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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Alt
muß, nicht därf aus der Acht lassen; so muß man
bey dem Lesen der Alten ihre Sitren, ihre Gesetze
und ihre Gebräuche, beständig vor Augen haben.
Ohne Rüksicht auf diese kann kein Urtheil vernünf-
tig ausfallen. Wenn man nicht bedenkt, was für
wichtige Sachen bey den Griechen die öffentlichen
Wettstreite und besonders das Pferderennen gewesen;
so wird man meynen, Sophokles habe in der Elektra
einen großen Fehler begangen, da er bey der erdich-
teten Erzählung vom Tode des Orestes, sich in eine
so weitläuftige Beschreibung eines solchen Streits
einläßt. Doch ist dieses eine Stelle, die seinen
Zuschauern unstreitig vorzüglich hat gefallen müssen.

Zu den Zeiten des Homers war es in dem Um-
gange der Menschen noch nicht gebräuchlich, gegen
seine Empfindungen eine Sprache zu führen,
die wir die Sprache der Höflichkeit nennen. Je-
derman drükte sich ohne Umschweife natürlich aus,
und wenn er es nöthig fand, dem andern einen Ver-
weis zu geben, so geschah es nicht durch Umwege; er
drükte sich gerade zu aus, ob er gleich keine Bit-
terkeit im Herzen hatte. Man muß also derglei-
chen Reden, wovon in der Jlias häufige Beyspiele
sind, nicht wollen nach den heutigen Sitten beur-
theilen. Wie konnte Homer eine Natur mahlen,
die zu seiner Zeit noch nicht vorhanden war?

Bey eben diesem Dichter kommt manchem die gra-
vitätische Art, durch förmliche und etwas feyerliche
Reden im Umgang sich gegen einander zu erklären,
sehr seltsam vor. Die geringsten Berichte oder Bot-
schaften, die ein Herold im Namen eines Heerfüh-
(*) Man se-
he z. B. im
IV. B. der
Jlias den
204. u. f. V.
rers bringt, werden mit Feyerlichkeit vorgetragen (*):
aber dieses ist vollkommen in den Sitten derselbigen
Zeiten; der Dichter wäre durch einen andern Vor-
trag unnatürlich geworden. Also ist das eine würk-
liche Schönheit bey ihm, was manchem tadelhaft
scheinet. Wer nicht bedenkt, daß nach den Sitten
der Alten gewisse itzt sehr geringe Sachen, jenen
überaus wichtig gewesen, der wird den Homer und
den von ihm geschilderten Achill für Kinder halten,
wenn er liest, mit was für Vorstellungen Minerva
diesen Helden über den Verlust der Beute, die ihm
Agamemnon abgenommen hatte, zu besänftigen sucht.

Wir können aber kein besseres Beyspiel anführen,
die Nothwendigkeit zu zeigen, die Sitten der Alten,
bey Beurtheilung ihrer Werke vor Augen zu haben,
als die Rede des Nestors im II. Buch der Jlias,
wodurch er die Griechen von der Auf hebung der
[Spaltenumbruch]

Alt
Belagerung abmahnet. Dieser ehrwürdige Greis
sagt seinen Soldaten; er wolle nicht hoffen, daß
sie eher nach Hause seegeln werden, als bis jeder
von Jhnen bey der Frau eines Trosaners würde
geschlafen haben.

#
#. (*)
(*) vs. 354
355.

Dieses wäre der schändlichste Beweggrund, den ein
Heerführer in unsern Zeiten brauchen könnte. Und
den legt Homer dem ältesten und weisesten Feld-
herrn in den Mund. Dennoch kann man hier dem
Dichter nichts zur Last legen. Man muß beden-
ken, daß nicht nur zu seiner Zeit, sondern noch viel
später, die gesetzmäßige Gewohnheit geherrschet, daß
die Einwohner einer im Kriege eroberten Stadt
Sclaven der Sieger geworden; daß besonders die
Frauen als eine Beute ausgetheilt worden, von
der sich jeder eine oder mehrere Beyschläferinnen aus-
suchte; daß die Belagerten sich allemal auf diesen
Fall gefaßt machen mußten. Der Dichter hat
diese Sitten nicht eingeführt, sondern gefunden.
Dieselbe Bewandtniß hat es mit der Stelle, wo
Agamemnon den Menelaus schilt, daß er den Adrast,
der sich ihm ergeben hat, als seinen Gefangenen
annehmen will, und diesen Feind so gar mit eige-
ner Hand umbringt. So wie in unsern Zeiten
ein Heerführer sich durch eine solche That mit Schan-
de bedeken würde, so wäre auch ein Dichter, der
ihn so handeln ließe, höchlich zu tadeln.

