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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Anl Anm
merken. Es ist sehr wesentlich, daß man bey der
ersten Anlage nicht eher ruhe, bis im ganzen die
gehörige Haltung und eine gute Harmonie der
Haupttheile erreicht ist.

Bey der Anlage muß der Mahler so viel mög-
lich das völlige Colorit schon in der Einbildungskraft
haben, damit er die Stellen, die mehr oder weniger
laßirt werden müssen, gehörig anlege. Historische
Gemählde werden am besten da angefangen, wo
die größte Maße des Lichts zusammen kommt; hin-
gegen scheinet es in Landschaften ein Vortheil zu
seyn, wenn die Luft und die Hintergründe zuerst
angelegt werden.

Anmuthigkeit.
(Schöne Künste.)

Die Eigenschaft eines Gegenstandes, wodurch er,
im ganzen betrachtet, das Gemüth mit einem sanften
und stillen Vergnügen rührt. So schreibt man
einem schönen Frühlingstag eine Anmuthigkeit zu.
Es giebt sehr schöne Gegenstände die nicht anmuthig
sind. Denn alles, was das Gemüth mit sehr leb-
haftem Vergnügen, oder mit Bewunderung und
Begierde erfüllt, hat diese Eigenschaft nicht. Sie
(*) S.
Betrach-
tung über
die Mahle-
rey. S. 29.
scheinet, wie der Herr von Hagedorn (*) bereits an-
gemerkt hat, nahe an das zu gränzen, was man
den Reiz oder die Grazie zu nennen pflegt. Sie
gewinnt das ganze Gemüth und erregt eine sehr
sanfte und durchaus angenehme Zuneigung gegen die
Sachen.

Die Anmuthigkeit scheinet aus solchen Schön-
heiten zu entstehen, die man nicht besonders unter-
scheidet; weil keine sich besonders ausnimmt: sie
verfließen alle zusammen in ein harmonisches Gan-
zes. Man nennt deswegen in der Mahlerey das
Colorit anmuthig, wo weder sehr starke Lichter noch
starke Schatten sind, sondern wo viel helle und an-
genehme Farben in einer sanften Harmonie stehen.
Unter den Mahlern hat Corregio die höchste Anmu-
thigkeit erreicht, und ist darin für den ersten Mei-
ster zu halten, so wie Raphael im Ausdruke. Fast
in eben diesem Verhältnisse stehen unter den Dich-
tern, Virgil, der Meister der Anmuthigkeit, und
Homer, des Ausdruks.

Anmuthig seyn ist also der besondre Charakter
einer gewissen Art des Schönen, wodurch es sich
von dem Schönen Erhabenen, oder Prächtigen,
oder Feurigen unterscheidet. Das Anmuthige ge-
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Anm Ano
fällt allen Arten von Gemüthern, aber ruhigen und
stillen am meisten; denn in ihnen findet sich die
meiste Ruhe.

Die Anmuthigkeit erreicht kein Künstler, als
der, dem die Natur eine sanfte, gefällige Seele ge-
geben hat. Nicht die größten, sondern die liebens-
würdigsten Künstler, sind dazu geschikt. Derglei-
chen waren in redenden Künsten Virgil und Addi-
son;
in zeichnenden, Corregio und Claude Lorrain;
in der Musik, Graun, dessen liebenswürdige Seele
sich auch selbst da zeiget, wo er zornig seyn will.

Anordnung.
(Schöne Künste.)

Anordnen heißt jedem Dinge seinen Ort anweisen,
und daher versteht man, was in einem Werk der
Kunst die Anordnung sey.

Daß ein ganzes Werk, nach Beschaffenheit der
Absicht, sich der Einbildungskraft auf die vortheilhaf-
teste Weise darstellet; daß es als ein unzertrennli-
ches Ganzes erscheinet, in dem weder Mangel noch
Ueberfluß ist; daß jeder Theil durch den Ort, wo
er steht, die beste Würkung thut; daß man das
ganze mit Vergnügen übersieht, und in der Vor-
stellung desselben jeden Haupttheil wol bemerkt,
oder bey Betrachtung jedes einzeln Theils auf eine
natürliche Weise zu der Vorstellung des Ganzen ge-
führt wird; dieses sind Würkungen der guten An-
ordnung. Ohne sie kann kein Werk, im Ganzen
betrachtet, vollkommen seyn, was für einzele
Schönheit es immer haben mag.

