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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ans

Dieses geschieht, wenn durch das zufällige die
Würkung des wesentlichen verstärkt wird, welches
die bloße Vermeidung des unanständigen niemals
thut. Einen solchen Erfolg hat es, wenn es dem
Künstler gelingt, durch das zufällige eine unerwar-
tete Empfindung zu erweken, die mit der, worauf
das wesentliche geht, übereinstimmt; denn dadurch
bekommt unsre Aufmerksamkeit einen neuen Stoß,
welcher uns das ganze lebhafter macht. Eine solche
Würkung thut ein zufälliger Umstand in einem Ge-
mählde von Raphael, welches die Anbetung des
Heilandes von den Hirten vorstellt. Einer dieser
geringen, dem Ansehen nach der einfältigste und
schlechteste, welcher sich kaum getraut nahe heran zu
treten, bezeuget seine Ehrfurcht dadurch, daß er
seine Mütze abnimmt. Dieses ist vielleicht gegen
das Uebliche; aber für diese Personen von der größ-
ten Anständigkeit, und thut die beste Würkung auf
das Ganze.

So wissen Künstler von glüklichem Genie und
gründlicher Beurtheilung dem wesentlichen zufällige
Dinge an die Seite zu setzen, durch welche sie den
Ausdruk verstärken, indem sie das höchst Anständige
dabey beobachten.

Einige Neuere haben an den Alten manches un-
anständig gefunden, was keinem von den Alten an-
stößig gewesen. Das heftige Betragen einiger Hel-
den der Jlias gegen andre, scheinet vielen unan-
ständig, weil sie es nach unsern Sitten, nicht nach
den Sitten jener Helden beurtheilen. Eben dieses
Urtheil muß man von der höchst unanständig
scheinenden Vermahnung des Restors fällen, die
wir in dem Artikel über die Alten angeführt haben.
Es streitet keinesweges gegen die Art der Sitten,
welche durch die ganze Jlias zum Grund aller Vor-
stellung gelegt worden. Das Betragen des Her-
kules in dem Trauerspiel des Euripides Alce-
stis,
da er in dem Hause des Adrastus, zu der Zeit
da dieser in der höchsten Trauer war, munter zecht,
ist nicht ganz anständig, wie wol doch verschiedenes
zu dessen Vertheidigung kann gesagt werden.

Nur Künstler von großem Verstand erreichen
das Anständige überall; denn das bloße Genie ist
dazu nicht hinreichend. Homer ist der größte Meister
darin. Vermuthlich ist es deßwegen, daß Horaz ihn
denjenigen nennt, qui nil molitur inepte. Denn
in Wahrheit; man findet bey der unendlichen
Menge der Gegenstände, die er beschreibt, nicht nur
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Ans
nichts unanständiges; sondern alles, bis auf die
kleinsten Rebenumstände, ist immer so, wie es
seyn mußte. Dieses gehört unstreitig mit zum
höchsten der Kunst. Und da eine starke Beurthei-
lungskraft vielleicht seltener ist, als ein starkes
Genie; so ist die völlige Beobachtung des Anstän-
digen in Werken der Kunst seltener, als irgend eine
andre gute Eigenschaft derselben.

Anstößig.
(Schöne Künste.)

Man braucht dieses Wort gemeiniglich um das-
jenige anzudeuten, was den sittlichen Grundbegrif-
fen entgegen ist; es schiket sich aber eben so gut,
einen in der Theorie der schönen Künste wichtigen
Begriff auszudrüken, für den man noch kein Wort
angenommen hat. Es zeigen sich nämlich in den
Werken der Kunst bisweilen solche Fehler, die den
nothwendigsten Grundbegriffen entgegen sind, die
man deßwegen mit dem Namen des Anstößigen be-
legen kann; solche Fehler also, über welche niemal
ein Zweifel entstehen kann, weil sie geradezu dem
entgegen sind, was jederman erwartet.

