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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Hyp
dabey nur Hymnen von wahrer Kirchenmusik be-
gleitet, abgesungen würden; so müßten sie noth-
wendig die rührendsten und erwünschtesten Feyer-
lichkeiten seyn, die Menschen von edlen Empfindun-
gen suchen könnten.

Hyperbel.
(Redende Künste.)

Eine rhetorische Figur die man die Vergrößerung
nennen könnte, weil sie das, was man ausdrüken
will, über die eigentliche Wahrheit vergrößert.

Der Gebrauch der Hyperbel ist jedem Affekt na-
türlich. Die Furcht vergrößert das Uebel, wie die
Freude das Gute, und die Liebe macht eine mäßige
Schönheit zu himmlischem Reiz. Die hyperbolische
Sprache, oder die, da solche Vergrößerungen häufig
vorkommen, dienet zur natürlichen Bezeichnung der
Affekte und der lehaften Charaktere. Also ist in Re-
den und Gedichten, die voll Affekt sind, die Hyper-
bel ganz natürlich, und thut, wenn sie in wichti-
gen Materien gebraucht wird, große Würkung auf
das Gemüthe. Wer kann ohne Schauder folgende
Hyperbel lesen?

Quis non latino sanguine pinguior
Campus sepulchris impia proelia

[Spaltenumbruch]
Hyp
Testatur, auditumque Medis
Hesperiae sonitum ruinae?
(*)
(*) Hor.
Od. II.
1.

Es ist kaum eine dem Affekt unterworffene Art der
Rede oder des Gedichts, darin die Hyperbel nicht
statt habe. Sie reizt die Aufmerksamkeit, durch
das Neue, Große und Ungewöhnliche; sie setzt in
Affekt, weil sie aus dem Affekt entsteht. Sie kann
aber auch zu Verstärkung des Lächerlichen dienen,
weil sie lächerlich wird, wenn sie bey geringen Ge-
genständen gebraucht wird.

Aber die Menge der Hyperbeln, die man hinter
einander gebraucht, kann die Rede ganz frostig ma-
chen. Sie sind eine Würze, die mit sparsamer
Hand einzustreuen ist. Eigentlich thun sie ihre
Würkung nur alsdenn, wenn die Wärme der Em-
pfindung sie gleichsam erpreßt: sie müssen aus dem
Herzen und nicht aus dem Verstande kommen; so
bald man etwas gesuchtes dabey merkt, werden
sie wiedrig. Diese schlimme Eigenschaft bekommen
sie, wenn sie bey unwichtigen Gegenständen gebraucht
werden. Es geht aber einigen Hyperbeln, so wie
einigen Metaphern. Durch den allgemeinen Ge-
brauch verlieren sie ihr Eigenschaft und sinken in
die Ordnung des gemeinen Ausdruks herab.



Erster Theil. A a a a

[Spaltenumbruch]

Hyp
dabey nur Hymnen von wahrer Kirchenmuſik be-
gleitet, abgeſungen wuͤrden; ſo muͤßten ſie noth-
wendig die ruͤhrendſten und erwuͤnſchteſten Feyer-
lichkeiten ſeyn, die Menſchen von edlen Empfindun-
gen ſuchen koͤnnten.

Hyperbel.
(Redende Kuͤnſte.)

Eine rhetoriſche Figur die man die Vergroͤßerung
nennen koͤnnte, weil ſie das, was man ausdruͤken
will, uͤber die eigentliche Wahrheit vergroͤßert.

Der Gebrauch der Hyperbel iſt jedem Affekt na-
tuͤrlich. Die Furcht vergroͤßert das Uebel, wie die
Freude das Gute, und die Liebe macht eine maͤßige
Schoͤnheit zu himmliſchem Reiz. Die hyperboliſche
Sprache, oder die, da ſolche Vergroͤßerungen haͤufig
vorkommen, dienet zur natuͤrlichen Bezeichnung der
Affekte und der lehaften Charaktere. Alſo iſt in Re-
den und Gedichten, die voll Affekt ſind, die Hyper-
bel ganz natuͤrlich, und thut, wenn ſie in wichti-
gen Materien gebraucht wird, große Wuͤrkung auf
das Gemuͤthe. Wer kann ohne Schauder folgende
Hyperbel leſen?

Quis non latino ſanguine pinguior
Campus ſepulchris impia proelia

[Spaltenumbruch]
Hyp
Teſtatur, auditumque Medis
Heſperiæ ſonitum ruinæ?
(*)
(*) Hor.
Od. II.
1.

