Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Hir
würdig, als sie seyn könnten. Dagegen konnte er,
weil er nach einem Original zeichnete, das er vor
sich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Züge,
und naiver Wendungen hineinbringen, die einem
Dichter, der nur nach Phantasiebildern arbeitet,
entwischen müssen. Es hat unter den Reuern ita-
liänischen und französischen Dichtern viele gegeben,
welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht
haben: aber entweder thun sie nichts weiter, als daß
sie den Virgil copieren, der selbst größtentheils ein
freyer Uebersetzer des Theokrit ist, oder sie machen
ihre Hirten zu spitzfündigen Stutzern und ihre Schä-
ferinnen zu tiefsinnigen Meisterinnen in der platoni-
schen Liebe, oder gar zu Dames du bel Air. Pope
hat bey den Engländern in vier Jdillen den Virgil
nachgeahmt. Die deutsche Nation hat den ersten
wahren und glüklichen Nachahmer des Theokrit auf-
zuweisen, der, ohne ihn auszuschreiben, oder in seine
Fußstapfen ängstlich einzutreten, ihm darin gleichet,
daß er die schöne Einfalt der Natur meisterlich ge-
schildert hat. Es scheint, daß er den Theokrit, der
sonst in nichts übertroffen werden konnte, darin
übertroffen habe, daß er seine Hirten liebenswürdi-
ger macht. Er, Geßner, ist ein eben so glüklicher
Mahler der feinsten und naivsten Empfindungen, und
zärtlichsten Affekte, als der sanften und lieblichen
Scenen der Natur. Sein zarter Geschmak hat ihn
eine Menge kleiner Schönheiten in derselben entde-
ken gemacht, die seinen Gemählden alle Reitze der
Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenstände die
alltäglichsten sind. Er ist würklich in die Schäfer-
welt, in das goldne Alter eingedrungen, und seine
Jdillen würden vielleicht ganz vollkommen seyn, wenn
er die Scene derselben nach Mesopotamien oder
Chaldäa versetzt, und anstatt der ungereimten Viel-
götterey der Griechen, seinen Hirten die natürliche
Religion, mit einigem unschuldigen Aberglauben ver-
mischt, gegeben hätte.

Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur
und durch solche Muster als durch besondere Regeln
gebildet werden. Er muß freylich die Natur dieser
Art von Gedichte, so wie sie oben von uns angege-
ben worden, kennen; aber es wird ihm nichts hel-
fen, wenn er schon weiß, daß Jdillen Gemählde aus
der unverdorbnen Natur sind, daß die Sitten und
Empfindungen der Hirten von allem gereiniget seyn
müssen, was bey policierten Völkern unter den Na-
men der Gebräuche, des Wohlstands, der Politesse
[Spaltenumbruch]

Hir
und dergleichen, die freyen Würkungen der Na-
tur hindert; daß sie von unsern schimärischen Gütern
nur keine Jdeen haben müssen; daß sie nichts davon
wissen sich der zärtlichen Empfindungen zu schämen,
wodurch der Schöpfer die Menschen unter einander
aufs engeste zuverbinden gesucht hat; mit einem
Wort, daß sich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge-
wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte
Natur ohne alle Kunst, Verstellung, Zwang oder
andre Verderbniß zeigen muß; wenn er schon alle
diese Regeln weiß, so wird er doch unfähig bleiben,
seine Vorgänger nur zu erreichen, geschweige dann
zu übertreffen, wenn ihn nicht sein eigner ungekün-
stelter Charakter, und ein unverdorbner Geschmak
und eine besondere Zärtlichkeit der Empfindungen die
Anlage zu den Gemählden, die er schildern soll, in
Sich selbst finden lassen."

