Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.I. [Spaltenumbruch] Jambus. (Dichtkunst.) Jst ein zweysylbiger Fuß, dessen erste Sylbe kurz, Man sollte denken, daß ein Gedicht, in dem man So jemand spricht; ich liebe Gott, Die vier ersten Verse sind wechselsweise, vier und Jdeal. (Schöne Künste.) Durch dieses Wort drükt man überhaupt jedes Ur- ses (+) Illi artifices vel in simulacris vel in picturis cum sa-
cerent Iovis formam, aut Minervae, non contemplabantur aliquem a quo similitudinem ducerent; sed ipsorum in mente [Spaltenumbruch] insidedat species pulchritudinis eximiae quaedam: quam in- tuentes in eaque defixi, ad illins similitudinem artem et ma- num dirigebant. Cicero in Orat. I. [Spaltenumbruch] Jambus. (Dichtkunſt.) Jſt ein zweyſylbiger Fuß, deſſen erſte Sylbe kurz, Man ſollte denken, daß ein Gedicht, in dem man So jemand ſpricht; ich liebe Gott, Die vier erſten Verſe ſind wechſelsweiſe, vier und Jdeal. (Schoͤne Kuͤnſte.) Durch dieſes Wort druͤkt man uͤberhaupt jedes Ur- ſes (†) Illi artifices vel in ſimulacris vel in picturis cum ſa-
cerent Iovis formam, aut Minervæ, non contemplabantur aliquem a quo ſimilitudinem ducerent; ſed ipſorum in mente [Spaltenumbruch] inſidedat ſpecies pulchritudinis eximiæ quædam: quam in- tuentes in eaque defixi, ad illins ſimilitudinem artem et ma- num dirigebant. Cicero in Orat. <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0566" n="554"/> <div n="1"> <head><hi rendition="#aq">I</hi>.</head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Jambus.</hi><lb/> (Dichtkunſt.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">J</hi>ſt ein zweyſylbiger Fuß, deſſen erſte Sylbe kurz,<lb/> die andre lang iſt, wie in den Woͤrtern <hi rendition="#fr">geſagt, ge-<lb/> than.</hi> Verſe die aus ſolchen Fuͤßen beſtehen, wer-<lb/> den jambiſche Verſe genennt, und dieſen Namen be-<lb/> halten ſie, wenn gleich in einigen Verſen etwa ein<lb/> Fuß anders iſt. Die deutſche Sprache beſitzt einen<lb/> großen Reichthum an zweyſylbigen Woͤrtern, die reine<lb/> Jamben ſind; zu gleich hat ſie viel Woͤrter, die ſich<lb/> mit kurzen Sylben endigen, und viel die mit lan-<lb/> gen anfangen. Daher kommt es, daß die jambi-<lb/> ſchen und trochaͤiſchen Versarten die gewoͤhnlichſten in<lb/> der deutſchen Dichtkunſt ſind.</p><lb/> <p>Man ſollte denken, daß ein Gedicht, in dem man<lb/> faſt durchgehends nichts, als Jamben hoͤret, unge-<lb/> mein monotoniſch ſeyn muͤßte: gleichwol haben<lb/> wir lange Gedichte in dieſer Versart, in denen der<lb/> Ton oder Fall des Verſes nicht langweilig wird.<lb/> Man hat verſchiedene Mittel ſolchen Verſen das mo-<lb/> toniſche zu benehmen. Man kann ihnen eine Ver-<lb/> ſchiedenheit der Laͤnge, oder der Anzahl von Fuͤßen<lb/> geben, wie in folgender Strophe.</p><lb/> <cit> <quote>So jemand ſpricht; ich liebe Gott,<lb/> Und haßt doch ſeine Bruͤder;<lb/> Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott<lb/> Und reißt ſie ganz darnieder.<lb/> Gott iſt die Lieb’ und will daß ich<lb/> Den Naͤchſten Liebe gleich als mich.</quote> </cit><lb/> <p>Die vier erſten Verſe ſind wechſelsweiſe, vier und<lb/> dreyfuͤßig, und dem Dreyfuͤßigen iſt eine kurze<lb/> Sylbe am End angehaͤngt; auf dieſe vier Verſe fol-<lb/> gen wieder zwey gleiche Vierfuͤßige. Wenn man<lb/> nun bedenkt, daß der jambiſche Vers eine Laͤnge<lb/> von einem bis auf ſechs Fuͤße haben, und daß er<lb/> entweder ganz aus Jamben beſtehen, oder am Ende<lb/> eine angeſetzte kurze Sylbe haben koͤnne; ſo begreift<lb/> man leicht, daß eine große Mannigfaltigkeit von<lb/> jambiſchen Versarten fuͤr die lyriſche Dichtkunſt koͤnne<lb/> erdacht werden. 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I.
Jambus.
(Dichtkunſt.)
