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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Jde
ses geht nicht nur auf sichtbare Formen; auch der
Dichter bildet Charaktere von Menschen und Engeln
in seinem Gemüthe, und trägt sie von da in seine
Gedichte herüber.

Man kann überhaupt von jedem Gegenstand der
Kunst, der nicht nach einem in der Natur vorhan-
denen abgezeichnet worden, sondern sein Wesen und
seine Gestalt von dem Genie des Künstlers bekom-
men hat, sagen, er sey nach einem Jdeal gemacht.
Jeder Mensch von irgend einigem Genie, der nicht
als ein blos leidendes Wesen, als ein todter Spie-
gel, nur die Formen der Dinge, die er durch die
Sinnen empfangen hat, unverändert behält, bildet
sich Wesen und Formen nach der Analogie derer,
die er in der Natur findet. Aber nur Menschen
von großem Genie sind vermögend ideale Formen
zu bilden, die an Fürtrefflichkeit die in der Natur
vorhandenen übertreffen. Diese sind das hohe Jdeal,
wodurch die Werke großer Künstler eine höhere Kraft
bekommen, als die ist, die in natürlichen Gegenstän-
den des Geschmaks und Gefühls lieget. Dieses ist
das Jdeal, dessen Ausdruk der Künstler vorzüglich
muß zu erreichen suchen, wenn er seinem Beruff
völlig Genüge leisten soll. Zwar hat er schon Ver-
dienste, wenn er zu jedem Werk, das, was sich zum
Zwek schiket, in der Natur ausfündig macht und
richtig abbildet; aber das höchste Verdienst erreicht
er nur vermittelst der Schöpfungskraft, wodurch er
das höhere Jdeal hervorbringt.

Daß das menschliche Genie diese Kraft habe,
kann nicht in Zweifel gezogen werden: der Apollo
im Belvedere ist gewiß so wenig nach der Natur ge-
macht, als Miltons Engel oder Teufel. Die Mög-
lichkeit der Erhöhung der Gegenstände, erhellet nicht
nur daraus, daß die Natur, wie ein großer Ken-
ner anmerkt, in ihren Hervorbringungen vielen Zu-
(*) Mengs
Gedanken
über die
Schönheit
S. 12.
fällen unterworfen ist, da die Kunst frey würkt (*);
sie entsteht fürnehmlich daher, daß die Natur bey
keinem Geschöpfe nur auf einen einzigen Zwek arbeitet,
welches der Künstler meistentheils thut. Das Jdeal
besteht nicht immer in Verbesserung der Natur, son-
dern auch in Vereinigung dessen, was zum Zwek ge-
hört, und Weglassung dessen, was ihm entgegen wäre.
Die Natur hat keinen Menschen gebildet, um ihn
zum sichtbaren Bild der Majestät zu machen: aber
diesen einzigen Zwek hatte Phidias, als er seinen Ju-
piter bildete. Wenn wir bey einem würklich leben-
den Menschen etwas von dem Charakter der Maje-
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Jde
stät antreffen, so finden wir noch viel anders bey
ihm, das damit nicht übereinstimmt, weil die Natur
es ihm in andern Absichten gegeben hat. Dieses an-
dre konnte dem Phidias nicht dienen, darum hätte
er nach einen Jdeal arbeiten müssen, wenn er gleich
das beste Original vor sich gehabt hätte. Es ist da-
mit, wie mit andern Produkten der Natur. Da
sie keine Gefäße von Gold oder Silber macht, wozu
diese Metalle rein seyn müssen, so bringt sie auch
kein reines Gold oder Silber hervor, sondern mit
Gestein und Erde vermischt. Die Kunst, die Me-
talle reiniget, veredlet sie nicht; sondern scheidet
nur die Theile, die zu ihrem Zwek nicht dienen, da-
von ab. Alsdenn sind sie nicht schlechterdings bes-
ser, sondern nur zu diesem besondern Zwek taugli-
cher. So ist der farnesische Herkules ein vollkom-
menes Bild dessen, was er seyn soll: aber ein Mensch,
gerade so gebildet, würde unvollkommener seyn, als
jeder andre wolgestaltete Mensch. Dieses ist der
wahre Begriff den man sich von dem Jdeal ma-
chen muß.

