jhre
Hauptabsicht gieng dahin, daß jedes Bild das,
was es seyn sollte, ganz sey; aber ohne Vermi-
schung mit etwas anderm. Jupiter ist ganz Ho-
heit; Herkules ganz Stärke. Was nicht noth-
wendig zum Charakter gehört, darauf ward von
ihnen auch nicht gesehen. Wer in diesen vier Stüken
der Kunst groß werden will, muß unermüdet die
besten Antiken studiren, und durch fleißiges Be-
trachten und Zeichnen derselben seinen Geschmak
zu der Richtigkeit und Größe der griechischen Künst-
ler erheben. Die Mahler und Bildhauer der rö-
mischen Schule, welche die beste Gelegenheit ge-
habt haben, diese großen Modelle zu studiren, ha-
ben deswegen alle andre Schulen der neuern Zei-
ten in diesen Stüken übertroffen.

Es ist jedem Künstler zu rathen, Winkelmanns
fürtreffliche Schriften zu studiren, darin er den
vorzüglichen Werth der Antiken in das beste Licht
gesetzt hat; und alsdenn diese Werke, so viel er de-
ren habhaft werden kann, selbst so lange zu betrach-
ten, bis er ihren vorzüglichen Werth fühlt. Es
gilt auch hievon, was Horaz dem Dichter empfiehlt:

-- Vos
[Spaltenumbruch]
Anſ Ant

Aber die Baumeiſter ſind nicht die einzigen, die
in das Anſtoͤßige fallen. Man trifft es auch in
andern Kuͤnſten an. Die Mahler draͤngen oft eine
Menge Perſonen in einen Raum zuſammen, wo
ſie ſchlechterdings nicht Platz haben koͤnnen; ſie
bringen Licht dahin, wo es unmoͤglich hinfallen
kann; ſie zeichnen Figuren in unmoͤglichen Stellun-
gen. Dahin gehoͤren auch alle Fehler gegen die
Perſpektive, weil ſie alle dem nothwendigen entge-
gen ſind.

Jn den Schauſpielen trifft man das Anſtoͤßige
oft an. Plautus verſetzt ſeine Zuhoͤrer bisweilen
aus Athen nach Rom, oder laͤßt ſie vielmehr zu
gleicher Zeit an beyden Orten ſeyn; auch iſt oft
eine handelnde Perſon zugleich der, den er vorſtellt,
und auch das, was er wuͤrklich iſt, ein bloßer Co-
moͤdiant. So iſt es anſtoͤßig, wenn Sachen, die
ſchlechterdings Geheimniſſe ſeyn ſollen, laut aus-
gerufen werden; wenn in Selbſtgeſpraͤchen die
Perſonen das Wort an die Zuſchauer richten, wo-
durch ſie zugleich allein und doch auch in Geſell-
ſchaft ſind.

Das Anſtoͤßige gehoͤrt unter die wichtigſten Feh-
ler, beſonders deswegen, weil es die Taͤuſchung,
die ſo oft der vornehmſte Grund der guten Wuͤr-
kung eines Werks iſt, gaͤnzlich zernichtet. Es be-
leidiget die Vorſtellungskraft ſo ſehr, daß man ge-
zwungen wird, das Auge von dem beleidigenden
Gegenſtand wegzuwenden. So wie bisweilen ein
einziger kleiner Spaß eine ſehr ernſthafte Scene
laͤcherlich machen kann; ſo kann auch das Anſtoͤßige,
in einem einzigen Theile, die Wuͤrkung eines ſonſt
guten Werks voͤllig auf heben.

Geſchikte Kuͤnſtler fallen blos aus Unachtſamkeit
in dieſen Fehler, den ſie alſo durch eine ſtrenge
Aufmerkſamkeit auf die Natur jedes einzelen Thei-
les ihrer Werke leicht vermeiden. Wer nur auf
die Wuͤrkung des Ganzen ſieht, und ſich die Muͤhe
nicht giebt, jeden einzeln Theil in beſondere Auf-
merkſamkeit zu nehmen, kann leicht darein fallen.

