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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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männer, gute Bürger und tapfere Soldaten zu
bilden, als die Werke neuerer Zeiten. Bey ihnen
war in ihrem Leben, wie in ihren Künsten, alles
praktisch; bey uns denken wir selbst über Sitten
und Pflichten nur spekulativisch; da, wo jene han-
delten, begnügen wir uns, zu denken; jene waren
durchaus Herz; wir sind durchaus Geist oder Witz.

Man empfiehlt deswegen ein fleißiges Lesen der
Alten nicht ohne wichtige Gründe. Es ist un-
möglich, sich mit ihnen genau bekannt zu machen,
ohne in seinem Geschmak und in seiner Denkart
eine sehr vortheilhafte und männliche Wendung an-
zunehmen. Sie haben ungleich weit mehr für
den praktischen Verstand, als für die Belustigung
des Geistes gearbeitet; die Empfindungen haben
sie nicht weiter getrieben, als sie nützlich sind; das
Uebertriebene derselben, womit einige unter uns
sich einen Ruhm zu erwerben gesucht haben, kann-
ten sie nicht.

Jn den goldenen Zeiten der griechischen Frey-
heit waren die Künste unmittelbare Werkzeuge,
dem Staate und der Religion zu nutzen. Jede
Arbeit hatte ihren bestimmten Zwek. Dieser leitete
die Künstler in ihren Empfindungen, und setzte sie
in das Feuer, ohne welches kein Werk vorzüglich
werden kann. Auf ihren Zwek giengen sie ohne
Umschweif zu, und da sie ihre Gesetze, ihre Sitten
und die Beschaffenheit des menschlichen Herzens
immer vor Augen hatten; so konnten sie nicht leicht
in die Jrre verleitet werden. Schon bey der Er-
ziehung ward der Jugend angewöhnt, sich als Glie-
der des Staats anzusehen. Dieses gab ihren Vor-
stellungen allemal etwas praktisches, und ihren
Handlungen eine Richtung, die immer auf etwas
wichtiges abzielte. Wenn also ein junger Grieche
zu arbeiten anfieng, so war es so gleich für den
Staat. Man darf sich deswegen nicht befremden
lassen, daß in allen ihren Werken eine männliche
Stärke, eine reife Ueberlegung und bestimmte
Absichten hervor leuchten, die so oft in den Wer-
ken der Neuern fehlen. Bey unsrer Erziehung
gewöhnt man der Jugend eine eingeschränktere
Denkart an. Nicht die Vernunft, sondern die
Mode, wird ihr zur Richtschnur vorgeschrieben;
man darf nicht eher reden oder handeln, bis man
sich durch ein ängsiliches Umsichsehen versichert
hat, daß man dadurch niemanden mißfallen werde.
Unsre Jugend siehet sich blos, als einer Familie zu-
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Alt
gehörend, an, und ihr großer Verdienst ist, den
Häuptern ihrer Familie zu gefallen, die Augen
auf sich zu ziehen und nach der Mode zu leben.
Die Alten hielten bey der Erziehung streng auf al-
les, was zur bürgerlichen Tugend gehört, und wa-
ren nachsichtig in dem, was die allgemeine mensch-
liche Tugend betrifft. Wir kehren dieses um. Von
diesem kindischen Geiste zeiget sich insgemein vieles
in den Schriften unsrer Dichter und Redner, deren
Absichten selten über ihren kleinen Zirkel hinaus
reichen.

So bringt der beste Kopf oft sehr mittelmäßige
Sachen hervor, weil es ihm an großer Denkungs-
art fehlt. Denn darin, und nicht an Genie, über-
treffen uns die Alten, so wie Quintilian schon von
seiner Zeit angemerkt hat. Nec enim nos tardita-
tis natura damnavit; sed dicendi mutavimus ge-
nus et ultra nobis, quam oportebat, indulsimus. Ita
non tam ingenio illi nos superarunt, quam pro-
posito.
(*)

(*) Inst. L.
II. c.
5.