Wenn man dergleichen Betrachtungen, die zu
gründlicher Beurtheilung der Alten müssen voraus
gesetzt werden, vor Augen hat; so wird man ihnen
gewiß Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zwar
nehmen wir gar nicht auf uns, zu behaupten, daß
alle ihre Werke gänzlich ohne Tadel seyn: aber
dieses scheinet ausgemacht zu seyn; daß ihr Ge-
schmak überhaupt natürlicher und männlicher ge-
wesen, als der Geschmak der meisten Neuern; daß
ihre Werke den unsrigen darin weit vorzuziehen;
daß sie von wesentlicherm Nutzen gewesen; daß sie
mehr Würkungen auf die Bildung einer männli-
chen Denkart gehabt; daß sie das Gründliche weni-
ger durch zufällige Zierrathen verdunkelt: und wie
überhaupt in ihrer ganzen Literatur weniger Be-
trachtung und hingegen mehr Anwendung auf
den würklichen Gebrauch war, als in unsern Zei-
ten; so scheinen ihre Werke weit tüchtiger Staats-

männer,

[Spaltenumbruch]

Alt
muß, nicht daͤrf aus der Acht laſſen; ſo muß man
bey dem Leſen der Alten ihre Sitren, ihre Geſetze
und ihre Gebraͤuche, beſtaͤndig vor Augen haben.
Ohne Ruͤkſicht auf dieſe kann kein Urtheil vernuͤnf-
tig ausfallen. Wenn man nicht bedenkt, was fuͤr
wichtige Sachen bey den Griechen die oͤffentlichen
Wettſtreite und beſonders das Pferderennen geweſen;
ſo wird man meynen, Sophokles habe in der Elektra
einen großen Fehler begangen, da er bey der erdich-
teten Erzaͤhlung vom Tode des Oreſtes, ſich in eine
ſo weitlaͤuftige Beſchreibung eines ſolchen Streits
einlaͤßt. Doch iſt dieſes eine Stelle, die ſeinen
Zuſchauern unſtreitig vorzuͤglich hat gefallen muͤſſen.

Zu den Zeiten des Homers war es in dem Um-
gange der Menſchen noch nicht gebraͤuchlich, gegen
ſeine Empfindungen eine Sprache zu fuͤhren,
die wir die Sprache der Hoͤflichkeit nennen. Je-
derman druͤkte ſich ohne Umſchweife natuͤrlich aus,
und wenn er es noͤthig fand, dem andern einen Ver-
weis zu geben, ſo geſchah es nicht durch Umwege; er
druͤkte ſich gerade zu aus, ob er gleich keine Bit-
terkeit im Herzen hatte. Man muß alſo derglei-
chen Reden, wovon in der Jlias haͤufige Beyſpiele
ſind, nicht wollen nach den heutigen Sitten beur-
theilen. Wie konnte Homer eine Natur mahlen,
die zu ſeiner Zeit noch nicht vorhanden war?

Bey eben dieſem Dichter kommt manchem die gra-
vitaͤtiſche Art, durch foͤrmliche und etwas feyerliche
Reden im Umgang ſich gegen einander zu erklaͤren,
ſehr ſeltſam vor. Die geringſten Berichte oder Bot-
ſchaften, die ein Herold im Namen eines Heerfuͤh-
(*) Man ſe-
he z. B. im
IV. B. der
Jlias den
204. u. f. V.
rers bringt, werden mit Feyerlichkeit vorgetragen (*):
aber dieſes iſt vollkommen in den Sitten derſelbigen
Zeiten; der Dichter waͤre durch einen andern Vor-
trag unnatuͤrlich geworden. Alſo iſt das eine wuͤrk-
liche Schoͤnheit bey ihm, was manchem tadelhaft
ſcheinet. Wer nicht bedenkt, daß nach den Sitten
der Alten gewiſſe itzt ſehr geringe Sachen, jenen
uͤberaus wichtig geweſen, der wird den Homer und
den von ihm geſchilderten Achill fuͤr Kinder halten,
wenn er lieſt, mit was fuͤr Vorſtellungen Minerva
dieſen Helden uͤber den Verluſt der Beute, die ihm
Agamemnon abgenommen hatte, zu beſaͤnftigen ſucht.

Wir koͤnnen aber kein beſſeres Beyſpiel anfuͤhren,
die Nothwendigkeit zu zeigen, die Sitten der Alten,
bey Beurtheilung ihrer Werke vor Augen zu haben,
als die Rede des Neſtors im II. Buch der Jlias,
wodurch er die Griechen von der Auf hebung der
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Belagerung abmahnet. Dieſer ehrwuͤrdige Greis
ſagt ſeinen Soldaten; er wolle nicht hoffen, daß
ſie eher nach Hauſe ſeegeln werden, als bis jeder
von Jhnen bey der Frau eines Troſaners wuͤrde
geſchlafen haben.

