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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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I.


[Spaltenumbruch]
Jambus.
(Dichtkunst.)

Jst ein zweysylbiger Fuß, dessen erste Sylbe kurz,
die andre lang ist, wie in den Wörtern gesagt, ge-
than.
Verse die aus solchen Füßen bestehen, wer-
den jambische Verse genennt, und diesen Namen be-
halten sie, wenn gleich in einigen Versen etwa ein
Fuß anders ist. Die deutsche Sprache besitzt einen
großen Reichthum an zweysylbigen Wörtern, die reine
Jamben sind; zu gleich hat sie viel Wörter, die sich
mit kurzen Sylben endigen, und viel die mit lan-
gen anfangen. Daher kommt es, daß die jambi-
schen und trochäischen Versarten die gewöhnlichsten in
der deutschen Dichtkunst sind.

Man sollte denken, daß ein Gedicht, in dem man
fast durchgehends nichts, als Jamben höret, unge-
mein monotonisch seyn müßte: gleichwol haben
wir lange Gedichte in dieser Versart, in denen der
Ton oder Fall des Verses nicht langweilig wird.
Man hat verschiedene Mittel solchen Versen das mo-
tonische zu benehmen. Man kann ihnen eine Ver-
schiedenheit der Länge, oder der Anzahl von Füßen
geben, wie in folgender Strophe.

So jemand spricht; ich liebe Gott,
Und haßt doch seine Brüder;
Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott
Und reißt sie ganz darnieder.
Gott ist die Lieb' und will daß ich
Den Nächsten Liebe gleich als mich.

Die vier ersten Verse sind wechselsweise, vier und
dreyfüßig, und dem Dreyfüßigen ist eine kurze
Sylbe am End angehängt; auf diese vier Verse fol-
gen wieder zwey gleiche Vierfüßige. Wenn man
nun bedenkt, daß der jambische Vers eine Länge
von einem bis auf sechs Füße haben, und daß er
entweder ganz aus Jamben bestehen, oder am Ende
eine angesetzte kurze Sylbe haben könne; so begreift
man leicht, daß eine große Mannigfaltigkeit von
jambischen Versarten für die lyrische Dichtkunst könne
erdacht werden. Für epische und dramatische Ge-
[Spaltenumbruch] dichte hält es schon schweerer blos jambische Verse
zu brauchen ohne langweilig zu werden. Die Mo-
notonie unsers alerandrinischen Verses hat unsre
neuen Dichter vermocht zum epischen Gedicht den
Herameter zu brauchen. Für das Drama hat man
einen fünffüßigen jambischen Vers versucht, dem
man so wol die Fesseln des Reims, als den Abschnitt
benommen hat. Dadurch nähert sich das Sylben-
maaß der ungebundenen Sprach; aber es verliert
zugleich auch den abgemessenen Abfall fast gänzlich,
wo der Dichter nicht außerordentliche Sorgfalt an-
wendet, schön periodisch zu schreiben. Ein Dich-
ter, der sich einbildete durch den freyen fünffüßigen
jambischen Vers die Arbeit des melodischen Ausdruks
zu erleichtern, wird sich gewiß betrogen finden. Jn-
zwischen ist nicht zu leugnen, daß der freye jambische
Vers sich zum dramatischen Gedicht vorzüglich schike.
Wir sehen, daß er fast jeden Ton annehmen, bald
ernsthaft und feyerlich, bald leicht und zärtlich ein-
hergehen kann. Darum haben auch die Alten ihre
dramatischen Stüke fast durchgehends in Jamben
geschrieben.

Jdeal.
(Schöne Künste.)