Einzele Schönheiten bringen zwar bisweilen
Werken der schlechtesten Anordnung den Ruhm
fürtrefflicher Werke zuwege. Jn diesem Falle sind
verschiedene Trauerspiele des Shakespear; Gemähl-
de des unsterblichen Raphaels, und viele Werke an-
drer Künstler. Man lobt zu unbestimmt, und
legt die Fürtrefflichkeit der einzeln Theile dem
Ganzen bey. Dieses aber soll keinen Künstler ab-
halten, den äußersten Fleis auf eine gute Anord-
nung zu wenden. Einzele Schönheiten, die wir
itzt in übel geordneten Werken bewundern, würden
uns weit mehr reizen, wenn das Ganze vollkom-
mener wäre.

Man lasse sich durch die Nachsicht, die man für
schlechte Anordnungen bisweilen zeiget, nicht ver-
führen. Dieser Theil der Kunst ist doch höchst

wichtig.
Erster Theil. H

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Anl Anm
merken. Es iſt ſehr weſentlich, daß man bey der
erſten Anlage nicht eher ruhe, bis im ganzen die
gehoͤrige Haltung und eine gute Harmonie der
Haupttheile erreicht iſt.

Bey der Anlage muß der Mahler ſo viel moͤg-
lich das voͤllige Colorit ſchon in der Einbildungskraft
haben, damit er die Stellen, die mehr oder weniger
laßirt werden muͤſſen, gehoͤrig anlege. Hiſtoriſche
Gemaͤhlde werden am beſten da angefangen, wo
die groͤßte Maße des Lichts zuſammen kommt; hin-
gegen ſcheinet es in Landſchaften ein Vortheil zu
ſeyn, wenn die Luft und die Hintergruͤnde zuerſt
angelegt werden.

Anmuthigkeit.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die Eigenſchaft eines Gegenſtandes, wodurch er,
im ganzen betrachtet, das Gemuͤth mit einem ſanften
und ſtillen Vergnuͤgen ruͤhrt. So ſchreibt man
einem ſchoͤnen Fruͤhlingstag eine Anmuthigkeit zu.
Es giebt ſehr ſchoͤne Gegenſtaͤnde die nicht anmuthig
ſind. Denn alles, was das Gemuͤth mit ſehr leb-
haftem Vergnuͤgen, oder mit Bewunderung und
Begierde erfuͤllt, hat dieſe Eigenſchaft nicht. Sie
(*) S.
Betrach-
tung uͤber
die Mahle-
rey. S. 29.
ſcheinet, wie der Herr von Hagedorn (*) bereits an-
gemerkt hat, nahe an das zu graͤnzen, was man
den Reiz oder die Grazie zu nennen pflegt. Sie
gewinnt das ganze Gemuͤth und erregt eine ſehr
ſanfte und durchaus angenehme Zuneigung gegen die
Sachen.

Die Anmuthigkeit ſcheinet aus ſolchen Schoͤn-
heiten zu entſtehen, die man nicht beſonders unter-
ſcheidet; weil keine ſich beſonders ausnimmt: ſie
verfließen alle zuſammen in ein harmoniſches Gan-
zes. Man nennt deswegen in der Mahlerey das
Colorit anmuthig, wo weder ſehr ſtarke Lichter noch
ſtarke Schatten ſind, ſondern wo viel helle und an-
genehme Farben in einer ſanften Harmonie ſtehen.
Unter den Mahlern hat Corregio die hoͤchſte Anmu-
thigkeit erreicht, und iſt darin fuͤr den erſten Mei-
ſter zu halten, ſo wie Raphael im Ausdruke. Faſt
in eben dieſem Verhaͤltniſſe ſtehen unter den Dich-
tern, Virgil, der Meiſter der Anmuthigkeit, und
Homer, des Ausdruks.

Anmuthig ſeyn iſt alſo der beſondre Charakter
einer gewiſſen Art des Schoͤnen, wodurch es ſich
von dem Schoͤnen Erhabenen, oder Praͤchtigen,
oder Feurigen unterſcheidet. Das Anmuthige ge-
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Anm Ano
faͤllt allen Arten von Gemuͤthern, aber ruhigen und
ſtillen am meiſten; denn in ihnen findet ſich die
meiſte Ruhe.

