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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hor Hym
rühmten Meistern, wo die Gruppen der Figuren
einen andern Horizont haben, als die Scene, oder
die Landschaft, auf der sie stehen. Jn diesen Fehler
wird jeder Mahler fallen, der die Regeln der Per-
spektiv nicht weiß, oder nicht darnach arbeitet. Be-
sonders aber wird er in der Landschaft angetroffen,
deren Theile aus verschiedenen Zeichnungen und so
genannten Studien zusammengetragen sind.

Will man die Nichtigkeit einer Zeichnung beur-
theilen, so muß man ebenfalls sich zuerst bemühen,
den Horizont derselben zu finden. Man entdekt ihn
sehr leicht, wenn nur irgendwo im Gemählde zwey
Linien auf der Grundfläche, oder auf einer ihr pa-
rallelen Fläche vorkommen, von denen wir wissen,
daß sie in der Natur parallel seyn müssen. Denn
diese beyden Linien därfen wir nur in Gedanken ge-
gen den hintern Grund des Gemähldes verlängern;
sie müssen in einem Punkt zusammen treffen, und
(*) S.
Perspektiv.
dieser Punkt ist allemal in der Horizontallinie. (*)
Wenn diese Horizontallinie hoch über der Grundlinie
des Gemähldes liegt, so hat es einen hohen Hori-
zont,
liegt sie aber nicht hoch über diese Grundlinie,
so hat es einen niedrigen Horizont. Ein Gemählde
fällt am vortheilhaftesten in die Augen, wenn wir
es so ansehen können, daß der Horizont desselben ge-
rade die Höhe hat, auf dem das Aug steht. Die
Wahl eines hohen oder niedrigen Horizonts hat nach
der Beschaffenheit des Gegenstandes einen wichtigen
Einfluß auf seine Schönheit und gute Würkung,
wie schon anderswo mit mehrerm angemerkt wor-
den ist (+).

Hymne.
(Dichtkunst.)

Die Griechen nannten die Lobgesäuge auf die Göt-
ter, welche gemeiniglich bey feyerlichen Opfern ab-
gesungen und durch den Ton der Flöten, oder der
Leyer unterstützt wurden, Hymnos, und man ist schon
gewohnt, dieses Wort auch im Deutschen zu brau-
chen. Die Hymne macht eine besondere Gattung
der Ode. Der darin herrschende Affekt ist Andacht,
und anbethende Bewundrung; der Jnhalt eine in
diesem Affekt vorgetragene Beschreibung der Eigen-
schaften und Werke des göttlichen Wesens; der Ton
[Spaltenumbruch]

Hym
feyerlich und enthusiastisch. Die Hymnen der Grie-
chen scheinen meistentheils die heroische Versart gehabt
zu haben, welche sich vorzüglich zu dem feyerlich
erzählenden Ton, in dem sie abgefaßt sind, schiket.
So wol die, welche dem Homer zugeschrieben wer-
den, als die von Callimachus, sind von dieser Art;
doch hatten sie vermuthlich auch solche, die in lyri-
schen Strofen gesetzt waren (++), von welcher Art
das Carmen seculare des Horaz ist. Die prächtig-
sten und erhabensten Hymnen sind die, welche wir
in der Sammlung der Psalmen Davids antreffen.
Unter unsern heutigen gottesdienstlichen Gesängen,
oder geistlichen Liedern, kommen auch einige vor,
die man zu den Hymnen rechnen kann. Woher es
aber kommt, daß wir bey den hohen Begriffen von
den Gegenständen unsrer Anbethung, in den Kir-
chengesängen so gar wenig Hymnen haben, die dem ge-
geuwärtigen Zustand der Erkenntnis, des Geschmaks
und der Dichtkunst angemessen sind, verdiente eine
ernstliche Ueberlegung. Sollte die Hymne, die den
höchsten Gegenstand unsrer Verehrung besingt, auch
das schweerste Werk der Dichtkunst seyn? Unsre
Vorstellungskraft kann mit keinem höhern, mit kei-
nem einnehmendern Gegenstand angefüllt seyn, als
dem, den die Hymne besingt; das Herz kann
von keinen erquikendern Rührungen getroffen wer-
den, als denen, die durch gottesdienstliche Gegen-
stände erwekt werden; die Seele kann keinen höhern
Schwung bekommen, als der ist, den die Hymne
ihr geben könnte. Aber es ist höchst schweer von
einem so hohen Gegenstand mit Einfalt, und zugleich
mit der höchsten Würde zu sprechen; das Höchste,
dessen unsre Vorstellungskraft und unsre Empfin-
dung fähig ist, popular auszudrüken. Dieses aber
wird zu den Hymnen erfodert. Vielleicht denkt auch
der große Haufe der Diener der Religion zu niedrig
über die Gegenstände unsrer gottesdienstlichen Ver-
chrung, als daß er eine Verbesserung der festlichen
Lieder suchen sollte. So viel ist gewiß und in die
Augen fallend, daß die wahre Feyerlichkeit und An-
dacht bey unsern meisten heiligen Festen fehlet. Es
ist zu viel kleines und bisweilen gar niedriges da,
wo alles groß und feyerlich seyn sollte. Würden
bey feyerlichen Gelegenheiten gottesdienstliche Ver-
sammlungen mit der gehörigen Würde veranstalltet,

