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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hol Hom
das Natürliche im Großen, durch dieselben Mittel
erreicht werden, wie im Kleinen? daran muß man
nothwendig zweifeln. Wenn die Mahler der römi-
schen Schule, den Pensel so geführt hätten, wie
die holländischen Meister, so würden ihre Gemählde
schweerlich vollkommner worden seyn, als sie durch
ihre größere Behandlung des Colorits worden sind.
Wenn ein Mahler, wie Gerard Dow, oder Franz
Mieris in die Nothwendigkeit gesetzt worden wäre,
große Kirchenstüke zu verfertigen, so hätte er noth-
wendig andre Methoden, als er würklich gehabt
hat, ausdenken müssen, um die wahre Haltung
und die Farben der Natur zu erreichen. Nicht nur
(*) S.
Fleiß.
weil der Fleiß in großen Arbeiten ofte schädlich ist, (*)
sondern weil durch das Kleine die gute Würkung in
großen Gemählden nicht einmal kann hervorgebracht
werden. Es gehört eine ganz andre Behandlung
dazu, daß ein großer Gegenstand, den man von
weitem ansieht, ein völlig natürliches Ansehen habe,
als die, wodurch ein kleiner und ganz naher Gegen-
stand natürlich wird. Aber, wer in kleinen Sa-
(*) Haged.
Betracht.
S. 419.
chen, wie sich ein Kenner ausdrükt (*) raphaelisch
denkt und zeichnet, der hat Ursache sich die äußerste
Mühe zu geben, daß er auch, wie Gerhard Dow,
mahle.

Holzschnitte.
(Zeichnende Künste.)

So nennt man die Abdrüke von den in Holz ge-
(*) S.
Form-
schneider.
schnittenen Zeichnungen (*), so wie man die, wel-
che von gestochenen Kupferplatten abgedrukt sind,
Kupferstiche nennt. Von dem besondern Zweyg der
zeichnenden Künste, dem man die Holzschnitte zu
danken hat, haben wir bereits in dem angezogenen
Artikel gesprochen, wo auch beyläufig das, was von
dem Gebrauch und den vorzüglichen Vortheilen der
Holzschnitte zu merken ist, angeführt worden.

Homer.

Der älteste griechische Dichter, dessen Gesänge auf
uns gekommen sind. Er wird deswegen von vielen
Alten und Neuen für den Vater der Dichtkunst ge-
halten. Dieses ist aber nicht so zu verstehen, daß
er der erste Dichter gewesen. Man kann aus der
öftern Erwähnung, welche er selbst von Sängern
[Spaltenumbruch]

Hom
thut, schließen, daß die Dichter schon vor seiner
Zeit unter den Griechen sehr häufig gewesen sind;
und auch weit ältere Völter, als die Griechen, haben
ihre Dichter gehabt.

Das gelehrte Griechenland hatte eine uneinge-
schränkte Hochachtung für ihn, und nannte ihn vor-
züglich den Dichter, als ob er der einzige gewesen,
der diesen Namen in der vollkommensten Bedeutung
verdiente. Der griechische Mahler Galaton hat,
nach Aelians Bericht, ihn so abgemahlt, daß aus sei-
nem Mund eine Quelle floß, aus welcher alle Dich-
ter geschöpft haben, um anzuzeigen, daß er der
wahre castalische Brunnen sey,

-- a quo ceu fonte perenni
Vatum pieriis ora rigantur aquis.
(*)
(*) Ovid.
Amor. III.

9.

Selbst Aristoteles und Plato scheinen ihn für den ein-
zigen Originaldichter zu halten, nach welchem alle
andere sich gebildet haben. Seine Gesange wurden
von der Zeit an, da der Dichter selbst sie ab-
sang, bis auf den Untergang der Wissenschaften und
Künste, für das Buch aller Bücher, für die Quelle
der Künste, der Sittenlehre und der Politik gehal-
ten. Die Jugend mußte sie studiren und Erwach-
sene brauchten sie als ein allgemeines Lehrbuch.
Selbst zu der Zeit, da die Wissenschaften in Grie-
chenland im höchsten Flor stuhnden, sah man eine
eigene Classe von Menschen, die keinen andern Be-
ruf hatten, als die Gesänge dieses Dichters so wol
öffentlich, als in den Häusern, nach der Kunst ab-
zusingen.