Der Künstler, dem die Schilderung der in der
Natur vorhandenen Gegenstände zu seinem Zwek
hinlänglich ist, hat mit dem Jdeal nichts zu thun.
Wer sich vorgenommen hat einzele Menschen ihre
Tugenden oder Laster, zu schildern; wer die stren-
gen Sitten des Cato, die patriotische Tugend des
Cicero, in einem Drama zeigen will, der muß sich
genau an der Natur halten. Wo aber nicht Per-
sonen, sondern Tugenden, wo gute oder böse Ei-
genschaften selbst, zu schildern sind, da muß man
das Jdeal suchen. Dieses thut der Bildhauer und
Mahler, der nicht die schöne Phryne, noch die
schöne Helena, sondern die weibliche Schönheit, ohne
Beymischung dessen, was der persönliche Charakter
darin besonders bestimmt, in einem Bilde darstel-
len will. Ueberhaupt dienet das Jdeal um abgezo-
gene Begriffe in ihrer höchsten Richtigkeit sinnlich
zu bilden. Darum ist auch nicht jedes Geschöpf
der Phantasie, nicht jedes Bild, das wie die Helena
des Zeuris, (*) aus einzelen Theilen andrer zusam-(*) S.
Cic. de In-
vent. L. II.

mengesetzt ist, gleich ein Jdeal zu nennen. Was
diesen Namen verdienen soll, muß auf das beste den
Begriff seiner Art, oder Gattung, ohne Beymischung
des Einzelen ausdruken. Darum schikt es sich in
den zeichnenden Künsten vornehmlich zu den Sta-(*) S.
Statue.

tuen (*) und zu den Gemählden, die wir Bilder nen-
nen (*); weil es dabey nicht darum zu thun ist, wie(*) S.
Historie.

die
A a a a 2

[Spaltenumbruch]

Jde
ſes geht nicht nur auf ſichtbare Formen; auch der
Dichter bildet Charaktere von Menſchen und Engeln
in ſeinem Gemuͤthe, und traͤgt ſie von da in ſeine
Gedichte heruͤber.

Man kann uͤberhaupt von jedem Gegenſtand der
Kunſt, der nicht nach einem in der Natur vorhan-
denen abgezeichnet worden, ſondern ſein Weſen und
ſeine Geſtalt von dem Genie des Kuͤnſtlers bekom-
men hat, ſagen, er ſey nach einem Jdeal gemacht.
Jeder Menſch von irgend einigem Genie, der nicht
als ein blos leidendes Weſen, als ein todter Spie-
gel, nur die Formen der Dinge, die er durch die
Sinnen empfangen hat, unveraͤndert behaͤlt, bildet
ſich Weſen und Formen nach der Analogie derer,
die er in der Natur findet. Aber nur Menſchen
von großem Genie ſind vermoͤgend ideale Formen
zu bilden, die an Fuͤrtrefflichkeit die in der Natur
vorhandenen uͤbertreffen. Dieſe ſind das hohe Jdeal,
wodurch die Werke großer Kuͤnſtler eine hoͤhere Kraft
bekommen, als die iſt, die in natuͤrlichen Gegenſtaͤn-
den des Geſchmaks und Gefuͤhls lieget. Dieſes iſt
das Jdeal, deſſen Ausdruk der Kuͤnſtler vorzuͤglich
muß zu erreichen ſuchen, wenn er ſeinem Beruff
voͤllig Genuͤge leiſten ſoll. Zwar hat er ſchon Ver-
dienſte, wenn er zu jedem Werk, das, was ſich zum
Zwek ſchiket, in der Natur ausfuͤndig macht und
richtig abbildet; aber das hoͤchſte Verdienſt erreicht
er nur vermittelſt der Schoͤpfungskraft, wodurch er
das hoͤhere Jdeal hervorbringt.

