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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hir
wiederbringlich verlohren haben, wieder kennen zu
lehren? Nein. Der Unglükliche hält es nicht für
ein Unglük, wenigstens angenehme Träume zu ha-
ben. Und dann ist das Urtheil der Verdammniß
vielleicht noch nicht so unwiederruflich, wenigstens
nicht über alle einzele Menschen ausgesprochen.
Vielleicht daß auch die sanften Eindrüke der Hirten-
poesie überhaupt manches nur durch Vorurtheile
verwilderte Gemüth wieder zubesänftigen vermögen.

Es gehört aber sehr viel dazu, in dieser Dich-
tungsart glüklich zu seyn. Man muß nicht nur,
wie Theokrit oder Geßner, in einem mit allen
Schönheiten der Natur geschmükten Lande leben,
und ein glükliches Volk kennen; man muß eine Seele
haben, die die harte Schaale, den Schorff der bürgerli-
chen Vorurtheile, abgeworfen hat, und die Natur in
ihrer einfachen Schönheit zu empfinden weiß; man
muß ein feines zärtliches Gefühl haben, um schon da
gerührt zu werden, wo gröbere, oder schon verhärtete
Seelen, die nur erschütternde Eindrüke fühlen, nichts
empfinden. Man muß ein an liebliche Töne ge-
wöhntes Ohr haben, das in den Liedern den leichten
und sanften Ton der Schäferflöte zu treffen wisse.

Es ist wahrscheinlich, daß die Hirtenlieder die
erste Frucht des poetischen Genies gewesen sind.
Jedes glükliche und empfindsame Hirtenvolk mag
dergleichen Liederdichter unter sich gehabt haben:
Aber Sicilien ist allem Ansehen nach das Land, in
welchem die rohen Hirtenlieder zuerst durch Geschmak
und Kunst zur Vollkommenheit gekommen sind.
Die meisten griechischen Jdyllendichter, deren Na-
men oder Lieder auf uns gekommen sind, waren
Einwohner dieser ehemals so glüklichen Jnsel; dar-
um schreibt Virgil diese Dichtungsart den siciliani-
schen Musen zu.

(*) Bucol.
IV.
1.
Sicelides Musae paulo majora canamus. (*)

Theokritus aus Syrakusa steht unter den Dichtern
dieser Gattung oben an, wie Homer unter den epi-
schen. Seine Jdyllen sind von unnachahmlicher
Anmuthigkeit; und bey dem Lesen derselben finden
wir uns in das glükseeligste Clima, in die reizend-
sten Gegenden des Erdbodens und unter ein Volk
versetzt, dessen liebenswürdige Einfalt und sorgelo-
ses Leben den Wunsch erwekt, unter ihm zu wohnen.
Selbst Virgil, der so empfindsame und so anmuths-
[Spaltenumbruch]

His
volle Dichter, ist in einer großen Entfernung hin-
ter ihm zurüke geblieben. Aber noch sehr weit hin-
ter Virgil die meisten Neuern bleiben. [Spaltenumbruch] (+) Un-
ser Geßner übertrifft diese, so wie Theokrit die Al-
ten übertroffen hat.

Historie.
(Historisches Gemähld.)

Jn dem weitläuftigsten Sinn bekommt jedes Ge-
mählde den Namen des historischen Gemähldes, wenn
handelnde Personen den Hauptinhalt desselben aus-
machen. Es unterscheidet sich von dem Portrait,
von der Landschaft, von dem Blumenstük und allen
andern Gatttungen dadurch, daß es die Schilde-
rung handelnder, oder auch nur in gewissen be-
stimmten Empfindungen begriffener Menschen zur
Absicht hat. Jn so fern werden die Vorstellun-
gen aus der Mythologie, das allegorische Gemähld,
die Schlachten, die Gesellschaftsgemählde, wenn
sie gleich aus Portraiten bestehen, ingleichem einzele
Bilder, wo nur eine einzige Person in Handlung,
oder in einer bestimmten Gemüthslage vorgestellt
wird, wie eine bußfertige Magdalene und derglei-
chen, zu der historischen Classe gerechnet.