Man muß den höchsten Begriff von diesem Dichter
nothwendig bekommen, wenn man bedenkt, daß die
größten Männer in verschiedenen Arten ihn für ihren
vornehmsten Lehrmeister gehalten; daß Lycurgus
ihn als einen Gesetzgeber, Aeschynes und Demo-
sthenes
als den größten Redner, Alexander der
Große
als den vornehmsten Lehrer des Kriegswe-
sens, Pindar, Moschus und Virgilius als den vor-
nehmsten Dichter verehrt haben. [Spaltenumbruch] (+) Ein Dichter,
den die ersten Köpfe der ersten Nation in der Welt
so sehr verehrt haben, verdient allen Menschen von
Vernunft und Geschmak bekannt zu seyn.

Von seinen persönlichen Umständen weiß man
wenig zuverläßiges. Nach der gemeinesten Mei-
nung fällt seine Lebenszeit ohngefehr 1000 Jahre

vor
(+) Est enim sane mirabile Homerum Legum ac reipubl.
interpretem Lycurgo, oratorem Aeschini et Demostheni,
[Spaltenumbruch] bellatorem Alexandro, poetam Virgilio, Pindaro, Moscho
probatum esse. Clodius super Quint. ludicio de homero.

[Spaltenumbruch]

Hol Hom
das Natuͤrliche im Großen, durch dieſelben Mittel
erreicht werden, wie im Kleinen? daran muß man
nothwendig zweifeln. Wenn die Mahler der roͤmi-
ſchen Schule, den Penſel ſo gefuͤhrt haͤtten, wie
die hollaͤndiſchen Meiſter, ſo wuͤrden ihre Gemaͤhlde
ſchweerlich vollkommner worden ſeyn, als ſie durch
ihre groͤßere Behandlung des Colorits worden ſind.
Wenn ein Mahler, wie Gerard Dow, oder Franz
Mieris in die Nothwendigkeit geſetzt worden waͤre,
große Kirchenſtuͤke zu verfertigen, ſo haͤtte er noth-
wendig andre Methoden, als er wuͤrklich gehabt
hat, ausdenken muͤſſen, um die wahre Haltung
und die Farben der Natur zu erreichen. Nicht nur
(*) S.
Fleiß.
weil der Fleiß in großen Arbeiten ofte ſchaͤdlich iſt, (*)
ſondern weil durch das Kleine die gute Wuͤrkung in
großen Gemaͤhlden nicht einmal kann hervorgebracht
werden. Es gehoͤrt eine ganz andre Behandlung
dazu, daß ein großer Gegenſtand, den man von
weitem anſieht, ein voͤllig natuͤrliches Anſehen habe,
als die, wodurch ein kleiner und ganz naher Gegen-
ſtand natuͤrlich wird. Aber, wer in kleinen Sa-
(*) Haged.
Betracht.
S. 419.
chen, wie ſich ein Kenner ausdruͤkt (*) raphaeliſch
denkt und zeichnet, der hat Urſache ſich die aͤußerſte
Muͤhe zu geben, daß er auch, wie Gerhard Dow,
mahle.

Holzſchnitte.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

So nennt man die Abdruͤke von den in Holz ge-
(*) S.
Form-
ſchneider.
ſchnittenen Zeichnungen (*), ſo wie man die, wel-
che von geſtochenen Kupferplatten abgedrukt ſind,
Kupferſtiche nennt. Von dem beſondern Zweyg der
zeichnenden Kuͤnſte, dem man die Holzſchnitte zu
danken hat, haben wir bereits in dem angezogenen
Artikel geſprochen, wo auch beylaͤufig das, was von
dem Gebrauch und den vorzuͤglichen Vortheilen der
Holzſchnitte zu merken iſt, angefuͤhrt worden.

Homer.

Der aͤlteſte griechiſche Dichter, deſſen Geſaͤnge auf
uns gekommen ſind. Er wird deswegen von vielen
Alten und Neuen fuͤr den Vater der Dichtkunſt ge-
halten. Dieſes iſt aber nicht ſo zu verſtehen, daß
er der erſte Dichter geweſen. Man kann aus der
oͤftern Erwaͤhnung, welche er ſelbſt von Saͤngern
[Spaltenumbruch]

Hom
thut, ſchließen, daß die Dichter ſchon vor ſeiner
Zeit unter den Griechen ſehr haͤufig geweſen ſind;
und auch weit aͤltere Voͤlter, als die Griechen, haben
ihre Dichter gehabt.