Man kann sich von der großen Denkungsart der
Alten und von ihrem wahrhaftig männlichen Geist
kaum eine allzu große Vorstellung machen; sie ver-
dienen unsre Bewunderung, und wegen ihrer unge-
hinderten Freyheit zu denken, kann man sie benei-
den.

Hingegen ist es eine ganz unüberlegte Ehrfurcht
für sie, wenn man glaubt, daß auch die Formen
ihrer Werke unsre einzige Muster seyn müßten. Die-
ses heißt wahrlich den Kern wegwerfen, und die
Schaale auf behalten. Diese Formen sind ihren
Sitten und ihrer Zeit angemessen; die Epopee, das
Drama, die Ode, zeigen nur in ihrem Geist und Jn-
halt, nicht aber in ihrer Form, Männer, welche
werth sind, unsere Meister zu seyn. Jn dem we-
sentlichen sind Homer und Oßian Barden von ei-
nerley Gattung, aber ungemein verschieden sind
sie in dem Zufälligen, und besonders in der Form.
Welcher von beyden soll darin unser Führer seyn?
Keiner; die Form ist zufällig und unsrer Wahl
überlassen, wenn nur die Materie groß, und die
Form ihr nicht widersprechend ist. Einige Neuere
scheinen so sehr für die Formen der Alten einge-
nommen zu seyn, daß wenig daran fehlt, daß sie
nicht zur Regel machen, die Epopee müsse vier und
zwanzig Gesänge haben. Hätte nur die Aeneis so
viel, so wäre die Regel vermuthlich da.

Amphi-

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Alt
maͤnner, gute Buͤrger und tapfere Soldaten zu
bilden, als die Werke neuerer Zeiten. Bey ihnen
war in ihrem Leben, wie in ihren Kuͤnſten, alles
praktiſch; bey uns denken wir ſelbſt uͤber Sitten
und Pflichten nur ſpekulativiſch; da, wo jene han-
delten, begnuͤgen wir uns, zu denken; jene waren
durchaus Herz; wir ſind durchaus Geiſt oder Witz.

Man empfiehlt deswegen ein fleißiges Leſen der
Alten nicht ohne wichtige Gruͤnde. Es iſt un-
moͤglich, ſich mit ihnen genau bekannt zu machen,
ohne in ſeinem Geſchmak und in ſeiner Denkart
eine ſehr vortheilhafte und maͤnnliche Wendung an-
zunehmen. Sie haben ungleich weit mehr fuͤr
den praktiſchen Verſtand, als fuͤr die Beluſtigung
des Geiſtes gearbeitet; die Empfindungen haben
ſie nicht weiter getrieben, als ſie nuͤtzlich ſind; das
Uebertriebene derſelben, womit einige unter uns
ſich einen Ruhm zu erwerben geſucht haben, kann-
ten ſie nicht.

Jn den goldenen Zeiten der griechiſchen Frey-
heit waren die Kuͤnſte unmittelbare Werkzeuge,
dem Staate und der Religion zu nutzen. Jede
Arbeit hatte ihren beſtimmten Zwek. Dieſer leitete
die Kuͤnſtler in ihren Empfindungen, und ſetzte ſie
in das Feuer, ohne welches kein Werk vorzuͤglich
werden kann. Auf ihren Zwek giengen ſie ohne
Umſchweif zu, und da ſie ihre Geſetze, ihre Sitten
und die Beſchaffenheit des menſchlichen Herzens
immer vor Augen hatten; ſo konnten ſie nicht leicht
in die Jrre verleitet werden. Schon bey der Er-
ziehung ward der Jugend angewoͤhnt, ſich als Glie-
der des Staats anzuſehen. Dieſes gab ihren Vor-
ſtellungen allemal etwas praktiſches, und ihren
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wichtiges abzielte. Wenn alſo ein junger Grieche
zu arbeiten anfieng, ſo war es ſo gleich fuͤr den
Staat. Man darf ſich deswegen nicht befremden
laſſen, daß in allen ihren Werken eine maͤnnliche
Staͤrke, eine reife Ueberlegung und beſtimmte
Abſichten hervor leuchten, die ſo oft in den Wer-
ken der Neuern fehlen. Bey unſrer Erziehung
gewoͤhnt man der Jugend eine eingeſchraͤnktere
Denkart an. Nicht die Vernunft, ſondern die
Mode, wird ihr zur Richtſchnur vorgeſchrieben;
man darf nicht eher reden oder handeln, bis man
ſich durch ein aͤngſiliches Umſichſehen verſichert
hat, daß man dadurch niemanden mißfallen werde.
Unſre Jugend ſiehet ſich blos, als einer Familie zu-
[Spaltenumbruch]

