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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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daß sie es zu einer Vollkommenheit gebracht haben,
welche die Neuern selten erreichen. Einige Kunst-
richter haben so laut von den Vorzügen der Alten
gesprochen, daß andere die ganze neuere Welt da-
durch für beleidiget gehalten, und deswegen einen
heftigen Streit angefangen haben, welcher in Frank-
reich mit großer Hitze einige Jahre lang ist geführt
worden.

Jn diesen Streit wollen wir uns nicht einlassen;
er ist mit so wenigem nicht auszumachen, als
(*) Paral-
lele des
Anciens
et des mo-
dernes en
ce qui re-
garde les
arts et les
sciences 2.
Vol.
12.
Perrault geglaubt, der in einem kleinen Werk (*)
sich unterstanden hat zu zeigen, daß die Neuern in
allen Stüken den Alten nicht nur gleich kommen,
sondern sie so gar übertreffen. Wir begnügen uns,
dem Zwek dieses Werks gemäß, einige allgemeine
Anmerkungen über den Geschmak der Alten zu ma-
chen. Und weil wir in andern Artikeln von den
bildenden Künsten der Alten gesprochen, (S. Antik.)
so wollen wir hier blos bey dem bleiben, was die
Beredsamkeit und Dichtkunst betrifft.

Obgleich die Grundsätze des Geschmaks für alle
Zeiten dieselbigen sind; weil sie sich auf die unverän-
derlichen Eigenschaften des Geistes gründen: so ist
dennoch eine große Verschiedenheit in den zufälligen
Gestalten des Schönen. Bey Beurtheilung der
Alten müssen wir nothwendig auf dieses zufällige
Acht haben. Es kann ein Werk der Beredsamkeit
und Dichtkunst, von demjenigen, was bey den
Neuern für das schönste gehalten wird, sehr ver-
schieden, und dennoch vollkommen schön seyn. Wenn
wir darauf nicht Acht haben, so werden wir viel
falsche Urtheile fällen. Die Schönheit eines per-
sischen Kleides kann nicht nach der europäischen
Mode beurtheilt werden: man muß dabey die per-
sische Form, als die Richtschnur der Beurtheilung,
nothwendig vor Augen haben.

Die Form, welche die Alten ihren Werken
des Geschmaks gegeben, geht sehr oft von der heu-
tigen Forme weit ab; ob gleich das wesentliche die-
ser Werke einerley ist. Wir reden hier hauptsäch-
lich von den Werken, die nicht blos zum Vergnü-
gen und Zeitvertreib geschrieben sind, sondern von
solchen, bey denen eine moralische Absicht zum
Grunde liegt, welche durch eine, nach dem Ge-
schmake der Zeiten angemessene, Form erreicht
wird.

So hatten die griechischen Dichter bey ihren
Trauerspielen nicht blos die Absicht, ihre Zuschauer
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ein Paar Stunden lang in eine angenehme Verwir-
rung verschiedener Empfindungen zu setzen, dadurch
ihre Geschiklichkeit zu zeigen, und sich persönliche
Hochachtung, oder andre Vortheile, zu erwerben; die
gewöhnliche Absicht der neuern Dichter. Diese Ver-
schiedenheit in den Absichten mußte nothwendig ei-
nen großen Unterschied in der Ausführung hervor-
bringen.

Es ist aber kaum eine Art des Gedichtes, oder
der ungebundenen Rede, die nicht ursprünglich zum
Behuf der Religion, oder der Politik eingeführt wor-
den wäre. Darnach muß vieles in der zufälligen
Form derselben beurtheilet werden. Ohne diesen
Leitfaden, wird man sehr falsche und unbillige Ur-
theile über die Werke der Alten fällen. So finden
viele Neuere etwas unnatürliches in den Chören des
alten Trauerspiels. Wenn sie aber bedächten, daß
die festlichen Gesänge derselben das wesentlichste
der ältesten Trauerspiele, und die Handlung etwas
zufälliges gewesen (S. Chor. Episode.); so würden sie
finden, daß die Dichter, in deren Willkühr es nicht
stuhnd, Veränderungen mit den Chören vorzunehmen,
mit allem möglichen Geschmak und mit großer
Weisheit, die Chöre mit der Handlung in Eines
verbunden haben.