Die Anmuthigkeit erreicht kein Kuͤnſtler, als
der, dem die Natur eine ſanfte, gefaͤllige Seele ge-
geben hat. Nicht die groͤßten, ſondern die liebens-
wuͤrdigſten Kuͤnſtler, ſind dazu geſchikt. Derglei-
chen waren in redenden Kuͤnſten Virgil und Addi-
ſon;
in zeichnenden, Corregio und Claude Lorrain;
in der Muſik, Graun, deſſen liebenswuͤrdige Seele
ſich auch ſelbſt da zeiget, wo er zornig ſeyn will.

Anordnung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Anordnen heißt jedem Dinge ſeinen Ort anweiſen,
und daher verſteht man, was in einem Werk der
Kunſt die Anordnung ſey.

Daß ein ganzes Werk, nach Beſchaffenheit der
Abſicht, ſich der Einbildungskraft auf die vortheilhaf-
teſte Weiſe darſtellet; daß es als ein unzertrennli-
ches Ganzes erſcheinet, in dem weder Mangel noch
Ueberfluß iſt; daß jeder Theil durch den Ort, wo
er ſteht, die beſte Wuͤrkung thut; daß man das
ganze mit Vergnuͤgen uͤberſieht, und in der Vor-
ſtellung deſſelben jeden Haupttheil wol bemerkt,
oder bey Betrachtung jedes einzeln Theils auf eine
natuͤrliche Weiſe zu der Vorſtellung des Ganzen ge-
fuͤhrt wird; dieſes ſind Wuͤrkungen der guten An-
ordnung. Ohne ſie kann kein Werk, im Ganzen
betrachtet, vollkommen ſeyn, was fuͤr einzele
Schoͤnheit es immer haben mag.

Einzele Schoͤnheiten bringen zwar bisweilen
Werken der ſchlechteſten Anordnung den Ruhm
fuͤrtrefflicher Werke zuwege. Jn dieſem Falle ſind
verſchiedene Trauerſpiele des Shakeſpear; Gemaͤhl-
de des unſterblichen Raphaels, und viele Werke an-
drer Kuͤnſtler. Man lobt zu unbeſtimmt, und
legt die Fuͤrtrefflichkeit der einzeln Theile dem
Ganzen bey. Dieſes aber ſoll keinen Kuͤnſtler ab-
halten, den aͤußerſten Fleis auf eine gute Anord-
nung zu wenden. Einzele Schoͤnheiten, die wir
itzt in uͤbel geordneten Werken bewundern, wuͤrden
uns weit mehr reizen, wenn das Ganze vollkom-
mener waͤre.

Man laſſe ſich durch die Nachſicht, die man fuͤr
ſchlechte Anordnungen bisweilen zeiget, nicht ver-
fuͤhren. Dieſer Theil der Kunſt iſt doch hoͤchſt