Es iſt kaum eine dem Affekt unterworffene Art der
Rede oder des Gedichts, darin die Hyperbel nicht
ſtatt habe. Sie reizt die Aufmerkſamkeit, durch
das Neue, Große und Ungewoͤhnliche; ſie ſetzt in
Affekt, weil ſie aus dem Affekt entſteht. Sie kann
aber auch zu Verſtaͤrkung des Laͤcherlichen dienen,
weil ſie laͤcherlich wird, wenn ſie bey geringen Ge-
genſtaͤnden gebraucht wird.

Aber die Menge der Hyperbeln, die man hinter
einander gebraucht, kann die Rede ganz froſtig ma-
chen. Sie ſind eine Wuͤrze, die mit ſparſamer
Hand einzuſtreuen iſt. Eigentlich thun ſie ihre
Wuͤrkung nur alsdenn, wenn die Waͤrme der Em-
pfindung ſie gleichſam erpreßt: ſie muͤſſen aus dem
Herzen und nicht aus dem Verſtande kommen; ſo
bald man etwas geſuchtes dabey merkt, werden
ſie wiedrig. Dieſe ſchlimme Eigenſchaft bekommen
ſie, wenn ſie bey unwichtigen Gegenſtaͤnden gebraucht
werden. Es geht aber einigen Hyperbeln, ſo wie
einigen Metaphern. Durch den allgemeinen Ge-
brauch verlieren ſie ihr Eigenſchaft und ſinken in
die Ordnung des gemeinen Ausdruks herab.



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[553/0565] Hyp Hyp dabey nur Hymnen von wahrer Kirchenmuſik be- gleitet, abgeſungen wuͤrden; ſo muͤßten ſie noth- wendig die ruͤhrendſten und erwuͤnſchteſten Feyer- lichkeiten ſeyn, die Menſchen von edlen Empfindun- gen ſuchen koͤnnten. Hyperbel. (Redende Kuͤnſte.) Eine rhetoriſche Figur die man die Vergroͤßerung nennen koͤnnte, weil ſie das, was man ausdruͤken will, uͤber die eigentliche Wahrheit vergroͤßert. Der Gebrauch der Hyperbel iſt jedem Affekt na- tuͤrlich. Die Furcht vergroͤßert das Uebel, wie die Freude das Gute, und die Liebe macht eine maͤßige Schoͤnheit zu himmliſchem Reiz. Die hyperboliſche Sprache, oder die, da ſolche Vergroͤßerungen haͤufig vorkommen, dienet zur natuͤrlichen Bezeichnung der Affekte und der lehaften Charaktere. Alſo iſt in Re- den und Gedichten, die voll Affekt ſind, die Hyper- bel ganz natuͤrlich, und thut, wenn ſie in wichti- gen Materien gebraucht wird, große Wuͤrkung auf das Gemuͤthe. Wer kann ohne Schauder folgende Hyperbel leſen? Quis non latino ſanguine pinguior Campus ſepulchris impia proelia Teſtatur, auditumque Medis Heſperiæ ſonitum ruinæ? (*) Es iſt kaum eine dem Affekt unterworffene Art der Rede oder des Gedichts, darin die Hyperbel nicht ſtatt habe. Sie reizt die Aufmerkſamkeit, durch das Neue, Große und Ungewoͤhnliche; ſie ſetzt in Affekt, weil ſie aus dem Affekt entſteht. Sie kann aber auch zu Verſtaͤrkung des Laͤcherlichen dienen, weil ſie laͤcherlich wird, wenn ſie bey geringen Ge- genſtaͤnden gebraucht wird. Aber die Menge der Hyperbeln, die man hinter einander gebraucht, kann die Rede ganz froſtig ma- chen. Sie ſind eine Wuͤrze, die mit ſparſamer Hand einzuſtreuen iſt. Eigentlich thun ſie ihre Wuͤrkung nur alsdenn, wenn die Waͤrme der Em- pfindung ſie gleichſam erpreßt: ſie muͤſſen aus dem Herzen und nicht aus dem Verſtande kommen; ſo bald man etwas geſuchtes dabey merkt, werden ſie wiedrig. Dieſe ſchlimme Eigenſchaft bekommen ſie, wenn ſie bey unwichtigen Gegenſtaͤnden gebraucht werden. Es geht aber einigen Hyperbeln, ſo wie einigen Metaphern. Durch den allgemeinen Ge- brauch verlieren ſie ihr Eigenſchaft und ſinken in die Ordnung des gemeinen Ausdruks herab. Erſter Theil. A a a a

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/565>, abgerufen am 25.04.2024.