Eben so findet man in den redenden Künsten der
Alten Dinge, die auf das beste und vernünftigste
in den Hauptabsichten der Verfasser gegründet sind,
und also nothwendig zur Vollkommenheit ihrer Wer-
ke gehören; ob gleich dieselbigen Sachen in den Wer-
ken der Neuern einen Uebelstand verursachen würden.
Wenn wir den vierten Auftritt des ersten Aufzuges
in der Antigone des Sophokles lesen, so wird uns
anstößig und frostig scheinen, daß der Soldat, wel-
cher dem Creon die Zeitung von der Beerdigung
des Polynices hinterbringt, sich so seltsam dabey
gebehrdet. Ein Unwissender könnte leicht auf die
Gedanken gerathen, der Dichter habe da poßirlich
seyn wollen. Wenn wir aber bedenken, daß den
atheniensischen Dichtern bey allen Gelegenheiten die
politische Pflicht obgelegen, ihren Mitbürgern einen
Abscheu für die Monarchie beyzubringen, so werden
wir finden, daß dieser Auftritt da fürtrefflich ist.
Er mahlt das ausschweifende Wesen, wozu der
despotische Geist gewisser Monarchen ihre Sclaven
verleitet, mit meisterhaften Zügen.

Wie man bey Werken des Geschmaks die Absichten,
denen nothwendig alles andre untergeordnet seyn

muß,
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daß ſie es zu einer Vollkommenheit gebracht haben,
welche die Neuern ſelten erreichen. Einige Kunſt-
richter haben ſo laut von den Vorzuͤgen der Alten
geſprochen, daß andere die ganze neuere Welt da-
durch fuͤr beleidiget gehalten, und deswegen einen
heftigen Streit angefangen haben, welcher in Frank-
reich mit großer Hitze einige Jahre lang iſt gefuͤhrt
worden.

Jn dieſen Streit wollen wir uns nicht einlaſſen;
er iſt mit ſo wenigem nicht auszumachen, als
(*) Paral-
lele des
Anciens
et des mo-
dernes en
ce qui re-
garde les
arts et les
ſciences 2.
Vol.
12.
Perrault geglaubt, der in einem kleinen Werk (*)
ſich unterſtanden hat zu zeigen, daß die Neuern in
allen Stuͤken den Alten nicht nur gleich kommen,
ſondern ſie ſo gar uͤbertreffen. Wir begnuͤgen uns,
dem Zwek dieſes Werks gemaͤß, einige allgemeine
Anmerkungen uͤber den Geſchmak der Alten zu ma-
chen. Und weil wir in andern Artikeln von den
bildenden Kuͤnſten der Alten geſprochen, (S. Antik.)
ſo wollen wir hier blos bey dem bleiben, was die
Beredſamkeit und Dichtkunſt betrifft.

Obgleich die Grundſaͤtze des Geſchmaks fuͤr alle
Zeiten dieſelbigen ſind; weil ſie ſich auf die unveraͤn-
derlichen Eigenſchaften des Geiſtes gruͤnden: ſo iſt
dennoch eine große Verſchiedenheit in den zufaͤlligen
Geſtalten des Schoͤnen. Bey Beurtheilung der
Alten muͤſſen wir nothwendig auf dieſes zufaͤllige
Acht haben. Es kann ein Werk der Beredſamkeit
und Dichtkunſt, von demjenigen, was bey den
Neuern fuͤr das ſchoͤnſte gehalten wird, ſehr ver-
ſchieden, und dennoch vollkommen ſchoͤn ſeyn. Wenn
wir darauf nicht Acht haben, ſo werden wir viel
falſche Urtheile faͤllen. Die Schoͤnheit eines per-
ſiſchen Kleides kann nicht nach der europaͤiſchen
Mode beurtheilt werden: man muß dabey die per-
ſiſche Form, als die Richtſchnur der Beurtheilung,
nothwendig vor Augen haben.