dabey
(+) Jm Art. Gesichtspunkt.
(++) In ipsis quoque hymnis Deorum per stropham et an-
[Spaltenumbruch] tistropham metra canoris versibus adhibebantur. Macrob. in
somn. Scip. L. II. c.
3.

[Spaltenumbruch]

Hor Hym
ruͤhmten Meiſtern, wo die Gruppen der Figuren
einen andern Horizont haben, als die Scene, oder
die Landſchaft, auf der ſie ſtehen. Jn dieſen Fehler
wird jeder Mahler fallen, der die Regeln der Per-
ſpektiv nicht weiß, oder nicht darnach arbeitet. Be-
ſonders aber wird er in der Landſchaft angetroffen,
deren Theile aus verſchiedenen Zeichnungen und ſo
genannten Studien zuſammengetragen ſind.

Will man die Nichtigkeit einer Zeichnung beur-
theilen, ſo muß man ebenfalls ſich zuerſt bemuͤhen,
den Horizont derſelben zu finden. Man entdekt ihn
ſehr leicht, wenn nur irgendwo im Gemaͤhlde zwey
Linien auf der Grundflaͤche, oder auf einer ihr pa-
rallelen Flaͤche vorkommen, von denen wir wiſſen,
daß ſie in der Natur parallel ſeyn muͤſſen. Denn
dieſe beyden Linien daͤrfen wir nur in Gedanken ge-
gen den hintern Grund des Gemaͤhldes verlaͤngern;
ſie muͤſſen in einem Punkt zuſammen treffen, und
(*) S.
Perſpektiv.
dieſer Punkt iſt allemal in der Horizontallinie. (*)
Wenn dieſe Horizontallinie hoch uͤber der Grundlinie
des Gemaͤhldes liegt, ſo hat es einen hohen Hori-
zont,
liegt ſie aber nicht hoch uͤber dieſe Grundlinie,
ſo hat es einen niedrigen Horizont. Ein Gemaͤhlde
faͤllt am vortheilhafteſten in die Augen, wenn wir
es ſo anſehen koͤnnen, daß der Horizont deſſelben ge-
rade die Hoͤhe hat, auf dem das Aug ſteht. Die
Wahl eines hohen oder niedrigen Horizonts hat nach
der Beſchaffenheit des Gegenſtandes einen wichtigen
Einfluß auf ſeine Schoͤnheit und gute Wuͤrkung,
wie ſchon anderswo mit mehrerm angemerkt wor-
den iſt (†).

Hymne.
(Dichtkunſt.)

Die Griechen nannten die Lobgeſaͤuge auf die Goͤt-
ter, welche gemeiniglich bey feyerlichen Opfern ab-
geſungen und durch den Ton der Floͤten, oder der
Leyer unterſtuͤtzt wurden, Hymnos, und man iſt ſchon
gewohnt, dieſes Wort auch im Deutſchen zu brau-
chen. Die Hymne macht eine beſondere Gattung
der Ode. Der darin herrſchende Affekt iſt Andacht,
und anbethende Bewundrung; der Jnhalt eine in
dieſem Affekt vorgetragene Beſchreibung der Eigen-
ſchaften und Werke des goͤttlichen Weſens; der Ton
[Spaltenumbruch]