Diese Dichtungsart übertrifft alle andern an an-
genehmen und sanften Gegenständen. Was in der
leblosen, in der thierischen und sittlichen Natur den
meisten Reitz hat, ist gerade der Gegenstand der
Hirtengedichte. Wer glükliche Länder kennt, wo
ein sanftes Clima und eine Mannigfaltigkeit von
abwechselnden Gegenden, alle Reitze der Natur in
vollem Reichthum verbreitet; wo ein freyes, durch
unnatürliche Gesetze nicht verdorbenes Volk, das
blos die wenigen Bedürfnisse der Natur kennt, zer-
streut, ein harmloses und unschuldiges Leben führet;
der weiß, was für Erquikung die Seele genießt, wenn
man von Zeit zu Zeit das, durch so manchen Zwang
mühesam gewordene, Leben der bürgerlichen Welt
verlassen, und einige Tage unter solchen Schülern der
Natur, wie Haller sie nennt, zubringen kann. Jn
solche Gegenden und unter ein solches Volk versetzt
uns der Hirtendichter, dadurch verschaft er uns viel
seelige Stunden des sanftesten und unschuldigsten
Vergnügens; er lehret uns Gemüther kennen, und
macht uns mit Sitten bekannt, die uns den Men-
schen in der liebenswürdigen Einfalt der Natur zei-
gen. Da lernt man fühlen, wie wenig zum glük-
lichen Leben nöthig ist. Was Roußeau mit seiner
bezaubernden Beredsamkeit nicht ausrichten konnte,
die Welt zu überzeugen, daß der Mensch durch übel-
ausgedachte, unnatürliche Gesetze, lasterhaft und un-
glüklich werde, das kann der Hirtendichter uns em-
pfinden lassen.

Aber ist es nicht eine Grausamkeit, den Menschen
eine Lebensart und eine Glükseeligkeit, die sie un-

wie-
Y y y 2

[Spaltenumbruch]

Hir
wuͤrdig, als ſie ſeyn koͤnnten. Dagegen konnte er,
weil er nach einem Original zeichnete, das er vor
ſich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Zuͤge,
und naiver Wendungen hineinbringen, die einem
Dichter, der nur nach Phantaſiebildern arbeitet,
entwiſchen muͤſſen. Es hat unter den Reuern ita-
liaͤniſchen und franzoͤſiſchen Dichtern viele gegeben,
welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht
haben: aber entweder thun ſie nichts weiter, als daß
ſie den Virgil copieren, der ſelbſt groͤßtentheils ein
freyer Ueberſetzer des Theokrit iſt, oder ſie machen
ihre Hirten zu ſpitzfuͤndigen Stutzern und ihre Schaͤ-
ferinnen zu tiefſinnigen Meiſterinnen in der platoni-
ſchen Liebe, oder gar zu Dames du bel Air. Pope
hat bey den Englaͤndern in vier Jdillen den Virgil
nachgeahmt. Die deutſche Nation hat den erſten
wahren und gluͤklichen Nachahmer des Theokrit auf-
zuweiſen, der, ohne ihn auszuſchreiben, oder in ſeine
Fußſtapfen aͤngſtlich einzutreten, ihm darin gleichet,
daß er die ſchoͤne Einfalt der Natur meiſterlich ge-
ſchildert hat. Es ſcheint, daß er den Theokrit, der
ſonſt in nichts uͤbertroffen werden konnte, darin
uͤbertroffen habe, daß er ſeine Hirten liebenswuͤrdi-
ger macht. Er, Geßner, iſt ein eben ſo gluͤklicher
Mahler der feinſten und naivſten Empfindungen, und
zaͤrtlichſten Affekte, als der ſanften und lieblichen
Scenen der Natur. Sein zarter Geſchmak hat ihn
eine Menge kleiner Schoͤnheiten in derſelben entde-
ken gemacht, die ſeinen Gemaͤhlden alle Reitze der
Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenſtaͤnde die
alltaͤglichſten ſind. Er iſt wuͤrklich in die Schaͤfer-
welt, in das goldne Alter eingedrungen, und ſeine
Jdillen wuͤrden vielleicht ganz vollkommen ſeyn, wenn
er die Scene derſelben nach Meſopotamien oder
Chaldaͤa verſetzt, und anſtatt der ungereimten Viel-
goͤtterey der Griechen, ſeinen Hirten die natuͤrliche
Religion, mit einigem unſchuldigen Aberglauben ver-
miſcht, gegeben haͤtte.

Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur
und durch ſolche Muſter als durch beſondere Regeln
gebildet werden. Er muß freylich die Natur dieſer
Art von Gedichte, ſo wie ſie oben von uns angege-
ben worden, kennen; aber es wird ihm nichts hel-
fen, wenn er ſchon weiß, daß Jdillen Gemaͤhlde aus
der unverdorbnen Natur ſind, daß die Sitten und
Empfindungen der Hirten von allem gereiniget ſeyn
muͤſſen, was bey policierten Voͤlkern unter den Na-
men der Gebraͤuche, des Wohlſtands, der Politeſſe
[Spaltenumbruch]

Hir
und dergleichen, die freyen Wuͤrkungen der Na-
tur hindert; daß ſie von unſern ſchimaͤriſchen Guͤtern
nur keine Jdeen haben muͤſſen; daß ſie nichts davon
wiſſen ſich der zaͤrtlichen Empfindungen zu ſchaͤmen,
wodurch der Schoͤpfer die Menſchen unter einander
aufs engeſte zuverbinden geſucht hat; mit einem
Wort, daß ſich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge-
wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte
Natur ohne alle Kunſt, Verſtellung, Zwang oder
andre Verderbniß zeigen muß; wenn er ſchon alle
dieſe Regeln weiß, ſo wird er doch unfaͤhig bleiben,
ſeine Vorgaͤnger nur zu erreichen, geſchweige dann
zu uͤbertreffen, wenn ihn nicht ſein eigner ungekuͤn-
ſtelter Charakter, und ein unverdorbner Geſchmak
und eine beſondere Zaͤrtlichkeit der Empfindungen die
Anlage zu den Gemaͤhlden, die er ſchildern ſoll, in
Sich ſelbſt finden laſſen.‟

Dieſe Dichtungsart uͤbertrifft alle andern an an-
genehmen und ſanften Gegenſtaͤnden. Was in der
lebloſen, in der thieriſchen und ſittlichen Natur den
meiſten Reitz hat, iſt gerade der Gegenſtand der
Hirtengedichte. Wer gluͤkliche Laͤnder kennt, wo
ein ſanftes Clima und eine Mannigfaltigkeit von
abwechſelnden Gegenden, alle Reitze der Natur in
vollem Reichthum verbreitet; wo ein freyes, durch
unnatuͤrliche Geſetze nicht verdorbenes Volk, das
blos die wenigen Beduͤrfniſſe der Natur kennt, zer-
ſtreut, ein harmloſes und unſchuldiges Leben fuͤhret;
der weiß, was fuͤr Erquikung die Seele genießt, wenn
man von Zeit zu Zeit das, durch ſo manchen Zwang
muͤheſam gewordene, Leben der buͤrgerlichen Welt
verlaſſen, und einige Tage unter ſolchen Schuͤlern der
Natur, wie Haller ſie nennt, zubringen kann. Jn
ſolche Gegenden und unter ein ſolches Volk verſetzt
uns der Hirtendichter, dadurch verſchaft er uns viel
ſeelige Stunden des ſanfteſten und unſchuldigſten
Vergnuͤgens; er lehret uns Gemuͤther kennen, und
macht uns mit Sitten bekannt, die uns den Men-
ſchen in der liebenswuͤrdigen Einfalt der Natur zei-
gen. Da lernt man fuͤhlen, wie wenig zum gluͤk-
lichen Leben noͤthig iſt. Was Roußeau mit ſeiner
bezaubernden Beredſamkeit nicht ausrichten konnte,
die Welt zu uͤberzeugen, daß der Menſch durch uͤbel-
ausgedachte, unnatuͤrliche Geſetze, laſterhaft und un-
gluͤklich werde, das kann der Hirtendichter uns em-
pfinden laſſen.