Die Form, welche die Alten ihren Werken
des Geſchmaks gegeben, geht ſehr oft von der heu-
tigen Forme weit ab; ob gleich das weſentliche die-
ſer Werke einerley iſt. Wir reden hier hauptſaͤch-
lich von den Werken, die nicht blos zum Vergnuͤ-
gen und Zeitvertreib geſchrieben ſind, ſondern von
ſolchen, bey denen eine moraliſche Abſicht zum
Grunde liegt, welche durch eine, nach dem Ge-
ſchmake der Zeiten angemeſſene, Form erreicht
wird.

So hatten die griechiſchen Dichter bey ihren
Trauerſpielen nicht blos die Abſicht, ihre Zuſchauer
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ein Paar Stunden lang in eine angenehme Verwir-
rung verſchiedener Empfindungen zu ſetzen, dadurch
ihre Geſchiklichkeit zu zeigen, und ſich perſoͤnliche
Hochachtung, oder andre Vortheile, zu erwerben; die
gewoͤhnliche Abſicht der neuern Dichter. Dieſe Ver-
ſchiedenheit in den Abſichten mußte nothwendig ei-
nen großen Unterſchied in der Ausfuͤhrung hervor-
bringen.

Es iſt aber kaum eine Art des Gedichtes, oder
der ungebundenen Rede, die nicht urſpruͤnglich zum
Behuf der Religion, oder der Politik eingefuͤhrt wor-
den waͤre. Darnach muß vieles in der zufaͤlligen
Form derſelben beurtheilet werden. Ohne dieſen
Leitfaden, wird man ſehr falſche und unbillige Ur-
theile uͤber die Werke der Alten faͤllen. So finden
viele Neuere etwas unnatuͤrliches in den Choͤren des
alten Trauerſpiels. Wenn ſie aber bedaͤchten, daß
die feſtlichen Geſaͤnge derſelben das weſentlichſte
der aͤlteſten Trauerſpiele, und die Handlung etwas
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finden, daß die Dichter, in deren Willkuͤhr es nicht
ſtuhnd, Veraͤnderungen mit den Choͤren vorzunehmen,
mit allem moͤglichen Geſchmak und mit großer
Weisheit, die Choͤre mit der Handlung in Eines
verbunden haben.

Eben ſo findet man in den redenden Kuͤnſten der
Alten Dinge, die auf das beſte und vernuͤnftigſte
in den Hauptabſichten der Verfaſſer gegruͤndet ſind,
und alſo nothwendig zur Vollkommenheit ihrer Wer-
ke gehoͤren; ob gleich dieſelbigen Sachen in den Wer-
ken der Neuern einen Uebelſtand verurſachen wuͤrden.
Wenn wir den vierten Auftritt des erſten Aufzuges
in der Antigone des Sophokles leſen, ſo wird uns
anſtoͤßig und froſtig ſcheinen, daß der Soldat, wel-
cher dem Creon die Zeitung von der Beerdigung
des Polynices hinterbringt, ſich ſo ſeltſam dabey
gebehrdet. Ein Unwiſſender koͤnnte leicht auf die
Gedanken gerathen, der Dichter habe da poßirlich
ſeyn wollen. Wenn wir aber bedenken, daß den
athenienſiſchen Dichtern bey allen Gelegenheiten die
politiſche Pflicht obgelegen, ihren Mitbuͤrgern einen
Abſcheu fuͤr die Monarchie beyzubringen, ſo werden
wir finden, daß dieſer Auftritt da fuͤrtrefflich iſt.
Er mahlt das ausſchweifende Weſen, wozu der
deſpotiſche Geiſt gewiſſer Monarchen ihre Sclaven
verleitet, mit meiſterhaften Zuͤgen.

Wie man bey Werken des Geſchmaks die Abſichten,
denen nothwendig alles andre untergeordnet ſeyn

muß,
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/57>, abgerufen am 22.11.2024.