#
#. (*)
(*) vſ. 354
355.

Dieſes waͤre der ſchaͤndlichſte Beweggrund, den ein
Heerfuͤhrer in unſern Zeiten brauchen koͤnnte. Und
den legt Homer dem aͤlteſten und weiſeſten Feld-
herrn in den Mund. Dennoch kann man hier dem
Dichter nichts zur Laſt legen. Man muß beden-
ken, daß nicht nur zu ſeiner Zeit, ſondern noch viel
ſpaͤter, die geſetzmaͤßige Gewohnheit geherrſchet, daß
die Einwohner einer im Kriege eroberten Stadt
Sclaven der Sieger geworden; daß beſonders die
Frauen als eine Beute ausgetheilt worden, von
der ſich jeder eine oder mehrere Beyſchlaͤferinnen aus-
ſuchte; daß die Belagerten ſich allemal auf dieſen
Fall gefaßt machen mußten. Der Dichter hat
dieſe Sitten nicht eingefuͤhrt, ſondern gefunden.
Dieſelbe Bewandtniß hat es mit der Stelle, wo
Agamemnon den Menelaus ſchilt, daß er den Adraſt,
der ſich ihm ergeben hat, als ſeinen Gefangenen
annehmen will, und dieſen Feind ſo gar mit eige-
ner Hand umbringt. So wie in unſern Zeiten
ein Heerfuͤhrer ſich durch eine ſolche That mit Schan-
de bedeken wuͤrde, ſo waͤre auch ein Dichter, der
ihn ſo handeln ließe, hoͤchlich zu tadeln.

Wenn man dergleichen Betrachtungen, die zu
gruͤndlicher Beurtheilung der Alten muͤſſen voraus
geſetzt werden, vor Augen hat; ſo wird man ihnen
gewiß Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Zwar
nehmen wir gar nicht auf uns, zu behaupten, daß
alle ihre Werke gaͤnzlich ohne Tadel ſeyn: aber
dieſes ſcheinet ausgemacht zu ſeyn; daß ihr Ge-
ſchmak uͤberhaupt natuͤrlicher und maͤnnlicher ge-
weſen, als der Geſchmak der meiſten Neuern; daß
ihre Werke den unſrigen darin weit vorzuziehen;
daß ſie von weſentlicherm Nutzen geweſen; daß ſie
mehr Wuͤrkungen auf die Bildung einer maͤnnli-
chen Denkart gehabt; daß ſie das Gruͤndliche weni-
ger durch zufaͤllige Zierrathen verdunkelt: und wie
uͤberhaupt in ihrer ganzen Literatur weniger Be-
trachtung und hingegen mehr Anwendung auf
den wuͤrklichen Gebrauch war, als in unſern Zei-
ten; ſo ſcheinen ihre Werke weit tuͤchtiger Staats-