Jſt ein zweyſylbiger Fuß, deſſen erſte Sylbe kurz,
die andre lang iſt, wie in den Woͤrtern geſagt, ge-
than. Verſe die aus ſolchen Fuͤßen beſtehen, wer-
den jambiſche Verſe genennt, und dieſen Namen be-
halten ſie, wenn gleich in einigen Verſen etwa ein
Fuß anders iſt. Die deutſche Sprache beſitzt einen
großen Reichthum an zweyſylbigen Woͤrtern, die reine
Jamben ſind; zu gleich hat ſie viel Woͤrter, die ſich
mit kurzen Sylben endigen, und viel die mit lan-
gen anfangen. Daher kommt es, daß die jambi-
ſchen und trochaͤiſchen Versarten die gewoͤhnlichſten in
der deutſchen Dichtkunſt ſind.
Man ſollte denken, daß ein Gedicht, in dem man
faſt durchgehends nichts, als Jamben hoͤret, unge-
mein monotoniſch ſeyn muͤßte: gleichwol haben
wir lange Gedichte in dieſer Versart, in denen der
Ton oder Fall des Verſes nicht langweilig wird.
Man hat verſchiedene Mittel ſolchen Verſen das mo-
toniſche zu benehmen. Man kann ihnen eine Ver-
ſchiedenheit der Laͤnge, oder der Anzahl von Fuͤßen
geben, wie in folgender Strophe.
So jemand ſpricht; ich liebe Gott,
Und haßt doch ſeine Bruͤder;
Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott
Und reißt ſie ganz darnieder.
Gott iſt die Lieb’ und will daß ich
Den Naͤchſten Liebe gleich als mich.
Die vier erſten Verſe ſind wechſelsweiſe, vier und
dreyfuͤßig, und dem Dreyfuͤßigen iſt eine kurze
Sylbe am End angehaͤngt; auf dieſe vier Verſe fol-
gen wieder zwey gleiche Vierfuͤßige. Wenn man
nun bedenkt, daß der jambiſche Vers eine Laͤnge
von einem bis auf ſechs Fuͤße haben, und daß er
entweder ganz aus Jamben beſtehen, oder am Ende
eine angeſetzte kurze Sylbe haben koͤnne; ſo begreift
man leicht, daß eine große Mannigfaltigkeit von
jambiſchen Versarten fuͤr die lyriſche Dichtkunſt koͤnne
erdacht werden. Fuͤr epiſche und dramatiſche Ge-
dichte haͤlt es ſchon ſchweerer blos jambiſche Verſe
zu brauchen ohne langweilig zu werden. Die Mo-
notonie unſers alerandriniſchen Verſes hat unſre
neuen Dichter vermocht zum epiſchen Gedicht den
Herameter zu brauchen. Fuͤr das Drama hat man
einen fuͤnffuͤßigen jambiſchen Vers verſucht, dem
man ſo wol die Feſſeln des Reims, als den Abſchnitt
benommen hat. Dadurch naͤhert ſich das Sylben-
maaß der ungebundenen Sprach; aber es verliert
zugleich auch den abgemeſſenen Abfall faſt gaͤnzlich,
wo der Dichter nicht außerordentliche Sorgfalt an-
wendet, ſchoͤn periodiſch zu ſchreiben. Ein Dich-
ter, der ſich einbildete durch den freyen fuͤnffuͤßigen
jambiſchen Vers die Arbeit des melodiſchen Ausdruks
zu erleichtern, wird ſich gewiß betrogen finden. Jn-
zwiſchen iſt nicht zu leugnen, daß der freye jambiſche
Vers ſich zum dramatiſchen Gedicht vorzuͤglich ſchike.
Wir ſehen, daß er faſt jeden Ton annehmen, bald
ernſthaft und feyerlich, bald leicht und zaͤrtlich ein-
hergehen kann. Darum haben auch die Alten ihre
dramatiſchen Stuͤke faſt durchgehends in Jamben
geſchrieben.
Jdeal.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Durch dieſes Wort druͤkt man uͤberhaupt jedes Ur-
bild eines Gegenſtandes der Kunſt aus, welches die
Phantaſie des Kuͤnſtlers, in einiger Aehnlichkeit mit
Gegenſtaͤnden, die in der Natur vorhanden ſind, ge-
bildet hat, und wonach er arbeitet. „Jene Bildhauer
und Mahler, ſagt Cicero, hatten, als ſie das Bild
Jupiters oder der Minerva verfertigten, niemand
vor ſich, deſſen Geſtalt ſie nachzeichneten; ſondern
ihrem Gemuͤthe war ein Bild von ausnehmender
Schoͤnheit eingepraͤget, welches ſie mit unverwand-
ten Bliken anſahen, und wonach ſie arbeiteten.‟
(†)
Dergleichen Bilder, die der Kuͤnſtler nur in ſeiner
Phantaſie ſieht, ſind das Jdeal, wonach er ſeinen
Gegenſtand bildet, wenn er nicht etwa ſchon in der
Natur einen antrift, den er nachbilden koͤnnte. Die-
ſes
(†) Illi artifices vel in ſimulacris vel in picturis cum ſa-
cerent Iovis formam, aut Minervæ, non contemplabantur
aliquem a quo ſimilitudinem ducerent; ſed ipſorum in mente
inſidedat ſpecies pulchritudinis eximiæ quædam: quam in-
tuentes in eaque defixi, ad illins ſimilitudinem artem et ma-
num dirigebant. Cicero in Orat.
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