Hym
feyerlich und enthuſiaſtiſch. Die Hymnen der Grie-
chen ſcheinen meiſtentheils die heroiſche Versart gehabt
zu haben, welche ſich vorzuͤglich zu dem feyerlich
erzaͤhlenden Ton, in dem ſie abgefaßt ſind, ſchiket.
So wol die, welche dem Homer zugeſchrieben wer-
den, als die von Callimachus, ſind von dieſer Art;
doch hatten ſie vermuthlich auch ſolche, die in lyri-
ſchen Strofen geſetzt waren (††), von welcher Art
das Carmen ſeculare des Horaz iſt. Die praͤchtig-
ſten und erhabenſten Hymnen ſind die, welche wir
in der Sammlung der Pſalmen Davids antreffen.
Unter unſern heutigen gottesdienſtlichen Geſaͤngen,
oder geiſtlichen Liedern, kommen auch einige vor,
die man zu den Hymnen rechnen kann. Woher es
aber kommt, daß wir bey den hohen Begriffen von
den Gegenſtaͤnden unſrer Anbethung, in den Kir-
chengeſaͤngen ſo gar wenig Hymnen haben, die dem ge-
geuwaͤrtigen Zuſtand der Erkenntnis, des Geſchmaks
und der Dichtkunſt angemeſſen ſind, verdiente eine
ernſtliche Ueberlegung. Sollte die Hymne, die den
hoͤchſten Gegenſtand unſrer Verehrung beſingt, auch
das ſchweerſte Werk der Dichtkunſt ſeyn? Unſre
Vorſtellungskraft kann mit keinem hoͤhern, mit kei-
nem einnehmendern Gegenſtand angefuͤllt ſeyn, als
dem, den die Hymne beſingt; das Herz kann
von keinen erquikendern Ruͤhrungen getroffen wer-
den, als denen, die durch gottesdienſtliche Gegen-
ſtaͤnde erwekt werden; die Seele kann keinen hoͤhern
Schwung bekommen, als der iſt, den die Hymne
ihr geben koͤnnte. Aber es iſt hoͤchſt ſchweer von
einem ſo hohen Gegenſtand mit Einfalt, und zugleich
mit der hoͤchſten Wuͤrde zu ſprechen; das Hoͤchſte,
deſſen unſre Vorſtellungskraft und unſre Empfin-
dung faͤhig iſt, popular auszudruͤken. Dieſes aber
wird zu den Hymnen erfodert. Vielleicht denkt auch
der große Haufe der Diener der Religion zu niedrig
uͤber die Gegenſtaͤnde unſrer gottesdienſtlichen Ver-
chrung, als daß er eine Verbeſſerung der feſtlichen
Lieder ſuchen ſollte. So viel iſt gewiß und in die
Augen fallend, daß die wahre Feyerlichkeit und An-
dacht bey unſern meiſten heiligen Feſten fehlet. Es
iſt zu viel kleines und bisweilen gar niedriges da,
wo alles groß und feyerlich ſeyn ſollte. Wuͤrden
bey feyerlichen Gelegenheiten gottesdienſtliche Ver-
ſammlungen mit der gehoͤrigen Wuͤrde veranſtalltet,