Daß das menſchliche Genie dieſe Kraft habe,
kann nicht in Zweifel gezogen werden: der Apollo
im Belvedere iſt gewiß ſo wenig nach der Natur ge-
macht, als Miltons Engel oder Teufel. Die Moͤg-
lichkeit der Erhoͤhung der Gegenſtaͤnde, erhellet nicht
nur daraus, daß die Natur, wie ein großer Ken-
ner anmerkt, in ihren Hervorbringungen vielen Zu-
(*) Mengs
Gedanken
uͤber die
Schoͤnheit
S. 12.
faͤllen unterworfen iſt, da die Kunſt frey wuͤrkt (*);
ſie entſteht fuͤrnehmlich daher, daß die Natur bey
keinem Geſchoͤpfe nur auf einen einzigen Zwek arbeitet,
welches der Kuͤnſtler meiſtentheils thut. Das Jdeal
beſteht nicht immer in Verbeſſerung der Natur, ſon-
dern auch in Vereinigung deſſen, was zum Zwek ge-
hoͤrt, und Weglaſſung deſſen, was ihm entgegen waͤre.
Die Natur hat keinen Menſchen gebildet, um ihn
zum ſichtbaren Bild der Majeſtaͤt zu machen: aber
dieſen einzigen Zwek hatte Phidias, als er ſeinen Ju-
piter bildete. Wenn wir bey einem wuͤrklich leben-
den Menſchen etwas von dem Charakter der Maje-
[Spaltenumbruch]

Jde
ſtaͤt antreffen, ſo finden wir noch viel anders bey
ihm, das damit nicht uͤbereinſtimmt, weil die Natur
es ihm in andern Abſichten gegeben hat. Dieſes an-
dre konnte dem Phidias nicht dienen, darum haͤtte
er nach einen Jdeal arbeiten muͤſſen, wenn er gleich
das beſte Original vor ſich gehabt haͤtte. Es iſt da-
mit, wie mit andern Produkten der Natur. Da
ſie keine Gefaͤße von Gold oder Silber macht, wozu
dieſe Metalle rein ſeyn muͤſſen, ſo bringt ſie auch
kein reines Gold oder Silber hervor, ſondern mit
Geſtein und Erde vermiſcht. Die Kunſt, die Me-
talle reiniget, veredlet ſie nicht; ſondern ſcheidet
nur die Theile, die zu ihrem Zwek nicht dienen, da-
von ab. Alsdenn ſind ſie nicht ſchlechterdings beſ-
ſer, ſondern nur zu dieſem beſondern Zwek taugli-
cher. So iſt der farneſiſche Herkules ein vollkom-
menes Bild deſſen, was er ſeyn ſoll: aber ein Menſch,
gerade ſo gebildet, wuͤrde unvollkommener ſeyn, als
jeder andre wolgeſtaltete Menſch. Dieſes iſt der
wahre Begriff den man ſich von dem Jdeal ma-
chen muß.

Der Kuͤnſtler, dem die Schilderung der in der
Natur vorhandenen Gegenſtaͤnde zu ſeinem Zwek
hinlaͤnglich iſt, hat mit dem Jdeal nichts zu thun.
Wer ſich vorgenommen hat einzele Menſchen ihre
Tugenden oder Laſter, zu ſchildern; wer die ſtren-
gen Sitten des Cato, die patriotiſche Tugend des
Cicero, in einem Drama zeigen will, der muß ſich
genau an der Natur halten. Wo aber nicht Per-
ſonen, ſondern Tugenden, wo gute oder boͤſe Ei-
genſchaften ſelbſt, zu ſchildern ſind, da muß man
das Jdeal ſuchen. Dieſes thut der Bildhauer und
Mahler, der nicht die ſchoͤne Phryne, noch die
ſchoͤne Helena, ſondern die weibliche Schoͤnheit, ohne
Beymiſchung deſſen, was der perſoͤnliche Charakter
darin beſonders beſtimmt, in einem Bilde darſtel-
len will. Ueberhaupt dienet das Jdeal um abgezo-
gene Begriffe in ihrer hoͤchſten Richtigkeit ſinnlich
zu bilden. Darum iſt auch nicht jedes Geſchoͤpf
der Phantaſie, nicht jedes Bild, das wie die Helena
des Zeuris, (*) aus einzelen Theilen andrer zuſam-(*) S.
Cic. de In-
vent. L. II.