Aber iſt es nicht eine Grauſamkeit, den Menſchen
eine Lebensart und eine Gluͤkſeeligkeit, die ſie un-

wie-
Y y y 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0551" n="539"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hir</hi></fw><lb/>
wu&#x0364;rdig, als &#x017F;ie &#x017F;eyn ko&#x0364;nnten. Dagegen konnte er,<lb/>
weil er nach einem Original zeichnete, das er vor<lb/>
&#x017F;ich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Zu&#x0364;ge,<lb/>
und naiver Wendungen hineinbringen, die einem<lb/>
Dichter, der nur nach Phanta&#x017F;iebildern arbeitet,<lb/>
entwi&#x017F;chen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Es hat unter den Reuern ita-<lb/>
lia&#x0364;ni&#x017F;chen und franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Dichtern viele gegeben,<lb/>
welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht<lb/>
haben: aber entweder thun &#x017F;ie nichts weiter, als daß<lb/>
&#x017F;ie den Virgil copieren, der &#x017F;elb&#x017F;t gro&#x0364;ßtentheils ein<lb/>
freyer Ueber&#x017F;etzer des Theokrit i&#x017F;t, oder &#x017F;ie machen<lb/>
ihre Hirten zu &#x017F;pitzfu&#x0364;ndigen Stutzern und ihre Scha&#x0364;-<lb/>
ferinnen zu tief&#x017F;innigen Mei&#x017F;terinnen in der platoni-<lb/>
&#x017F;chen Liebe, oder gar zu <hi rendition="#aq">Dames du bel Air.</hi> Pope<lb/>
hat bey den Engla&#x0364;ndern in vier Jdillen den Virgil<lb/>
nachgeahmt. Die deut&#x017F;che Nation hat den er&#x017F;ten<lb/>
wahren und glu&#x0364;klichen Nachahmer des Theokrit auf-<lb/>
zuwei&#x017F;en, der, ohne ihn auszu&#x017F;chreiben, oder in &#x017F;eine<lb/>
Fuß&#x017F;tapfen a&#x0364;ng&#x017F;tlich einzutreten, ihm darin gleichet,<lb/>
daß er die &#x017F;cho&#x0364;ne Einfalt der Natur mei&#x017F;terlich ge-<lb/>
&#x017F;childert hat. Es &#x017F;cheint, daß er den Theokrit, der<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t in nichts u&#x0364;bertroffen werden konnte, darin<lb/>
u&#x0364;bertroffen habe, daß er &#x017F;eine Hirten liebenswu&#x0364;rdi-<lb/>
ger macht. Er, Geßner, i&#x017F;t ein eben &#x017F;o glu&#x0364;klicher<lb/>
Mahler der fein&#x017F;ten und naiv&#x017F;ten Empfindungen, und<lb/>
za&#x0364;rtlich&#x017F;ten Affekte, als der &#x017F;anften und lieblichen<lb/>
Scenen der Natur. Sein zarter Ge&#x017F;chmak hat ihn<lb/>
eine Menge kleiner Scho&#x0364;nheiten in der&#x017F;elben entde-<lb/>
ken gemacht, die &#x017F;einen Gema&#x0364;hlden alle Reitze der<lb/>
Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde die<lb/>
allta&#x0364;glich&#x017F;ten &#x017F;ind. Er i&#x017F;t wu&#x0364;rklich in die Scha&#x0364;fer-<lb/>
welt, in das goldne Alter eingedrungen, und &#x017F;eine<lb/>
Jdillen wu&#x0364;rden vielleicht ganz vollkommen &#x017F;eyn, wenn<lb/>
er die Scene der&#x017F;elben nach Me&#x017F;opotamien oder<lb/>
Chalda&#x0364;a ver&#x017F;etzt, und an&#x017F;tatt der ungereimten Viel-<lb/>
go&#x0364;tterey der Griechen, &#x017F;einen Hirten die natu&#x0364;rliche<lb/>
Religion, mit einigem un&#x017F;chuldigen Aberglauben ver-<lb/>
mi&#x017F;cht, gegeben ha&#x0364;tte.</p><lb/>
          <p>Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur<lb/>