Antik.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

So werden die Werke der zeichnenden Kuͤnſte ge-
nennt, die ganz oder in Truͤmmern von den Voͤl-
kern auf uns gekommen ſind, bey welchen die Kuͤnſte
ehedem gebluͤhet haben. Es ſind geſchnittene Stei-
ne, Muͤnzen, Statuen, geſchnitzte und geformte
[Spaltenumbruch]

Ant
Werke, Gemaͤhlde, Gebaͤude und Truͤmmer derſel-
ben, die in dieſe Claſſe gehoͤren. Werke aus allen
Zeiten der Kunſt, von ihrem Anfang, hoͤchſten Flor
und ihrem Verfalle. Die, welche aus dem ſchoͤn-
ſten Zeitpunkt der Kunſt in Griechenland uͤbrig ge-
blieben, und einige andere, die ſpaͤter nach jenen ge-
macht worden, werden fuͤr vollkommene oder doch
der Vollkommenheit ſich naͤhernde Muſter gehalten.
Wenn Kuͤnſtler, oder Lehrer der Kunſt, mit Bewun-
drung von den Antiken ſprechen, ſo iſt es nur von
dieſen wenigen Stuͤken zu verſtehen. Denn unter
den Antiken finden ſich nur allzu viel, die von der
abnehmenden Kunſt in den ſpaͤten Zeiten des Alter-
thums zeugen.

Man bewundert an den Antiken folgende weſent-
liche Stuͤke der Kunſt. Die Schoͤnheit der For-
men uͤberhaupt; die hoͤchſte Schoͤnheit der menſch-
lichen Geſtalt, und beſonders der Koͤpfe; die Groͤße
und Hoheit des Anſehens und der Charaktere; den
richtigſten und zugleich edeln und großen Ausdruk
der Leidenſchaften, der aber allezeit der Schoͤnheit
untergeordnet iſt. Kein Ausdruk iſt bey den Al-
ten ſo ſtark, daß er der Schoͤnheit ſchadet. Sie
ſind uͤberhaupt nicht der Natur, ſondern, dem Jdeal
gefolget. Alles, was einen beſondern Menſchen
anzeiget, wurde von ihnen verworfen. Jhre
Hauptabſicht gieng dahin, daß jedes Bild das,
was es ſeyn ſollte, ganz ſey; aber ohne Vermi-
ſchung mit etwas anderm. Jupiter iſt ganz Ho-
heit; Herkules ganz Staͤrke. Was nicht noth-
wendig zum Charakter gehoͤrt, darauf ward von
ihnen auch nicht geſehen. Wer in dieſen vier Stuͤken
der Kunſt groß werden will, muß unermuͤdet die
beſten Antiken ſtudiren, und durch fleißiges Be-
trachten und Zeichnen derſelben ſeinen Geſchmak
zu der Richtigkeit und Groͤße der griechiſchen Kuͤnſt-
ler erheben. Die Mahler und Bildhauer der roͤ-
miſchen Schule, welche die beſte Gelegenheit ge-
habt haben, dieſe großen Modelle zu ſtudiren, ha-
ben deswegen alle andre Schulen der neuern Zei-
ten in dieſen Stuͤken uͤbertroffen.

Es iſt jedem Kuͤnſtler zu rathen, Winkelmanns
fuͤrtreffliche Schriften zu ſtudiren, darin er den
vorzuͤglichen Werth der Antiken in das beſte Licht
geſetzt hat; und alsdenn dieſe Werke, ſo viel er de-
ren habhaft werden kann, ſelbſt ſo lange zu betrach-
ten, bis er ihren vorzuͤglichen Werth fuͤhlt. Es
gilt auch hievon, was Horaz dem Dichter empfiehlt:

Vos
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[74/0086] Anſ Ant Ant Aber die Baumeiſter ſind nicht die einzigen, die in das Anſtoͤßige fallen. Man trifft es auch in andern Kuͤnſten an. Die Mahler draͤngen oft eine Menge Perſonen in einen Raum zuſammen, wo ſie ſchlechterdings nicht Platz haben koͤnnen; ſie bringen Licht dahin, wo es unmoͤglich hinfallen kann; ſie zeichnen Figuren in unmoͤglichen Stellun- gen. Dahin gehoͤren auch alle Fehler gegen die Perſpektive, weil ſie alle dem nothwendigen entge- gen ſind. Jn den Schauſpielen trifft man das Anſtoͤßige oft an. Plautus verſetzt ſeine Zuhoͤrer bisweilen aus Athen nach Rom, oder laͤßt ſie vielmehr zu gleicher Zeit an beyden Orten ſeyn; auch iſt oft eine handelnde Perſon zugleich der, den er vorſtellt, und auch das, was er wuͤrklich iſt, ein bloßer Co- moͤdiant. So iſt es anſtoͤßig, wenn Sachen, die ſchlechterdings Geheimniſſe ſeyn ſollen, laut aus- gerufen werden; wenn in Selbſtgeſpraͤchen die Perſonen das Wort an die Zuſchauer richten, wo- durch ſie zugleich allein und doch auch in Geſell- ſchaft ſind. Das Anſtoͤßige gehoͤrt unter die wichtigſten Feh- ler, beſonders deswegen, weil es die Taͤuſchung, die ſo oft der vornehmſte Grund der guten Wuͤr- kung eines Werks iſt, gaͤnzlich zernichtet. Es be- leidiget die Vorſtellungskraft ſo ſehr, daß man ge- zwungen wird, das Auge von dem beleidigenden Gegenſtand wegzuwenden. So wie bisweilen ein einziger kleiner Spaß eine ſehr ernſthafte Scene laͤcherlich machen kann; ſo kann auch das Anſtoͤßige, in einem einzigen Theile, die Wuͤrkung eines ſonſt guten Werks voͤllig auf heben. Geſchikte Kuͤnſtler fallen blos aus Unachtſamkeit in dieſen Fehler, den ſie alſo durch eine ſtrenge Aufmerkſamkeit auf die Natur jedes einzelen Thei- les ihrer Werke leicht vermeiden. Wer nur auf die Wuͤrkung des Ganzen ſieht, und ſich die Muͤhe nicht giebt, jeden einzeln Theil in beſondere Auf- merkſamkeit zu nehmen, kann leicht darein fallen. Antik. (Zeichnende Kuͤnſte.) So werden die Werke der zeichnenden Kuͤnſte ge- nennt, die ganz oder in Truͤmmern von den Voͤl- kern auf uns gekommen ſind, bey welchen die Kuͤnſte ehedem gebluͤhet haben. Es ſind geſchnittene Stei- ne, Muͤnzen, Statuen, geſchnitzte und geformte Werke, Gemaͤhlde, Gebaͤude und Truͤmmer derſel- ben, die in dieſe Claſſe gehoͤren. Werke aus allen Zeiten der Kunſt, von ihrem Anfang, hoͤchſten Flor und ihrem Verfalle. Die, welche aus dem ſchoͤn- ſten Zeitpunkt der Kunſt in Griechenland uͤbrig ge- blieben, und einige andere, die ſpaͤter nach jenen ge- macht worden, werden fuͤr vollkommene oder doch der Vollkommenheit ſich naͤhernde Muſter gehalten. Wenn Kuͤnſtler, oder Lehrer der Kunſt, mit Bewun- drung von den Antiken ſprechen, ſo iſt es nur von dieſen wenigen Stuͤken zu verſtehen. Denn unter den Antiken finden ſich nur allzu viel, die von der abnehmenden Kunſt in den ſpaͤten Zeiten des Alter- thums zeugen. Man bewundert an den Antiken folgende weſent- liche Stuͤke der Kunſt. Die Schoͤnheit der For- men uͤberhaupt; die hoͤchſte Schoͤnheit der menſch- lichen Geſtalt, und beſonders der Koͤpfe; die Groͤße und Hoheit des Anſehens und der Charaktere; den richtigſten und zugleich edeln und großen Ausdruk der Leidenſchaften, der aber allezeit der Schoͤnheit untergeordnet iſt. Kein Ausdruk iſt bey den Al- ten ſo ſtark, daß er der Schoͤnheit ſchadet. Sie ſind uͤberhaupt nicht der Natur, ſondern, dem Jdeal gefolget. Alles, was einen beſondern Menſchen anzeiget, wurde von ihnen verworfen. Jhre Hauptabſicht gieng dahin, daß jedes Bild das, was es ſeyn ſollte, ganz ſey; aber ohne Vermi- ſchung mit etwas anderm. Jupiter iſt ganz Ho- heit; Herkules ganz Staͤrke. Was nicht noth- wendig zum Charakter gehoͤrt, darauf ward von ihnen auch nicht geſehen. Wer in dieſen vier Stuͤken der Kunſt groß werden will, muß unermuͤdet die beſten Antiken ſtudiren, und durch fleißiges Be- trachten und Zeichnen derſelben ſeinen Geſchmak zu der Richtigkeit und Groͤße der griechiſchen Kuͤnſt- ler erheben. Die Mahler und Bildhauer der roͤ- miſchen Schule, welche die beſte Gelegenheit ge- habt haben, dieſe großen Modelle zu ſtudiren, ha- ben deswegen alle andre Schulen der neuern Zei- ten in dieſen Stuͤken uͤbertroffen. Es iſt jedem Kuͤnſtler zu rathen, Winkelmanns fuͤrtreffliche Schriften zu ſtudiren, darin er den vorzuͤglichen Werth der Antiken in das beſte Licht geſetzt hat; und alsdenn dieſe Werke, ſo viel er de- ren habhaft werden kann, ſelbſt ſo lange zu betrach- ten, bis er ihren vorzuͤglichen Werth fuͤhlt. Es gilt auch hievon, was Horaz dem Dichter empfiehlt: — Vos

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/86>, abgerufen am 20.04.2024.