mengeſetzt iſt, gleich ein Jdeal zu nennen. Was
dieſen Namen verdienen ſoll, muß auf das beſte den
Begriff ſeiner Art, oder Gattung, ohne Beymiſchung
des Einzelen ausdruken. Darum ſchikt es ſich in
den zeichnenden Kuͤnſten vornehmlich zu den Sta-(*) S.
Statue.

tuen (*) und zu den Gemaͤhlden, die wir Bilder nen-
nen (*); weil es dabey nicht darum zu thun iſt, wie(*) S.
Hiſtorie.

die
A a a a 2
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[555/0567] Jde Jde ſes geht nicht nur auf ſichtbare Formen; auch der Dichter bildet Charaktere von Menſchen und Engeln in ſeinem Gemuͤthe, und traͤgt ſie von da in ſeine Gedichte heruͤber. Man kann uͤberhaupt von jedem Gegenſtand der Kunſt, der nicht nach einem in der Natur vorhan- denen abgezeichnet worden, ſondern ſein Weſen und ſeine Geſtalt von dem Genie des Kuͤnſtlers bekom- men hat, ſagen, er ſey nach einem Jdeal gemacht. Jeder Menſch von irgend einigem Genie, der nicht als ein blos leidendes Weſen, als ein todter Spie- gel, nur die Formen der Dinge, die er durch die Sinnen empfangen hat, unveraͤndert behaͤlt, bildet ſich Weſen und Formen nach der Analogie derer, die er in der Natur findet. Aber nur Menſchen von großem Genie ſind vermoͤgend ideale Formen zu bilden, die an Fuͤrtrefflichkeit die in der Natur vorhandenen uͤbertreffen. Dieſe ſind das hohe Jdeal, wodurch die Werke großer Kuͤnſtler eine hoͤhere Kraft bekommen, als die iſt, die in natuͤrlichen Gegenſtaͤn- den des Geſchmaks und Gefuͤhls lieget. Dieſes iſt das Jdeal, deſſen Ausdruk der Kuͤnſtler vorzuͤglich muß zu erreichen ſuchen, wenn er ſeinem Beruff voͤllig Genuͤge leiſten ſoll. Zwar hat er ſchon Ver- dienſte, wenn er zu jedem Werk, das, was ſich zum Zwek ſchiket, in der Natur ausfuͤndig macht und richtig abbildet; aber das hoͤchſte Verdienſt erreicht er nur vermittelſt der Schoͤpfungskraft, wodurch er das hoͤhere Jdeal hervorbringt. Daß das menſchliche Genie dieſe Kraft habe, kann nicht in Zweifel gezogen werden: der Apollo im Belvedere iſt gewiß ſo wenig nach der Natur ge- macht, als Miltons Engel oder Teufel. Die Moͤg- lichkeit der Erhoͤhung der Gegenſtaͤnde, erhellet nicht nur daraus, daß die Natur, wie ein großer Ken- ner anmerkt, in ihren Hervorbringungen vielen Zu- faͤllen unterworfen iſt, da die Kunſt frey wuͤrkt (*); ſie entſteht fuͤrnehmlich daher, daß die Natur bey keinem Geſchoͤpfe nur auf einen einzigen Zwek arbeitet, welches der Kuͤnſtler meiſtentheils thut. Das Jdeal beſteht nicht immer in Verbeſſerung der Natur, ſon- dern auch in Vereinigung deſſen, was zum Zwek ge- hoͤrt, und Weglaſſung deſſen, was ihm entgegen waͤre. Die Natur hat keinen Menſchen gebildet, um ihn zum ſichtbaren Bild der Majeſtaͤt zu machen: aber dieſen einzigen