Durch dieses Wort drükt man überhaupt jedes Ur-
bild eines Gegenstandes der Kunst aus, welches die
Phantasie des Künstlers, in einiger Aehnlichkeit mit
Gegenständen, die in der Natur vorhanden sind, ge-
bildet hat, und wonach er arbeitet. "Jene Bildhauer
und Mahler, sagt Cicero, hatten, als sie das Bild
Jupiters oder der Minerva verfertigten, niemand
vor sich, dessen Gestalt sie nachzeichneten; sondern
ihrem Gemüthe war ein Bild von ausnehmender
Schönheit eingepräget, welches sie mit unverwand-
ten Bliken ansahen, und wonach sie arbeiteten." [Spaltenumbruch] (+)
Dergleichen Bilder, die der Künstler nur in seiner
Phantasie sieht, sind das Jdeal, wonach er seinen
Gegenstand bildet, wenn er nicht etwa schon in der
Natur einen antrift, den er nachbilden könnte. Die-

ses
(+) Illi artifices vel in simulacris vel in picturis cum sa-
cerent Iovis formam, aut Minervae, non contemplabantur
aliquem a quo similitudinem ducerent; sed ipsorum in mente
[Spaltenumbruch] insidedat species pulchritudinis eximiae quaedam: quam in-
tuentes in eaque defixi, ad illins similitudinem artem et ma-
num dirigebant. Cicero in Orat.
I.


[Spaltenumbruch]
Jambus.
(Dichtkunſt.)

Jſt ein zweyſylbiger Fuß, deſſen erſte Sylbe kurz,
die andre lang iſt, wie in den Woͤrtern geſagt, ge-
than.
Verſe die aus ſolchen Fuͤßen beſtehen, wer-
den jambiſche Verſe genennt, und dieſen Namen be-
halten ſie, wenn gleich in einigen Verſen etwa ein
Fuß anders iſt. Die deutſche Sprache beſitzt einen
großen Reichthum an zweyſylbigen Woͤrtern, die reine
Jamben ſind; zu gleich hat ſie viel Woͤrter, die ſich
mit kurzen Sylben endigen, und viel die mit lan-
gen anfangen. Daher kommt es, daß die jambi-
ſchen und trochaͤiſchen Versarten die gewoͤhnlichſten in
der deutſchen Dichtkunſt ſind.

Man ſollte denken, daß ein Gedicht, in dem man
faſt durchgehends nichts, als Jamben hoͤret, unge-
mein monotoniſch ſeyn muͤßte: gleichwol haben
wir lange Gedichte in dieſer Versart, in denen der
Ton oder Fall des Verſes nicht langweilig wird.
Man hat verſchiedene Mittel ſolchen Verſen das mo-
toniſche zu benehmen. Man kann ihnen eine Ver-
ſchiedenheit der Laͤnge, oder der Anzahl von Fuͤßen
geben, wie in folgender Strophe.

So jemand ſpricht; ich liebe Gott,
Und haßt doch ſeine Bruͤder;
Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott
Und reißt ſie ganz darnieder.
Gott iſt die Lieb’ und will daß ich
Den Naͤchſten Liebe gleich als mich.

Die vier erſten Verſe ſind wechſelsweiſe, vier und
dreyfuͤßig, und dem Dreyfuͤßigen iſt eine kurze
Sylbe am End angehaͤngt; auf dieſe vier Verſe fol-
gen wieder zwey gleiche Vierfuͤßige. Wenn man
nun bedenkt, daß der jambiſche Vers eine Laͤnge
von einem bis auf ſechs Fuͤße haben, und daß er
entweder ganz aus Jamben beſtehen, oder am Ende
eine angeſetzte kurze Sylbe haben koͤnne; ſo begreift
man leicht, daß eine große Mannigfaltigkeit von
jambiſchen Versarten fuͤr die lyriſche Dichtkunſt koͤnne
erdacht werden. Fuͤr epiſche und dramatiſche Ge-
[Spaltenumbruch] dichte haͤlt es ſchon ſchweerer blos jambiſche Verſe
zu brauchen ohne langweilig zu werden. Die Mo-
notonie unſers alerandriniſchen Verſes hat unſre
neuen Dichter vermocht zum epiſchen Gedicht den
Herameter zu brauchen. Fuͤr das Drama hat man
einen fuͤnffuͤßigen jambiſchen Vers verſucht, dem
man ſo wol die Feſſeln des Reims, als den Abſchnitt
benommen hat. Dadurch naͤhert ſich das Sylben-
maaß der ungebundenen Sprach; aber es verliert
zugleich auch den abgemeſſenen Abfall faſt gaͤnzlich,
wo der Dichter nicht außerordentliche Sorgfalt an-
wendet, ſchoͤn periodiſch zu ſchreiben. Ein Dich-
ter, der ſich einbildete durch den freyen fuͤnffuͤßigen
jambiſchen Vers die Arbeit des melodiſchen Ausdruks
zu erleichtern, wird ſich gewiß betrogen finden. Jn-
zwiſchen iſt nicht zu leugnen, daß der freye jambiſche
Vers ſich zum dramatiſchen Gedicht vorzuͤglich ſchike.
Wir ſehen, daß er faſt jeden Ton annehmen, bald
ernſthaft und feyerlich, bald leicht und zaͤrtlich ein-
hergehen kann. Darum haben auch die Alten ihre
dramatiſchen Stuͤke faſt durchgehends in Jamben
geſchrieben.