und durch &#x017F;olche Mu&#x017F;ter als durch be&#x017F;ondere Regeln<lb/>
gebildet werden. Er muß freylich die Natur die&#x017F;er<lb/>
Art von Gedichte, &#x017F;o wie &#x017F;ie oben von uns angege-<lb/>
ben worden, kennen; aber es wird ihm nichts hel-<lb/>
fen, wenn er &#x017F;chon weiß, daß Jdillen Gema&#x0364;hlde aus<lb/>
der unverdorbnen Natur &#x017F;ind, daß die Sitten und<lb/>
Empfindungen der Hirten von allem gereiniget &#x017F;eyn<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, was bey policierten Vo&#x0364;lkern unter den Na-<lb/>
men der Gebra&#x0364;uche, des Wohl&#x017F;tands, der Polite&#x017F;&#x017F;e<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hir</hi></fw><lb/>
und dergleichen, die freyen Wu&#x0364;rkungen der Na-<lb/>
tur hindert; daß &#x017F;ie von un&#x017F;ern &#x017F;chima&#x0364;ri&#x017F;chen Gu&#x0364;tern<lb/>
nur keine Jdeen haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en; daß &#x017F;ie nichts davon<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich der za&#x0364;rtlichen Empfindungen zu &#x017F;cha&#x0364;men,<lb/>
wodurch der Scho&#x0364;pfer die Men&#x017F;chen unter einander<lb/>
aufs enge&#x017F;te zuverbinden ge&#x017F;ucht hat; mit einem<lb/>
Wort, daß &#x017F;ich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge-<lb/>
wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte<lb/>
Natur ohne alle Kun&#x017F;t, Ver&#x017F;tellung, Zwang oder<lb/>
andre Verderbniß zeigen muß; wenn er &#x017F;chon alle<lb/>
die&#x017F;e Regeln weiß, &#x017F;o wird er doch unfa&#x0364;hig bleiben,<lb/>
&#x017F;eine Vorga&#x0364;nger nur zu erreichen, ge&#x017F;chweige dann<lb/>
zu u&#x0364;bertreffen, wenn ihn nicht &#x017F;ein eigner ungeku&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;telter Charakter, und ein unverdorbner Ge&#x017F;chmak<lb/>
und eine be&#x017F;ondere Za&#x0364;rtlichkeit der Empfindungen die<lb/>
Anlage zu den Gema&#x0364;hlden, die er &#x017F;childern &#x017F;oll, in<lb/>
Sich &#x017F;elb&#x017F;t finden la&#x017F;&#x017F;en.&#x201F;</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Dichtungsart u&#x0364;bertrifft alle andern an an-<lb/>
genehmen und &#x017F;anften Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden. Was in der<lb/>
leblo&#x017F;en, in der thieri&#x017F;chen und &#x017F;ittlichen Natur den<lb/>
mei&#x017F;ten Reitz hat, i&#x017F;t gerade der Gegen&#x017F;tand der<lb/>
Hirtengedichte. Wer glu&#x0364;kliche La&#x0364;nder kennt, wo<lb/>
ein &#x017F;anftes Clima und eine Mannigfaltigkeit von<lb/>
abwech&#x017F;elnden Gegenden, alle Reitze der Natur in<lb/>
vollem Reichthum verbreitet; wo ein freyes, durch<lb/>
unnatu&#x0364;rliche Ge&#x017F;etze nicht verdorbenes Volk, das<lb/>
blos die wenigen Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e der Natur kennt, zer-<lb/>
&#x017F;treut, ein harmlo&#x017F;es und un&#x017F;chuldiges Leben fu&#x0364;hret;<lb/>
der weiß, was fu&#x0364;r Erquikung die Seele genießt, wenn<lb/>
man von Zeit zu Zeit das, durch &#x017F;o manchen Zwang<lb/>
mu&#x0364;he&#x017F;am gewordene, Leben der bu&#x0364;rgerlichen Welt<lb/>
verla&#x017F;&#x017F;en, und einige Tage unter &#x017F;olchen Schu&#x0364;lern der<lb/>