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[46/0058] Alt Alt muß, nicht daͤrf aus der Acht laſſen; ſo muß man bey dem Leſen der Alten ihre Sitren, ihre Geſetze und ihre Gebraͤuche, beſtaͤndig vor Augen haben. Ohne Ruͤkſicht auf dieſe kann kein Urtheil vernuͤnf- tig ausfallen. Wenn man nicht bedenkt, was fuͤr wichtige Sachen bey den Griechen die oͤffentlichen Wettſtreite und beſonders das Pferderennen geweſen; ſo wird man meynen, Sophokles habe in der Elektra einen großen Fehler begangen, da er bey der erdich- teten Erzaͤhlung vom Tode des Oreſtes, ſich in eine ſo weitlaͤuftige Beſchreibung eines ſolchen Streits einlaͤßt. Doch iſt dieſes eine Stelle, die ſeinen Zuſchauern unſtreitig vorzuͤglich hat gefallen muͤſſen. Zu den Zeiten des Homers war es in dem Um- gange der Menſchen noch nicht gebraͤuchlich, gegen ſeine Empfindungen eine Sprache zu fuͤhren, die wir die Sprache der Hoͤflichkeit nennen. Je- derman druͤkte ſich ohne Umſchweife natuͤrlich aus, und wenn er es noͤthig fand, dem andern einen Ver- weis zu geben, ſo geſchah es nicht durch Umwege; er druͤkte ſich gerade zu aus, ob er gleich keine Bit- terkeit im Herzen hatte. Man muß alſo derglei- chen Reden, wovon in der Jlias haͤufige Beyſpiele ſind, nicht wollen nach den heutigen Sitten beur- theilen. Wie konnte Homer eine Natur mahlen, die zu ſeiner Zeit noch nicht vorhanden war? Bey eben dieſem Dichter kommt manchem die gra- vitaͤtiſche Art, durch foͤrmliche und etwas feyerliche Reden im Umgang ſich gegen einander zu erklaͤren, ſehr ſeltſam vor. Die geringſten Berichte oder Bot- ſchaften, die ein Herold im Namen eines Heerfuͤh- rers bringt, werden mit Feyerlichkeit vorgetragen (*): aber dieſes iſt vollkommen in den Sitten derſelbigen Zeiten; der Dichter waͤre durch einen andern Vor- trag unnatuͤrlich geworden. Alſo iſt das eine wuͤrk- liche Schoͤnheit bey ihm, was manchem tadelhaft ſcheinet. Wer nicht bedenkt, daß nach den Sitten der Alten gewiſſe itzt ſehr geringe Sachen, jenen uͤberaus wichtig geweſen, der wird den Homer und den von ihm geſchilderten Achill fuͤr Kinder halten, wenn er lieſt, mit was fuͤr Vorſtellungen Minerva dieſen Helden uͤber den Verluſt der Beute, die ihm Agamemnon abgenommen hatte, zu beſaͤnftigen ſucht. (*) Man ſe- he z. B. im IV. B. der Jlias den 204. u. f. V. Wir koͤnnen aber kein beſſeres Beyſpiel anfuͤhren, die Nothwendigkeit zu zeigen, die Sitten der Alten, bey Beurtheilung ihrer Werke vor Augen zu haben, als die Rede des Neſtors im II. Buch der Jlias, wodurch er die Griechen von der Auf hebung der Belagerung abmahnet. Dieſer ehrwuͤrdige Greis ſagt ſeinen Soldaten; er wolle nicht hoffen, daß ſie eher nach Hauſe ſeegeln werden, als bis jeder von Jhnen bey der Frau eines Troſaners wuͤrde geſchlafen haben. # #. (*) Dieſes waͤre der ſchaͤndlichſte Beweggrund, den ein Heerfuͤhrer in unſern Zeiten brauchen koͤnnte. Und den legt Homer dem aͤlteſten und weiſeſten Feld- herrn in den Mund. Dennoch kann man hier dem Dichter nichts zur Laſt legen. Man muß beden- ken, daß nicht nur zu ſeiner Zeit, ſondern noch viel ſpaͤter, die geſetzmaͤßige Gewohnheit geherrſchet, daß die Einwohner einer im Kriege eroberten Stadt Sclaven der Sieger geworden; daß beſonders die Frauen als eine Beute ausgetheilt worden, von der ſich jeder eine oder mehrere Beyſchlaͤferinnen aus- ſuchte; daß die Belagerten ſich allemal auf dieſen Fall gefaßt machen mußten. Der Dichter hat dieſe Sitten nicht eingefuͤhrt, ſondern gefunden. Dieſelbe Bewandtniß hat es mit der Stelle, wo Agamemnon den Menelaus ſchilt, daß er den Adraſt, der ſich ihm ergeben hat, als ſeinen Gefangenen annehmen will, und dieſen Feind ſo gar mit eige- ner Hand umbringt. So wie in unſern Zeiten ein Heerfuͤhrer ſich durch eine ſolche That mit Schan- de bedeken wuͤrde, ſo waͤre auch ein Dichter, der ihn ſo handeln ließe, hoͤchlich zu tadeln. Wenn man dergleichen Betrachtungen, die zu gruͤndlicher Beurtheilung der Alten muͤſſen voraus geſetzt werden, vor Augen hat; ſo wird man ihnen gewiß Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Zwar nehmen wir gar nicht auf uns, zu behaupten, daß alle ihre Werke gaͤnzlich ohne Tadel ſeyn: aber dieſes ſcheinet ausgemacht zu ſeyn; daß ihr Ge- ſchmak uͤberhaupt natuͤrlicher und maͤnnlicher ge- weſen, als der Geſchmak der meiſten Neuern; daß ihre Werke den unſrigen darin weit vorzuziehen; daß ſie von weſentlicherm Nutzen geweſen; daß ſie mehr Wuͤrkungen auf die Bildung einer maͤnnli- chen Denkart gehabt; daß ſie das Gruͤndliche weni- ger durch zufaͤllige Zierrathen verdunkelt: und wie uͤberhaupt in ihrer ganzen Literatur weniger Be- trachtung und hingegen mehr Anwendung auf den wuͤrklichen Gebrauch war, als in unſern Zei- ten; ſo ſcheinen ihre Werke weit tuͤchtiger Staats- maͤnner,

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/58>, abgerufen am 26.04.2024.