Jdeal.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Durch dieſes Wort druͤkt man uͤberhaupt jedes Ur-
bild eines Gegenſtandes der Kunſt aus, welches die
Phantaſie des Kuͤnſtlers, in einiger Aehnlichkeit mit
Gegenſtaͤnden, die in der Natur vorhanden ſind, ge-
bildet hat, und wonach er arbeitet. „Jene Bildhauer
und Mahler, ſagt Cicero, hatten, als ſie das Bild
Jupiters oder der Minerva verfertigten, niemand
vor ſich, deſſen Geſtalt ſie nachzeichneten; ſondern
ihrem Gemuͤthe war ein Bild von ausnehmender
Schoͤnheit eingepraͤget, welches ſie mit unverwand-
ten Bliken anſahen, und wonach ſie arbeiteten.‟ [Spaltenumbruch] (†)
Dergleichen Bilder, die der Kuͤnſtler nur in ſeiner
Phantaſie ſieht, ſind das Jdeal, wonach er ſeinen
Gegenſtand bildet, wenn er nicht etwa ſchon in der
Natur einen antrift, den er nachbilden koͤnnte. Die-

ſes
(†) Illi artifices vel in ſimulacris vel in picturis cum ſa-
cerent Iovis formam, aut Minervæ, non contemplabantur
aliquem a quo ſimilitudinem ducerent; ſed ipſorum in mente
[Spaltenumbruch] inſidedat ſpecies pulchritudinis eximiæ quædam: quam in-
tuentes in eaque defixi, ad illins ſimilitudinem artem et ma-
num dirigebant. Cicero in Orat.
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[554/0566] I. Jambus. (Dichtkunſt.) Jſt ein zweyſylbiger Fuß, deſſen erſte Sylbe kurz, die andre lang iſt, wie in den Woͤrtern geſagt, ge- than. Verſe die aus ſolchen Fuͤßen beſtehen, wer- den jambiſche Verſe genennt, und dieſen Namen be- halten ſie, wenn gleich in einigen Verſen etwa ein Fuß anders iſt. Die deutſche Sprache beſitzt einen großen Reichthum an zweyſylbigen Woͤrtern, die reine Jamben ſind; zu gleich hat ſie viel Woͤrter, die ſich mit kurzen Sylben endigen, und viel die mit lan- gen anfangen. Daher kommt es, daß die jambi- ſchen und trochaͤiſchen Versarten die gewoͤhnlichſten in der deutſchen Dichtkunſt ſind. Man ſollte denken, daß ein Gedicht, in dem man faſt durchgehends nichts, als Jamben hoͤret, unge- mein monotoniſch ſeyn muͤßte: gleichwol haben wir lange Gedichte in dieſer Versart, in denen der Ton oder Fall des Verſes nicht langweilig wird. Man hat verſchiedene Mittel ſolchen Verſen das mo- toniſche zu benehmen. Man kann ihnen eine Ver- ſchiedenheit der Laͤnge, oder der Anzahl von Fuͤßen geben, wie in folgender Strophe. So jemand ſpricht; ich liebe Gott, Und haßt doch ſeine Bruͤder; Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott Und reißt ſie ganz darnieder. Gott iſt die Lieb’ und will daß ich Den Naͤchſten Liebe gleich als mich. Die vier erſten Verſe ſind wechſelsweiſe, vier und dreyfuͤßig, und dem Dreyfuͤßigen iſt eine kurze Sylbe am End angehaͤngt; auf dieſe vier Verſe fol- gen