Zwek hatte Phidias, als er ſeinen Ju- piter bildete. Wenn wir bey einem wuͤrklich leben- den Menſchen etwas von dem Charakter der Maje- ſtaͤt antreffen, ſo finden wir noch viel anders bey ihm, das damit nicht uͤbereinſtimmt, weil die Natur es ihm in andern Abſichten gegeben hat. Dieſes an- dre konnte dem Phidias nicht dienen, darum haͤtte er nach einen Jdeal arbeiten muͤſſen, wenn er gleich das beſte Original vor ſich gehabt haͤtte. Es iſt da- mit, wie mit andern Produkten der Natur. Da ſie keine Gefaͤße von Gold oder Silber macht, wozu dieſe Metalle rein ſeyn muͤſſen, ſo bringt ſie auch kein reines Gold oder Silber hervor, ſondern mit Geſtein und Erde vermiſcht. Die Kunſt, die Me- talle reiniget, veredlet ſie nicht; ſondern ſcheidet nur die Theile, die zu ihrem Zwek nicht dienen, da- von ab. Alsdenn ſind ſie nicht ſchlechterdings beſ- ſer, ſondern nur zu dieſem beſondern Zwek taugli- cher. So iſt der farneſiſche Herkules ein vollkom- menes Bild deſſen, was er ſeyn ſoll: aber ein Menſch, gerade ſo gebildet, wuͤrde unvollkommener ſeyn, als jeder andre wolgeſtaltete Menſch. Dieſes iſt der wahre Begriff den man ſich von dem Jdeal ma- chen muß. (*) Mengs Gedanken uͤber die Schoͤnheit S. 12. Der Kuͤnſtler, dem die Schilderung der in der Natur vorhandenen Gegenſtaͤnde zu ſeinem Zwek hinlaͤnglich iſt, hat mit dem Jdeal nichts zu thun. Wer ſich vorgenommen hat einzele Menſchen ihre Tugenden oder Laſter, zu ſchildern; wer die ſtren- gen Sitten des Cato, die patriotiſche Tugend des Cicero, in einem Drama zeigen will, der muß ſich genau an der Natur halten. Wo aber nicht Per- ſonen, ſondern Tugenden, wo gute oder boͤſe Ei- genſchaften ſelbſt, zu ſchildern ſind, da muß man das Jdeal ſuchen. Dieſes thut der Bildhauer und Mahler, der nicht die ſchoͤne Phryne, noch die ſchoͤne Helena, ſondern die weibliche Schoͤnheit, ohne Beymiſchung deſſen, was der perſoͤnliche Charakter darin beſonders beſtimmt, in einem Bilde darſtel- len will. Ueberhaupt dienet das Jdeal um abgezo- gene Begriffe in ihrer hoͤchſten Richtigkeit ſinnlich zu bilden. Darum iſt auch nicht jedes Geſchoͤpf der Phantaſie, nicht jedes Bild, das wie die Helena des Zeuris, (*) aus einzelen Theilen andrer zuſam- mengeſetzt iſt, gleich ein Jdeal zu nennen. Was dieſen Namen verdienen ſoll, muß auf das beſte den Begriff ſeiner Art, oder Gattung, ohne Beymiſchung des Einzelen ausdruken. Darum ſchikt es ſich in den zeichnenden Kuͤnſten vornehmlich zu den Sta- tuen (*) und zu den Gemaͤhlden, die wir Bilder nen- nen (*); weil es dabey nicht darum zu thun iſt, wie die (*) S. Cic. de In- vent. L. II. (*) S. Statue. (*) S. Hiſtorie. A a a a 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/567>, abgerufen am 26.04.2024.