Diese Gattung unterscheidet sich von allen andern
dadurch, daß sie denkende Wesen in Handlungen,
in Leidenschaften und überhaupt in sittlichen oder
leidenschaftlichen Umständen abbildet, in der Absicht
uns sowol das äußerliche Betragen, als die Empfin-
dungen der Seele dabey, lebhaft zu schildern. Denn
dieses ist hier die Hauptsache. Der Historienmahler
ist der Mahler des menschlichen Gemüthes, seiner
Empfindungen und seiner Leidenschaften. Wenn
das historische Gemähld nichts, als die eigentlichen
Vollkommenheiten der Kunst hätte, vollkommene
Anordnung, die richtigste Zeichnung, das schönste
Colorit, so wär es darum doch, als Historie betrach-
tet, ein schlechtes Stük, weil es seinem Endzwek nicht
entsprechen würde. Es könnte in dem Cabinet eines
Mahlers oder Kenners, als ein Muster gewisser
Theile der Kunst aufbehalten, aber zu keinem höhern
Gebrauch aufgestellt werden. Soll es, als Historie,
gut seyn, so muß es nicht blos das Aug, sondern
den Geist und die Empfindung reitzen; es muß dem
empfindsamen Menschen Gedanken und Empfindun-

gen
(+) Man sehe einige Vergleichungen zwischen Alten
und Neuern in den neuen critischen Briefen, die 1749
[Spaltenumbruch] in Zürich herausgekommen in dem XXXVI und einigen
folgenden Briefen.

[Spaltenumbruch]

Hir
wiederbringlich verlohren haben, wieder kennen zu
lehren? Nein. Der Ungluͤkliche haͤlt es nicht fuͤr
ein Ungluͤk, wenigſtens angenehme Traͤume zu ha-
ben. Und dann iſt das Urtheil der Verdammniß
vielleicht noch nicht ſo unwiederruflich, wenigſtens
nicht uͤber alle einzele Menſchen ausgeſprochen.
Vielleicht daß auch die ſanften Eindruͤke der Hirten-
poeſie uͤberhaupt manches nur durch Vorurtheile
verwilderte Gemuͤth wieder zubeſaͤnftigen vermoͤgen.

Es gehoͤrt aber ſehr viel dazu, in dieſer Dich-
tungsart gluͤklich zu ſeyn. Man muß nicht nur,
wie Theokrit oder Geßner, in einem mit allen
Schoͤnheiten der Natur geſchmuͤkten Lande leben,
und ein gluͤkliches Volk kennen; man muß eine Seele
haben, die die harte Schaale, den Schorff der buͤrgerli-
chen Vorurtheile, abgeworfen hat, und die Natur in
ihrer einfachen Schoͤnheit zu empfinden weiß; man
muß ein feines zaͤrtliches Gefuͤhl haben, um ſchon da
geruͤhrt zu werden, wo groͤbere, oder ſchon verhaͤrtete
Seelen, die nur erſchuͤtternde Eindruͤke fuͤhlen, nichts
empfinden. Man muß ein an liebliche Toͤne ge-
woͤhntes Ohr haben, das in den Liedern den leichten
und ſanften Ton der Schaͤferfloͤte zu treffen wiſſe.

Es iſt wahrſcheinlich, daß die Hirtenlieder die
erſte Frucht des poetiſchen Genies geweſen ſind.
Jedes gluͤkliche und empfindſame Hirtenvolk mag
dergleichen Liederdichter unter ſich gehabt haben:
Aber Sicilien iſt allem Anſehen nach das Land, in
welchem die rohen Hirtenlieder zuerſt durch Geſchmak
und Kunſt zur Vollkommenheit gekommen ſind.
Die meiſten griechiſchen Jdyllendichter, deren Na-
men oder Lieder auf uns gekommen ſind, waren
Einwohner dieſer ehemals ſo gluͤklichen Jnſel; dar-
um ſchreibt Virgil dieſe Dichtungsart den ſiciliani-
ſchen Muſen zu.

(*) Bucol.
IV.
1.
Sicelides Muſæ paulo majora canamus. (*)

Theokritus aus Syrakuſa ſteht unter den Dichtern
dieſer Gattung oben an, wie Homer unter den epi-
ſchen. Seine Jdyllen ſind von unnachahmlicher
Anmuthigkeit; und bey dem Leſen derſelben finden
wir uns in das gluͤkſeeligſte Clima, in die reizend-
ſten Gegenden des Erdbodens und unter ein Volk
verſetzt, deſſen liebenswuͤrdige Einfalt und ſorgelo-
ſes Leben den Wunſch erwekt, unter ihm zu wohnen.
Selbſt Virgil, der ſo empfindſame und ſo anmuths-
[Spaltenumbruch]

Hiſ
volle Dichter, iſt in einer großen Entfernung hin-
ter ihm zuruͤke geblieben. Aber noch ſehr weit hin-
ter Virgil die meiſten Neuern bleiben. [Spaltenumbruch] (†) Un-
ſer Geßner uͤbertrifft dieſe, ſo wie Theokrit die Al-
ten uͤbertroffen hat.