Das gelehrte Griechenland hatte eine uneinge-
ſchraͤnkte Hochachtung fuͤr ihn, und nannte ihn vor-
zuͤglich den Dichter, als ob er der einzige geweſen,
der dieſen Namen in der vollkommenſten Bedeutung
verdiente. Der griechiſche Mahler Galaton hat,
nach Aelians Bericht, ihn ſo abgemahlt, daß aus ſei-
nem Mund eine Quelle floß, aus welcher alle Dich-
ter geſchoͤpft haben, um anzuzeigen, daß er der
wahre caſtaliſche Brunnen ſey,

a quo ceu fonte perenni
Vatum pieriis ora rigantur aquis.
(*)
(*) Ovid.
Amor. III.

9.

Selbſt Ariſtoteles und Plato ſcheinen ihn fuͤr den ein-
zigen Originaldichter zu halten, nach welchem alle
andere ſich gebildet haben. Seine Geſange wurden
von der Zeit an, da der Dichter ſelbſt ſie ab-
ſang, bis auf den Untergang der Wiſſenſchaften und
Kuͤnſte, fuͤr das Buch aller Buͤcher, fuͤr die Quelle
der Kuͤnſte, der Sittenlehre und der Politik gehal-
ten. Die Jugend mußte ſie ſtudiren und Erwach-
ſene brauchten ſie als ein allgemeines Lehrbuch.
Selbſt zu der Zeit, da die Wiſſenſchaften in Grie-
chenland im hoͤchſten Flor ſtuhnden, ſah man eine
eigene Claſſe von Menſchen, die keinen andern Be-
ruf hatten, als die Geſaͤnge dieſes Dichters ſo wol
oͤffentlich, als in den Haͤuſern, nach der Kunſt ab-
zuſingen.

Man muß den hoͤchſten Begriff von dieſem Dichter
nothwendig bekommen, wenn man bedenkt, daß die
groͤßten Maͤnner in verſchiedenen Arten ihn fuͤr ihren
vornehmſten Lehrmeiſter gehalten; daß Lycurgus
ihn als einen Geſetzgeber, Aeſchynes und Demo-
ſthenes
als den groͤßten Redner, Alexander der
Große
als den vornehmſten Lehrer des Kriegswe-
ſens, Pindar, Moſchus und Virgilius als den vor-
nehmſten Dichter verehrt haben. [Spaltenumbruch] (†) Ein Dichter,
den die erſten Koͤpfe der erſten Nation in der Welt
ſo ſehr verehrt haben, verdient allen Menſchen von
Vernunft und Geſchmak bekannt zu ſeyn.

Von ſeinen perſoͤnlichen Umſtaͤnden weiß man
wenig zuverlaͤßiges. Nach der gemeineſten Mei-
nung faͤllt ſeine Lebenszeit ohngefehr 1000 Jahre