wieder zwey gleiche Vierfuͤßige. Wenn man nun bedenkt, daß der jambiſche Vers eine Laͤnge von einem bis auf ſechs Fuͤße haben, und daß er entweder ganz aus Jamben beſtehen, oder am Ende eine angeſetzte kurze Sylbe haben koͤnne; ſo begreift man leicht, daß eine große Mannigfaltigkeit von jambiſchen Versarten fuͤr die lyriſche Dichtkunſt koͤnne erdacht werden. Fuͤr epiſche und dramatiſche Ge- dichte haͤlt es ſchon ſchweerer blos jambiſche Verſe zu brauchen ohne langweilig zu werden. Die Mo- notonie unſers alerandriniſchen Verſes hat unſre neuen Dichter vermocht zum epiſchen Gedicht den Herameter zu brauchen. Fuͤr das Drama hat man einen fuͤnffuͤßigen jambiſchen Vers verſucht, dem man ſo wol die Feſſeln des Reims, als den Abſchnitt benommen hat. Dadurch naͤhert ſich das Sylben- maaß der ungebundenen Sprach; aber es verliert zugleich auch den abgemeſſenen Abfall faſt gaͤnzlich, wo der Dichter nicht außerordentliche Sorgfalt an- wendet, ſchoͤn periodiſch zu ſchreiben. Ein Dich- ter, der ſich einbildete durch den freyen fuͤnffuͤßigen jambiſchen Vers die Arbeit des melodiſchen Ausdruks zu erleichtern, wird ſich gewiß betrogen finden. Jn- zwiſchen iſt nicht zu leugnen, daß der freye jambiſche Vers ſich zum dramatiſchen Gedicht vorzuͤglich ſchike. Wir ſehen, daß er faſt jeden Ton annehmen, bald ernſthaft und feyerlich, bald leicht und zaͤrtlich ein- hergehen kann. Darum haben auch die Alten ihre dramatiſchen Stuͤke faſt durchgehends in Jamben geſchrieben. Jdeal. (Schoͤne Kuͤnſte.) Durch dieſes Wort druͤkt man uͤberhaupt jedes Ur- bild eines Gegenſtandes der Kunſt aus, welches die Phantaſie des Kuͤnſtlers, in einiger Aehnlichkeit mit Gegenſtaͤnden, die in der Natur vorhanden ſind, ge- bildet hat, und wonach er arbeitet. „Jene Bildhauer und Mahler, ſagt Cicero, hatten, als ſie das Bild Jupiters oder der Minerva verfertigten, niemand vor ſich, deſſen Geſtalt ſie nachzeichneten; ſondern ihrem Gemuͤthe war ein Bild von ausnehmender Schoͤnheit eingepraͤget, welches ſie mit unverwand- ten Bliken anſahen, und wonach ſie arbeiteten.‟ (†) Dergleichen Bilder, die der Kuͤnſtler nur in ſeiner Phantaſie ſieht, ſind das Jdeal, wonach er ſeinen Gegenſtand bildet, wenn er nicht etwa ſchon in der Natur einen antrift, den er nachbilden koͤnnte. Die- ſes (†) Illi artifices vel in ſimulacris vel in picturis cum ſa- cerent Iovis formam, aut Minervæ, non contemplabantur aliquem a quo ſimilitudinem ducerent; ſed ipſorum in mente inſidedat ſpecies pulchritudinis eximiæ quædam: quam in- tuentes in eaque defixi, ad illins ſimilitudinem artem et ma- num dirigebant. Cicero in Orat.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/566>, abgerufen am 20.04.2024.