Hiſtorie.
(Hiſtoriſches Gemaͤhld.)

Jn dem weitlaͤuftigſten Sinn bekommt jedes Ge-
maͤhlde den Namen des hiſtoriſchen Gemaͤhldes, wenn
handelnde Perſonen den Hauptinhalt deſſelben aus-
machen. Es unterſcheidet ſich von dem Portrait,
von der Landſchaft, von dem Blumenſtuͤk und allen
andern Gatttungen dadurch, daß es die Schilde-
rung handelnder, oder auch nur in gewiſſen be-
ſtimmten Empfindungen begriffener Menſchen zur
Abſicht hat. Jn ſo fern werden die Vorſtellun-
gen aus der Mythologie, das allegoriſche Gemaͤhld,
die Schlachten, die Geſellſchaftsgemaͤhlde, wenn
ſie gleich aus Portraiten beſtehen, ingleichem einzele
Bilder, wo nur eine einzige Perſon in Handlung,
oder in einer beſtimmten Gemuͤthslage vorgeſtellt
wird, wie eine bußfertige Magdalene und derglei-
chen, zu der hiſtoriſchen Claſſe gerechnet.

Dieſe Gattung unterſcheidet ſich von allen andern
dadurch, daß ſie denkende Weſen in Handlungen,
in Leidenſchaften und uͤberhaupt in ſittlichen oder
leidenſchaftlichen Umſtaͤnden abbildet, in der Abſicht
uns ſowol das aͤußerliche Betragen, als die Empfin-
dungen der Seele dabey, lebhaft zu ſchildern. Denn
dieſes iſt hier die Hauptſache. Der Hiſtorienmahler
iſt der Mahler des menſchlichen Gemuͤthes, ſeiner
Empfindungen und ſeiner Leidenſchaften. Wenn
das hiſtoriſche Gemaͤhld nichts, als die eigentlichen
Vollkommenheiten der Kunſt haͤtte, vollkommene
Anordnung, die richtigſte Zeichnung, das ſchoͤnſte
Colorit, ſo waͤr es darum doch, als Hiſtorie betrach-
tet, ein ſchlechtes Stuͤk, weil es ſeinem Endzwek nicht
entſprechen wuͤrde. Es koͤnnte in dem Cabinet eines
Mahlers oder Kenners, als ein Muſter gewiſſer
Theile der Kunſt aufbehalten, aber zu keinem hoͤhern
Gebrauch aufgeſtellt werden. Soll es, als Hiſtorie,
gut ſeyn, ſo muß es nicht blos das Aug, ſondern
den Geiſt und die Empfindung reitzen; es muß dem
empfindſamen Menſchen Gedanken und Empfindun-