vor
(†) Eſt enim ſane mirabile Homerum Legum ac reipubl.
interpretem Lycurgo, oratorem Aeſchini et Demoſtheni,
[Spaltenumbruch] bellatorem Alexandro, poetam Virgilio, Pindaro, Moſcho
probatum eſſe. Clodius ſuper Quint. ludicio de homero.
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[546/0558] Hol Hom Hom das Natuͤrliche im Großen, durch dieſelben Mittel erreicht werden, wie im Kleinen? daran muß man nothwendig zweifeln. Wenn die Mahler der roͤmi- ſchen Schule, den Penſel ſo gefuͤhrt haͤtten, wie die hollaͤndiſchen Meiſter, ſo wuͤrden ihre Gemaͤhlde ſchweerlich vollkommner worden ſeyn, als ſie durch ihre groͤßere Behandlung des Colorits worden ſind. Wenn ein Mahler, wie Gerard Dow, oder Franz Mieris in die Nothwendigkeit geſetzt worden waͤre, große Kirchenſtuͤke zu verfertigen, ſo haͤtte er noth- wendig andre Methoden, als er wuͤrklich gehabt hat, ausdenken muͤſſen, um die wahre Haltung und die Farben der Natur zu erreichen. Nicht nur weil der Fleiß in großen Arbeiten ofte ſchaͤdlich iſt, (*) ſondern weil durch das Kleine die gute Wuͤrkung in großen Gemaͤhlden nicht einmal kann hervorgebracht werden. Es gehoͤrt eine ganz andre Behandlung dazu, daß ein großer Gegenſtand, den man von weitem anſieht, ein voͤllig natuͤrliches Anſehen habe, als die, wodurch ein kleiner und ganz naher Gegen- ſtand natuͤrlich wird. Aber, wer in kleinen Sa- chen, wie ſich ein Kenner ausdruͤkt (*) raphaeliſch denkt und zeichnet, der hat Urſache ſich die aͤußerſte Muͤhe zu geben, daß er auch, wie Gerhard Dow, mahle. (*) S. Fleiß. (*) Haged. Betracht. S. 419. Holzſchnitte. (Zeichnende Kuͤnſte.) So nennt man die Abdruͤke von den in Holz ge- ſchnittenen Zeichnungen (*), ſo wie man die, wel- che von geſtochenen Kupferplatten abgedrukt ſind, Kupferſtiche nennt. Von dem beſondern Zweyg der zeichnenden Kuͤnſte, dem man die Holzſchnitte zu danken hat, haben wir bereits in dem angezogenen Artikel geſprochen, wo auch beylaͤufig das, was von dem Gebrauch und den vorzuͤglichen Vortheilen der Holzſchnitte zu merken iſt, angefuͤhrt worden. (*) S. Form- ſchneider. Homer. Der aͤlteſte griechiſche Dichter, deſſen Geſaͤnge auf uns gekommen ſind. Er wird deswegen von vielen Alten und Neuen fuͤr den Vater der Dichtkunſt ge- halten. Dieſes iſt aber nicht ſo zu verſtehen, daß er der erſte Dichter geweſen. Man kann aus der oͤftern Erwaͤhnung, welche er ſelbſt von Saͤngern thut, ſchließen, daß die Dichter ſchon vor ſeiner Zeit unter den Griechen ſehr haͤufig geweſen ſind; und auch weit aͤltere Voͤlter, als die Griechen, haben ihre Dichter gehabt. Das gelehrte Griechenland hatte eine uneinge- ſchraͤnkte Hochachtung fuͤr ihn, und nannte ihn vor- zuͤglich den Dichter, als ob er der einzige geweſen, der dieſen Namen in der vollkommenſten Bedeutung verdiente. Der griechiſche Mahler Galaton hat, nach Aelians Bericht, ihn ſo abgemahlt, daß aus ſei- nem Mund eine Quelle floß, aus welcher alle Dich- ter geſchoͤpft haben, um anzuzeigen, daß er der wahre caſtaliſche Brunnen ſey, — a quo ceu fonte perenni Vatum pieriis ora rigantur aquis. (*) Selbſt Ariſtoteles und Plato ſcheinen ihn fuͤr den ein- zigen Originaldichter zu halten, nach welchem alle andere ſich gebildet haben. Seine Geſange wurden von der Zeit an, da der Dichter ſelbſt ſie ab- ſang, bis auf den Untergang der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, fuͤr das Buch aller Buͤcher, fuͤr die Quelle der Kuͤnſte, der Sittenlehre und der Politik gehal- ten. Die Jugend mußte ſie ſtudiren und Erwach- ſene brauchten ſie als ein allgemeines Lehrbuch. Selbſt zu der Zeit, da die Wiſſenſchaften in Grie- chenland im hoͤchſten Flor ſtuhnden, ſah man eine eigene Claſſe von Menſchen, die keinen andern Be- ruf hatten, als die Geſaͤnge dieſes Dichters ſo wol oͤffentlich, als in den Haͤuſern, nach der Kunſt ab- zuſingen. Man muß den hoͤchſten Begriff von dieſem Dichter nothwendig bekommen, wenn man bedenkt, daß die groͤßten Maͤnner in verſchiedenen Arten ihn fuͤr ihren vornehmſten Lehrmeiſter gehalten; daß Lycurgus ihn als einen Geſetzgeber, Aeſchynes und Demo- ſthenes als den groͤßten Redner, Alexander der Große als den vornehmſten Lehrer des Kriegswe- ſens, Pindar, Moſchus und Virgilius als den vor- nehmſten Dichter verehrt haben. (†) Ein Dichter, den die erſten Koͤpfe der erſten Nation in der Welt ſo ſehr verehrt haben, verdient allen Menſchen von Vernunft und Geſchmak bekannt zu ſeyn. Von ſeinen perſoͤnlichen Umſtaͤnden weiß man wenig zuverlaͤßiges. Nach der gemeineſten Mei- nung faͤllt ſeine Lebenszeit ohngefehr 1000 Jahre vor (†) Eſt enim ſane mirabile Homerum Legum ac reipubl. interpretem Lycurgo, oratorem Aeſchini et Demoſtheni, bellatorem Alexandro, poetam Virgilio, Pindaro, Moſcho probatum eſſe. Clodius ſuper Quint. ludicio de homero.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/558>, abgerufen am 27.04.2024.