So ist es in einem Gebäude anstößig, wenn eine
Säule, die nothwendig senkrecht stehen muß, über-
hängt; oder wenn ein Boden, der nothwendig
wagenrecht liegen sollte, sich senkt. So auch in
andern Sachen ist das Anstößige allezeit dem Wesen
der Sachen gerade entgegen. Es geschieht öfterer,
als man es vermuthen sollte, daß Künstler das
Wesen der Sachen aus dem Gesichte verliehren, und
alsdenn mit Zuversichtlichkeit ganz anstößige Sa-
chen zulassen. Am öftersten trifft man dieses in
der Baukunst an, wo auch gute Baumeister die
wahre Natur, oder die ursprüngliche Beschaffenheit
einiger Sachen, aus der Acht lassen. Daher kommt
es, daß man so oft das, was seiner Natur nach
ganz ist, gebrochen, was nothwendig gerade seyn
sollte, krumm, was stark seyn sollte, schwach macht.
Gebrochene Giebel, verkröpfte Gebälke, Säulen
oder Pfeiler, die nichts tragen, oder von nichts
getragen werden. Am meisten kommt das Anstößige
in den Verzierungen vor. Man verwandelt Stürze
über Camine, die nothwendig ein Gebälke vorstellen
müssen, in zwey gegen einander laufende Schnürkel,
die in der Mitte durch eine Muschel, oder auch wol
durch Eiszapfen mit einander verbunden sind, und
man läßt Lasten auf Laubwerk ruhen.

Aber
Erster Theil. K
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Anſ

Dieſes geſchieht, wenn durch das zufaͤllige die
Wuͤrkung des weſentlichen verſtaͤrkt wird, welches
die bloße Vermeidung des unanſtaͤndigen niemals
thut. Einen ſolchen Erfolg hat es, wenn es dem
Kuͤnſtler gelingt, durch das zufaͤllige eine unerwar-
tete Empfindung zu erweken, die mit der, worauf
das weſentliche geht, uͤbereinſtimmt; denn dadurch
bekommt unſre Aufmerkſamkeit einen neuen Stoß,
welcher uns das ganze lebhafter macht. Eine ſolche
Wuͤrkung thut ein zufaͤlliger Umſtand in einem Ge-
maͤhlde von Raphael, welches die Anbetung des
Heilandes von den Hirten vorſtellt. Einer dieſer
geringen, dem Anſehen nach der einfaͤltigſte und
ſchlechteſte, welcher ſich kaum getraut nahe heran zu
treten, bezeuget ſeine Ehrfurcht dadurch, daß er
ſeine Muͤtze abnimmt. Dieſes iſt vielleicht gegen
das Uebliche; aber fuͤr dieſe Perſonen von der groͤß-
ten Anſtaͤndigkeit, und thut die beſte Wuͤrkung auf
das Ganze.

So wiſſen Kuͤnſtler von gluͤklichem Genie und
gruͤndlicher Beurtheilung dem weſentlichen zufaͤllige
Dinge an die Seite zu ſetzen, durch welche ſie den
Ausdruk verſtaͤrken, indem ſie das hoͤchſt Anſtaͤndige
dabey beobachten.

Einige Neuere haben an den Alten manches un-
anſtaͤndig gefunden, was keinem von den Alten an-
ſtoͤßig geweſen. Das heftige Betragen einiger Hel-
den der Jlias gegen andre, ſcheinet vielen unan-
ſtaͤndig, weil ſie es nach unſern Sitten, nicht nach
den Sitten jener Helden beurtheilen. Eben dieſes
Urtheil muß man von der hoͤchſt unanſtaͤndig
ſcheinenden Vermahnung des Reſtors faͤllen, die
wir in dem Artikel uͤber die Alten angefuͤhrt haben.
Es ſtreitet keinesweges gegen die Art der Sitten,
welche durch die ganze Jlias zum Grund aller Vor-
ſtellung gelegt worden. Das Betragen des Her-
kules in dem Trauerſpiel des Euripides Alce-
ſtis,
da er in dem Hauſe des Adraſtus, zu der Zeit
da dieſer in der hoͤchſten Trauer war, munter zecht,
iſt nicht ganz anſtaͤndig, wie wol doch verſchiedenes
zu deſſen Vertheidigung kann geſagt werden.