gen
(†) Man ſehe einige Vergleichungen zwiſchen Alten
und Neuern in den neuen critiſchen Briefen, die 1749
[Spaltenumbruch] in Zuͤrich herausgekommen in dem XXXVI und einigen
folgenden Briefen.
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[540/0552] Hir Hiſ wiederbringlich verlohren haben, wieder kennen zu lehren? Nein. Der Ungluͤkliche haͤlt es nicht fuͤr ein Ungluͤk, wenigſtens angenehme Traͤume zu ha- ben. Und dann iſt das Urtheil der Verdammniß vielleicht noch nicht ſo unwiederruflich, wenigſtens nicht uͤber alle einzele Menſchen ausgeſprochen. Vielleicht daß auch die ſanften Eindruͤke der Hirten- poeſie uͤberhaupt manches nur durch Vorurtheile verwilderte Gemuͤth wieder zubeſaͤnftigen vermoͤgen. Es gehoͤrt aber ſehr viel dazu, in dieſer Dich- tungsart gluͤklich zu ſeyn. Man muß nicht nur, wie Theokrit oder Geßner, in einem mit allen Schoͤnheiten der Natur geſchmuͤkten Lande leben, und ein gluͤkliches Volk kennen; man muß eine Seele haben, die die harte Schaale, den Schorff der buͤrgerli- chen Vorurtheile, abgeworfen hat, und die Natur in ihrer einfachen Schoͤnheit zu empfinden weiß; man muß ein feines zaͤrtliches Gefuͤhl haben, um ſchon da geruͤhrt zu werden, wo groͤbere, oder ſchon verhaͤrtete Seelen, die nur erſchuͤtternde Eindruͤke fuͤhlen, nichts empfinden. Man muß ein an liebliche Toͤne ge- woͤhntes Ohr haben, das in den Liedern den leichten und ſanften Ton der Schaͤferfloͤte zu treffen wiſſe. Es iſt wahrſcheinlich, daß die Hirtenlieder die erſte Frucht des poetiſchen Genies geweſen ſind. Jedes gluͤkliche und empfindſame Hirtenvolk mag dergleichen Liederdichter unter ſich gehabt haben: Aber Sicilien iſt allem Anſehen nach das Land, in welchem die rohen Hirtenlieder zuerſt durch Geſchmak und Kunſt zur Vollkommenheit gekommen ſind. Die meiſten griechiſchen Jdyllendichter, deren Na- men oder Lieder auf uns gekommen ſind, waren Einwohner dieſer ehemals ſo gluͤklichen Jnſel; dar- um ſchreibt Virgil dieſe Dichtungsart den ſiciliani- ſchen Muſen zu. Sicelides Muſæ paulo majora canamus. (*) Theokritus aus Syrakuſa ſteht unter den Dichtern dieſer Gattung oben an, wie Homer unter den epi- ſchen. Seine Jdyllen ſind von unnachahmlicher Anmuthigkeit; und bey dem Leſen derſelben finden wir uns in das gluͤkſeeligſte Clima, in die reizend- ſten Gegenden des Erdbodens und unter ein Volk verſetzt, deſſen liebenswuͤrdige Einfalt und ſorgelo- ſes Leben den Wunſch erwekt, unter ihm zu wohnen. Selbſt Virgil, der ſo empfindſame und ſo anmuths- volle Dichter, iſt in einer großen Entfernung hin- ter ihm zuruͤke geblieben. Aber noch ſehr weit hin- ter Virgil die meiſten Neuern bleiben. (†) Un- ſer Geßner uͤbertrifft dieſe, ſo wie Theokrit die Al- ten uͤbertroffen hat. Hiſtorie. (Hiſtoriſches Gemaͤhld.) Jn dem weitlaͤuftigſten Sinn bekommt jedes Ge- maͤhlde den Namen des hiſtoriſchen Gemaͤhldes, wenn handelnde Perſonen den Hauptinhalt deſſelben aus- machen. Es unterſcheidet ſich von dem Portrait, von der Landſchaft, von dem Blumenſtuͤk und allen andern Gatttungen dadurch, daß es die Schilde- rung handelnder, oder auch nur in gewiſſen be- ſtimmten Empfindungen begriffener Menſchen zur Abſicht hat. Jn ſo fern werden die Vorſtellun- gen aus der Mythologie, das allegoriſche Gemaͤhld, die Schlachten, die Geſellſchaftsgemaͤhlde, wenn ſie gleich aus Portraiten beſtehen, ingleichem einzele Bilder, wo nur eine einzige Perſon in Handlung, oder in einer beſtimmten Gemuͤthslage vorgeſtellt wird, wie eine bußfertige Magdalene und derglei- chen, zu der hiſtoriſchen Claſſe gerechnet. Dieſe Gattung unterſcheidet ſich von allen andern dadurch, daß ſie denkende Weſen in Handlungen, in Leidenſchaften und uͤberhaupt in ſittlichen oder leidenſchaftlichen Umſtaͤnden abbildet, in der Abſicht uns ſowol das aͤußerliche Betragen, als die Empfin- dungen der Seele dabey, lebhaft zu ſchildern. Denn dieſes iſt hier die Hauptſache. Der Hiſtorienmahler iſt der Mahler des menſchlichen Gemuͤthes, ſeiner Empfindungen und ſeiner Leidenſchaften. Wenn das hiſtoriſche Gemaͤhld nichts, als die eigentlichen Vollkommenheiten der Kunſt haͤtte, vollkommene Anordnung, die richtigſte Zeichnung, das ſchoͤnſte Colorit, ſo waͤr es darum doch, als Hiſtorie betrach- tet, ein ſchlechtes Stuͤk, weil es ſeinem Endzwek nicht entſprechen wuͤrde. Es koͤnnte in dem Cabinet eines Mahlers oder Kenners, als ein Muſter gewiſſer Theile der Kunſt aufbehalten, aber zu keinem hoͤhern Gebrauch aufgeſtellt werden. Soll es, als Hiſtorie, gut ſeyn, ſo muß es nicht blos das Aug, ſondern den Geiſt und die Empfindung reitzen; es muß dem empfindſamen Menſchen Gedanken und Empfindun- gen (†) Man ſehe einige Vergleichungen zwiſchen Alten und Neuern in den neuen critiſchen Briefen, die 1749 in Zuͤrich herausgekommen in dem XXXVI und einigen folgenden Briefen.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/552>, abgerufen am 29.03.2024.