Alt
gehoͤrend, an, und ihr großer Verdienſt iſt, den
Haͤuptern ihrer Familie zu gefallen, die Augen
auf ſich zu ziehen und nach der Mode zu leben.
Die Alten hielten bey der Erziehung ſtreng auf al-
les, was zur buͤrgerlichen Tugend gehoͤrt, und wa-
ren nachſichtig in dem, was die allgemeine menſch-
liche Tugend betrifft. Wir kehren dieſes um. Von
dieſem kindiſchen Geiſte zeiget ſich insgemein vieles
in den Schriften unſrer Dichter und Redner, deren
Abſichten ſelten uͤber ihren kleinen Zirkel hinaus
reichen.

So bringt der beſte Kopf oft ſehr mittelmaͤßige
Sachen hervor, weil es ihm an großer Denkungs-
art fehlt. Denn darin, und nicht an Genie, uͤber-
treffen uns die Alten, ſo wie Quintilian ſchon von
ſeiner Zeit angemerkt hat. Nec enim nos tardita-
tis natura damnavit; ſed dicendi mutavimus ge-
nus et ultra nobis, quam oportebat, indulſimus. Ita
non tam ingenio illi nos ſuperarunt, quam pro-
poſito.
(*)

(*) Inſt. L.
II. c.
5.

Man kann ſich von der großen Denkungsart der
Alten und von ihrem wahrhaftig maͤnnlichen Geiſt
kaum eine allzu große Vorſtellung machen; ſie ver-
dienen unſre Bewunderung, und wegen ihrer unge-
hinderten Freyheit zu denken, kann man ſie benei-
den.

Hingegen iſt es eine ganz unuͤberlegte Ehrfurcht
fuͤr ſie, wenn man glaubt, daß auch die Formen
ihrer Werke unſre einzige Muſter ſeyn muͤßten. Die-
ſes heißt wahrlich den Kern wegwerfen, und die
Schaale auf behalten. Dieſe Formen ſind ihren
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Drama, die Ode, zeigen nur in ihrem Geiſt und Jn-
halt, nicht aber in ihrer Form, Maͤnner, welche
werth ſind, unſere Meiſter zu ſeyn. Jn dem we-
ſentlichen ſind Homer und Oßian Barden von ei-
nerley Gattung, aber ungemein verſchieden ſind
ſie in dem Zufaͤlligen, und beſonders in der Form.
Welcher von beyden ſoll darin unſer Fuͤhrer ſeyn?
Keiner; die Form iſt zufaͤllig und unſrer Wahl
uͤberlaſſen, wenn nur die Materie groß, und die
Form ihr nicht widerſprechend iſt. Einige Neuere
ſcheinen ſo ſehr fuͤr die Formen der Alten einge-
nommen zu ſeyn, daß wenig daran fehlt, daß ſie
nicht zur Regel machen, die Epopee muͤſſe vier und
zwanzig Geſaͤnge haben. Haͤtte nur die Aeneis ſo
viel, ſo waͤre die Regel vermuthlich da.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/59>, abgerufen am 25.04.2024.