Nur Kuͤnſtler von großem Verſtand erreichen
das Anſtaͤndige uͤberall; denn das bloße Genie iſt
dazu nicht hinreichend. Homer iſt der groͤßte Meiſter
darin. Vermuthlich iſt es deßwegen, daß Horaz ihn
denjenigen nennt, qui nil molitur inepte. Denn
in Wahrheit; man findet bey der unendlichen
Menge der Gegenſtaͤnde, die er beſchreibt, nicht nur
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Anſ
nichts unanſtaͤndiges; ſondern alles, bis auf die
kleinſten Rebenumſtaͤnde, iſt immer ſo, wie es
ſeyn mußte. Dieſes gehoͤrt unſtreitig mit zum
hoͤchſten der Kunſt. Und da eine ſtarke Beurthei-
lungskraft vielleicht ſeltener iſt, als ein ſtarkes
Genie; ſo iſt die voͤllige Beobachtung des Anſtaͤn-
digen in Werken der Kunſt ſeltener, als irgend eine
andre gute Eigenſchaft derſelben.

Anſtoͤßig.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Man braucht dieſes Wort gemeiniglich um das-
jenige anzudeuten, was den ſittlichen Grundbegrif-
fen entgegen iſt; es ſchiket ſich aber eben ſo gut,
einen in der Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte wichtigen
Begriff auszudruͤken, fuͤr den man noch kein Wort
angenommen hat. Es zeigen ſich naͤmlich in den
Werken der Kunſt bisweilen ſolche Fehler, die den
nothwendigſten Grundbegriffen entgegen ſind, die
man deßwegen mit dem Namen des Anſtoͤßigen be-
legen kann; ſolche Fehler alſo, uͤber welche niemal
ein Zweifel entſtehen kann, weil ſie geradezu dem
entgegen ſind, was jederman erwartet.

So iſt es in einem Gebaͤude anſtoͤßig, wenn eine
Saͤule, die nothwendig ſenkrecht ſtehen muß, uͤber-
haͤngt; oder wenn ein Boden, der nothwendig
wagenrecht liegen ſollte, ſich ſenkt. So auch in
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der Sachen gerade entgegen. Es geſchieht oͤfterer,
als man es vermuthen ſollte, daß Kuͤnſtler das
Weſen der Sachen aus dem Geſichte verliehren, und
alsdenn mit Zuverſichtlichkeit ganz anſtoͤßige Sa-
chen zulaſſen. Am oͤfterſten trifft man dieſes in
der Baukunſt an, wo auch gute Baumeiſter die
wahre Natur, oder die urſpruͤngliche Beſchaffenheit
einiger Sachen, aus der Acht laſſen. Daher kommt
es, daß man ſo oft das, was ſeiner Natur nach
ganz iſt, gebrochen, was nothwendig gerade ſeyn
ſollte, krumm, was ſtark ſeyn ſollte, ſchwach macht.
Gebrochene Giebel, verkroͤpfte Gebaͤlke, Saͤulen
oder Pfeiler, die nichts tragen, oder von nichts
getragen werden. Am meiſten kommt das Anſtoͤßige
in den Verzierungen vor. Man verwandelt Stuͤrze
uͤber Camine, die nothwendig ein Gebaͤlke vorſtellen
muͤſſen, in zwey gegen einander laufende Schnuͤrkel,
die in der Mitte durch eine Muſchel, oder auch wol
durch Eiszapfen mit einander verbunden ſind, und
man laͤßt Laſten auf Laubwerk ruhen.

Aber
Erſter Theil. K
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/85>, abgerufen am 24.11.2024.