Natur, wie Haller &#x017F;ie nennt, zubringen kann. Jn<lb/>
&#x017F;olche Gegenden und unter ein &#x017F;olches Volk ver&#x017F;etzt<lb/>
uns der Hirtendichter, dadurch ver&#x017F;chaft er uns viel<lb/>
&#x017F;eelige Stunden des &#x017F;anfte&#x017F;ten und un&#x017F;chuldig&#x017F;ten<lb/>
Vergnu&#x0364;gens; er lehret uns Gemu&#x0364;ther kennen, und<lb/>
macht uns mit Sitten bekannt, die uns den Men-<lb/>
&#x017F;chen in der liebenswu&#x0364;rdigen Einfalt der Natur zei-<lb/>
gen. Da lernt man fu&#x0364;hlen, wie wenig zum glu&#x0364;k-<lb/>
lichen Leben no&#x0364;thig i&#x017F;t. Was Roußeau mit &#x017F;einer<lb/>
bezaubernden Bered&#x017F;amkeit nicht ausrichten konnte,<lb/>
die Welt zu u&#x0364;berzeugen, daß der Men&#x017F;ch durch u&#x0364;bel-<lb/>
ausgedachte, unnatu&#x0364;rliche Ge&#x017F;etze, la&#x017F;terhaft und un-<lb/>
glu&#x0364;klich werde, das kann der Hirtendichter uns em-<lb/>
pfinden la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Aber i&#x017F;t es nicht eine Grau&#x017F;amkeit, den Men&#x017F;chen<lb/>
eine Lebensart und eine Glu&#x0364;k&#x017F;eeligkeit, die &#x017F;ie un-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y y y 2</fw><fw place="bottom" type="catch">wie-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[539/0551] Hir Hir wuͤrdig, als ſie ſeyn koͤnnten. Dagegen konnte er, weil er nach einem Original zeichnete, das er vor ſich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Zuͤge, und naiver Wendungen hineinbringen, die einem Dichter, der nur nach Phantaſiebildern arbeitet, entwiſchen muͤſſen. Es hat unter den Reuern ita- liaͤniſchen und franzoͤſiſchen Dichtern viele gegeben, welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht haben: aber entweder thun ſie nichts weiter, als daß ſie den Virgil copieren, der ſelbſt groͤßtentheils ein freyer Ueberſetzer des Theokrit iſt, oder ſie machen ihre Hirten zu ſpitzfuͤndigen Stutzern und ihre Schaͤ- ferinnen zu tiefſinnigen Meiſterinnen in der platoni- ſchen Liebe, oder gar zu Dames du bel Air. Pope hat bey den Englaͤndern in vier Jdillen den Virgil nachgeahmt. Die deutſche Nation hat den erſten wahren und gluͤklichen Nachahmer des Theokrit auf- zuweiſen, der, ohne ihn auszuſchreiben, oder in ſeine Fußſtapfen aͤngſtlich einzutreten, ihm darin gleichet, daß er die ſchoͤne Einfalt der Natur meiſterlich ge- ſchildert hat. Es ſcheint, daß er den Theokrit, der ſonſt in nichts uͤbertroffen werden konnte, darin uͤbertroffen habe, daß er ſeine Hirten liebenswuͤrdi- ger macht. Er, Geßner, iſt ein eben ſo gluͤklicher Mahler der feinſten und naivſten Empfindungen, und zaͤrtlichſten Affekte, als der ſanften und lieblichen Scenen der Natur. Sein zarter Geſchmak hat ihn eine Menge kleiner Schoͤnheiten in derſelben entde- ken gemacht, die ſeinen Gemaͤhlden alle Reitze der Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenſtaͤnde die alltaͤglichſten ſind. Er iſt wuͤrklich in die Schaͤfer- welt, in das goldne Alter eingedrungen, und ſeine Jdillen wuͤrden vielleicht ganz vollkommen ſeyn, wenn er die Scene derſelben nach Meſopotamien oder Chaldaͤa verſetzt, und anſtatt der ungereimten Viel- goͤtterey der Griechen, ſeinen Hirten die natuͤrliche Religion, mit einigem unſchuldigen Aberglauben ver- miſcht, gegeben haͤtte. Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur und durch ſolche Muſter als durch beſondere Regeln gebildet werden. Er muß freylich die Natur dieſer Art von Gedichte, ſo wie ſie oben von uns angege- ben worden, kennen; aber es wird ihm nichts hel- fen, wenn er ſchon weiß, daß Jdillen Gemaͤhlde aus der unverdorbnen Natur ſind, daß die Sitten und Empfindungen der Hirten von allem gereiniget ſeyn muͤſſen, was bey policierten Voͤlkern unter den Na- men der Gebraͤuche, des Wohlſtands, der Politeſſe und dergleichen, die freyen Wuͤrkungen der Na- tur hindert; daß ſie von unſern ſchimaͤriſchen Guͤtern nur keine Jdeen haben muͤſſen; daß ſie nichts davon wiſſen ſich der zaͤrtlichen Empfindungen zu ſchaͤmen, wodurch der Schoͤpfer die Menſchen unter einander aufs engeſte zuverbinden geſucht hat; mit einem Wort, daß ſich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge- wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte Natur ohne alle Kunſt, Verſtellung, Zwang oder andre Verderbniß zeigen muß; wenn er ſchon alle dieſe Regeln weiß, ſo wird er doch unfaͤhig bleiben, ſeine Vorgaͤnger nur zu erreichen, geſchweige dann zu uͤbertreffen, wenn ihn nicht ſein eigner ungekuͤn- ſtelter Charakter, und ein unverdorbner Geſchmak und eine beſondere Zaͤrtlichkeit der Empfindungen die Anlage zu den Gemaͤhlden, die er ſchildern ſoll, in Sich ſelbſt finden laſſen.‟ Dieſe Dichtungsart uͤbertrifft alle andern an an- genehmen und ſanften Gegenſtaͤnden. Was in der lebloſen, in der thieriſchen und ſittlichen Natur den meiſten Reitz hat, iſt gerade der Gegenſtand der Hirtengedichte. Wer gluͤkliche Laͤnder kennt, wo ein ſanftes Clima und eine Mannigfaltigkeit von abwechſelnden Gegenden, alle Reitze der Natur in vollem Reichthum verbreitet; wo ein freyes, durch unnatuͤrliche Geſetze nicht verdorbenes Volk, das blos die wenigen Beduͤrfniſſe der Natur kennt, zer- ſtreut, ein harmloſes und unſchuldiges Leben fuͤhret; der weiß, was fuͤr Erquikung die Seele genießt, wenn man von Zeit zu Zeit das, durch ſo manchen Zwang muͤheſam gewordene, Leben der buͤrgerlichen Welt verlaſſen, und einige Tage unter ſolchen Schuͤlern der Natur, wie Haller ſie nennt, zubringen kann. Jn ſolche Gegenden und unter ein ſolches Volk verſetzt uns der Hirtendichter, dadurch verſchaft er uns viel ſeelige Stunden des ſanfteſten und unſchuldigſten Vergnuͤgens; er lehret uns Gemuͤther kennen, und macht uns mit Sitten bekannt, die uns den Men- ſchen in der liebenswuͤrdigen Einfalt der Natur zei- gen. Da lernt man fuͤhlen, wie wenig zum gluͤk- lichen Leben noͤthig iſt. Was Roußeau mit ſeiner bezaubernden Beredſamkeit nicht ausrichten konnte, die Welt zu uͤberzeugen, daß der Menſch durch uͤbel- ausgedachte, unnatuͤrliche Geſetze, laſterhaft und un- gluͤklich werde, das kann der Hirtendichter uns em- pfinden laſſen. Aber iſt es nicht eine Grauſamkeit, den Menſchen eine Lebensart und eine Gluͤkſeeligkeit, die ſie un- wie- Y y y 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/551
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/551>, abgerufen am 24.04.2024.