wichtig.
Erſter Theil. H
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[57/0069] Anl Anm Anm Ano merken. Es iſt ſehr weſentlich, daß man bey der erſten Anlage nicht eher ruhe, bis im ganzen die gehoͤrige Haltung und eine gute Harmonie der Haupttheile erreicht iſt. Bey der Anlage muß der Mahler ſo viel moͤg- lich das voͤllige Colorit ſchon in der Einbildungskraft haben, damit er die Stellen, die mehr oder weniger laßirt werden muͤſſen, gehoͤrig anlege. Hiſtoriſche Gemaͤhlde werden am beſten da angefangen, wo die groͤßte Maße des Lichts zuſammen kommt; hin- gegen ſcheinet es in Landſchaften ein Vortheil zu ſeyn, wenn die Luft und die Hintergruͤnde zuerſt angelegt werden. Anmuthigkeit. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die Eigenſchaft eines Gegenſtandes, wodurch er, im ganzen betrachtet, das Gemuͤth mit einem ſanften und ſtillen Vergnuͤgen ruͤhrt. So ſchreibt man einem ſchoͤnen Fruͤhlingstag eine Anmuthigkeit zu. Es giebt ſehr ſchoͤne Gegenſtaͤnde die nicht anmuthig ſind. Denn alles, was das Gemuͤth mit ſehr leb- haftem Vergnuͤgen, oder mit Bewunderung und Begierde erfuͤllt, hat dieſe Eigenſchaft nicht. Sie ſcheinet, wie der Herr von Hagedorn (*) bereits an- gemerkt hat, nahe an das zu graͤnzen, was man den Reiz oder die Grazie zu nennen pflegt. Sie gewinnt das ganze Gemuͤth und erregt eine ſehr ſanfte und durchaus angenehme Zuneigung gegen die Sachen. (*) S. Betrach- tung uͤber die Mahle- rey. S. 29. Die Anmuthigkeit ſcheinet aus ſolchen Schoͤn- heiten zu entſtehen, die man nicht beſonders unter- ſcheidet; weil keine ſich beſonders ausnimmt: ſie verfließen alle zuſammen in ein harmoniſches Gan- zes. Man nennt deswegen in der Mahlerey das Colorit anmuthig, wo weder ſehr ſtarke Lichter noch ſtarke Schatten ſind, ſondern wo viel helle und an- genehme Farben in einer ſanften Harmonie ſtehen. Unter den Mahlern hat Corregio die hoͤchſte Anmu- thigkeit erreicht, und iſt darin fuͤr den erſten Mei- ſter zu halten, ſo wie Raphael im Ausdruke. Faſt in eben dieſem Verhaͤltniſſe ſtehen unter den Dich- tern, Virgil, der Meiſter der Anmuthigkeit, und Homer, des Ausdruks. Anmuthig ſeyn iſt alſo der beſondre Charakter einer gewiſſen Art des Schoͤnen, wodurch es ſich von dem Schoͤnen Erhabenen, oder Praͤchtigen, oder Feurigen unterſcheidet. Das Anmuthige ge- faͤllt allen Arten von Gemuͤthern, aber ruhigen und ſtillen am meiſten; denn in ihnen findet ſich die meiſte Ruhe. Die Anmuthigkeit erreicht kein Kuͤnſtler, als der, dem die Natur eine ſanfte, gefaͤllige Seele ge- geben hat. Nicht die groͤßten, ſondern die liebens- wuͤrdigſten Kuͤnſtler, ſind dazu geſchikt. Derglei- chen waren in redenden Kuͤnſten Virgil und Addi- ſon; in zeichnenden, Corregio und Claude Lorrain; in der Muſik, Graun, deſſen liebenswuͤrdige Seele ſich auch ſelbſt da zeiget, wo er zornig ſeyn will. Anordnung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Anordnen heißt jedem Dinge ſeinen Ort anweiſen, und daher verſteht man, was in einem Werk der Kunſt die Anordnung ſey. Daß ein ganzes Werk, nach Beſchaffenheit der Abſicht, ſich der Einbildungskraft auf die vortheilhaf- teſte Weiſe darſtellet; daß es als ein unzertrennli- ches Ganzes erſcheinet, in dem weder Mangel noch Ueberfluß iſt; daß jeder Theil durch den Ort, wo er ſteht, die beſte Wuͤrkung thut; daß man das ganze mit Vergnuͤgen uͤberſieht, und in der Vor- ſtellung deſſelben jeden Haupttheil wol bemerkt, oder bey Betrachtung jedes einzeln Theils auf eine natuͤrliche Weiſe zu der Vorſtellung des Ganzen ge- fuͤhrt wird; dieſes ſind Wuͤrkungen der guten An- ordnung. Ohne ſie kann kein Werk, im Ganzen betrachtet, vollkommen ſeyn, was fuͤr einzele Schoͤnheit es immer haben mag. Einzele Schoͤnheiten bringen zwar bisweilen Werken der ſchlechteſten Anordnung den Ruhm fuͤrtrefflicher Werke zuwege. Jn dieſem Falle ſind verſchiedene Trauerſpiele des Shakeſpear; Gemaͤhl- de des unſterblichen Raphaels, und viele Werke an- drer Kuͤnſtler. Man lobt zu unbeſtimmt, und legt die Fuͤrtrefflichkeit der einzeln Theile dem Ganzen bey. Dieſes aber ſoll keinen Kuͤnſtler ab- halten, den aͤußerſten Fleis auf eine gute Anord- nung zu wenden. Einzele Schoͤnheiten, die wir itzt in uͤbel geordneten Werken bewundern, wuͤrden uns weit mehr reizen, wenn das Ganze vollkom- mener waͤre. Man laſſe ſich durch die Nachſicht, die man fuͤr ſchlechte Anordnungen bisweilen zeiget, nicht ver- fuͤhren. Dieſer Theil der Kunſt iſt doch hoͤchſt wichtig. Erſter Theil. H

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/69>, abgerufen am 24.11.2024.