dabey
(†) Jm Art. Geſichtspunkt.
(††) In ipſis quoque hymnis Deorum per ſtropham et an-
[Spaltenumbruch] tiſtropham metra canoris verſibus adhibebantur. Macrob. in
ſomn. Scip. L. II. c.
3.
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[552/0564] Hor Hym Hym ruͤhmten Meiſtern, wo die Gruppen der Figuren einen andern Horizont haben, als die Scene, oder die Landſchaft, auf der ſie ſtehen. Jn dieſen Fehler wird jeder Mahler fallen, der die Regeln der Per- ſpektiv nicht weiß, oder nicht darnach arbeitet. Be- ſonders aber wird er in der Landſchaft angetroffen, deren Theile aus verſchiedenen Zeichnungen und ſo genannten Studien zuſammengetragen ſind. Will man die Nichtigkeit einer Zeichnung beur- theilen, ſo muß man ebenfalls ſich zuerſt bemuͤhen, den Horizont derſelben zu finden. Man entdekt ihn ſehr leicht, wenn nur irgendwo im Gemaͤhlde zwey Linien auf der Grundflaͤche, oder auf einer ihr pa- rallelen Flaͤche vorkommen, von denen wir wiſſen, daß ſie in der Natur parallel ſeyn muͤſſen. Denn dieſe beyden Linien daͤrfen wir nur in Gedanken ge- gen den hintern Grund des Gemaͤhldes verlaͤngern; ſie muͤſſen in einem Punkt zuſammen treffen, und dieſer Punkt iſt allemal in der Horizontallinie. (*) Wenn dieſe Horizontallinie hoch uͤber der Grundlinie des Gemaͤhldes liegt, ſo hat es einen hohen Hori- zont, liegt ſie aber nicht hoch uͤber dieſe Grundlinie, ſo hat es einen niedrigen Horizont. Ein Gemaͤhlde faͤllt am vortheilhafteſten in die Augen, wenn wir es ſo anſehen koͤnnen, daß der Horizont deſſelben ge- rade die Hoͤhe hat, auf dem das Aug ſteht. Die Wahl eines hohen oder niedrigen Horizonts hat nach der Beſchaffenheit des Gegenſtandes einen wichtigen Einfluß auf ſeine Schoͤnheit und gute Wuͤrkung, wie ſchon anderswo mit mehrerm angemerkt wor- den iſt (†). (*) S. Perſpektiv. Hymne. (Dichtkunſt.) Die Griechen nannten die Lobgeſaͤuge auf die Goͤt- ter, welche gemeiniglich bey feyerlichen Opfern ab- geſungen und durch den Ton der Floͤten, oder der Leyer unterſtuͤtzt wurden, Hymnos, und man iſt ſchon gewohnt, dieſes Wort auch im Deutſchen zu brau- chen. Die Hymne macht eine beſondere Gattung der Ode. Der darin herrſchende Affekt iſt Andacht, und anbethende Bewundrung; der Jnhalt eine in dieſem Affekt vorgetragene Beſchreibung der Eigen- ſchaften und Werke des goͤttlichen Weſens; der Ton feyerlich und enthuſiaſtiſch. Die Hymnen der Grie- chen ſcheinen meiſtentheils die heroiſche Versart gehabt zu haben, welche ſich vorzuͤglich zu dem feyerlich erzaͤhlenden Ton, in dem ſie abgefaßt ſind, ſchiket. So wol die, welche dem Homer zugeſchrieben wer- den, als die von Callimachus, ſind von dieſer Art; doch hatten ſie vermuthlich auch ſolche, die in lyri- ſchen Strofen geſetzt waren (††), von welcher Art das Carmen ſeculare des Horaz iſt. Die praͤchtig- ſten und erhabenſten Hymnen ſind die, welche wir in der Sammlung der Pſalmen Davids antreffen. Unter unſern heutigen gottesdienſtlichen Geſaͤngen, oder geiſtlichen Liedern, kommen auch einige vor, die man zu den Hymnen rechnen kann. Woher es aber kommt, daß wir bey den hohen Begriffen von den Gegenſtaͤnden unſrer Anbethung, in den Kir- chengeſaͤngen ſo gar wenig Hymnen haben, die dem ge- geuwaͤrtigen Zuſtand der Erkenntnis, des Geſchmaks und der Dichtkunſt angemeſſen ſind, verdiente eine ernſtliche Ueberlegung. Sollte die Hymne, die den hoͤchſten Gegenſtand unſrer Verehrung beſingt, auch das ſchweerſte Werk der Dichtkunſt ſeyn? Unſre Vorſtellungskraft kann mit keinem hoͤhern, mit kei- nem einnehmendern Gegenſtand angefuͤllt ſeyn, als dem, den die Hymne beſingt; das Herz kann von keinen erquikendern Ruͤhrungen getroffen wer- den, als denen, die durch gottesdienſtliche Gegen- ſtaͤnde erwekt werden; die Seele kann keinen hoͤhern Schwung bekommen, als der iſt, den die Hymne ihr geben koͤnnte. Aber es iſt hoͤchſt ſchweer von einem ſo hohen Gegenſtand mit Einfalt, und zugleich mit der hoͤchſten Wuͤrde zu ſprechen; das Hoͤchſte, deſſen unſre Vorſtellungskraft und unſre Empfin- dung faͤhig iſt, popular auszudruͤken. Dieſes aber wird zu den Hymnen erfodert. Vielleicht denkt auch der große Haufe der Diener der Religion zu niedrig uͤber die Gegenſtaͤnde unſrer gottesdienſtlichen Ver- chrung, als daß er eine Verbeſſerung der feſtlichen Lieder ſuchen ſollte. So viel iſt gewiß und in die Augen fallend, daß die wahre Feyerlichkeit und An- dacht bey unſern meiſten heiligen Feſten fehlet. Es iſt zu viel kleines und bisweilen gar niedriges da, wo alles groß und feyerlich ſeyn ſollte. Wuͤrden bey feyerlichen Gelegenheiten gottesdienſtliche Ver- ſammlungen mit der gehoͤrigen Wuͤrde veranſtalltet, dabey (†) Jm Art. Geſichtspunkt. (††) In ipſis quoque hymnis Deorum per ſtropham et an- tiſtropham metra canoris verſibus adhibebantur. Macrob. in ſomn. Scip. L. II. c. 3.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/564>, abgerufen am 16.04.2024.