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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hir
dürfnisse der Natur, keine Güter, als ihre Gaben, und
was zum Zeitvertreib ihres müßigen Lebens dienet.
Jhre Hauptleidenschaft ist Liede, aber eine Liebe
ohne Zwang, ohne Verstellung, und ohne platonische
Veredlung. Jhre Künste sind Leibesübungen, Ge-
sang und Tanz. Jhr Reichthum ist schönes und
fruchtbares Vieh; ihre Geräthschaft ein Hirtenstab,
eine Flöte und ein Becher. Also sind die Hirten-
lieder Gemählde aus der noch ungekünstelten sittli-
chen Natur, und desto reizender, weil sie uns den
Menschen in der liebenswürdigen Einfalt einer na-
türlichen Sinnesart vorstellen.

Es giebt eine Gattung der Hirtenlieder, die ganz
allegorisch ist. Der Dichter, der von sich selbst, von
seinen Angelegenheiten, von seinem Schiksal zu spre-
chen hat, nihmt die Person eines Hirten an, und sucht
in dem Hirtenstand die Bilder auf, die durch Aehn-
lichkeit dasjenige mahlen, was er ausdrüken will;
so wie der Fabeldichter in der thierischen Welt die
Bilder der sittlichen Handlungen sucht. Dieses giebt
ihm die Bequämlichkeit von sich selbst, von seinen
Freunden, Wohlthätern, und von seinen Feinden,
auf eine feine Art zu sprechen, Lob und Tadel auf
eine verdekte und darum nachdrüklichere Weise aus-
zutheilen. Fürtreffliche Beyspiele dieser Art ha-
ben wir an einigen Eklogen des Virgils, fürnehm-
lich an der ersten und zehnten; an den Jdillen der
Frau des-Houlieres, die man nicht ohne innigste
Rührung lesen kann. Diese Gattung kann sich bis
zum erhabensten Jnhalt empor schwingen, wie wir
an Popens Messias sehen. Dieses scheinet die fei-
neste Gattung der Allegorie zu seyn.

Da Einer unsrer berühmtesten und größten Dich-
ter mir vor etlichen Jahren seine Gedanken über die
Jdille zugeschikt hat, so will ich sie mit seiner Er-
laubnis hier ganz einrüken.

"Die Muse hat zu allen Zeiten die ländlichen
Scenen und das kunstlose freye und anmuthige Land-
leben geliebt. Vermuthlich hat eben diese glükliche
Lebensart der ältesten Menschen der Poesie den Ur-
sprung gegeben. Die schöne Natur mit allen ihren
lieblichen Abwechslungen und die Freyheit, die uns
in den ungestörten Genuß ihrer Gaben setzt, flößen
dem Menschen eine Fröhlichkeit ein, die manchmal
zu einem so hohen Grad steigt, daß sie seine ganze
Seele begeistert, seine Einbildungskraft erhitzt, und
alle seine Gliedmaaßen mit reger Munterkeit durch-
dringet. Jn diesem süßen Taumel angenehmer Em-
[Spaltenumbruch]

Hir
pfindungen ergießt sich unsre Stimme von sich selbst
in ungelehrte Töne, die unsre Freude ausdrüken und
auch auf andre eine sympathetische Würkung thun.
Dieses war ohne Zweifel der erste Ursprung des Ge-
sangs, welcher dann bald auch die Dichtkunst her-
vorbrachte, die anfangs nur in kunstlosen Liedern
bestand, worin die Menschen die Rührungen aus-
drukten, welche die Natur, die Freyheit und die Liebe,
die Quellen ihrer Glükseeligkeit, in ihnen hervor-
brachten. Der Wetteifer mußte diese Erfindungen
der Natur, schnell zu immer höhern Graden der Voll-
kommenheit forttreiben. Was anfangs regellose
Versuche, oder vielmehr Würkungen des Jnstinks
waren, wurde nach und nach zur Kunst; man fieng
an, über den Ausdruk der Empfindungen zu raffi-
niren, die Gemählde der schönen Gegenstände, wo-
von man gerührt war, besser auszubilden, den ge-
heimern Schönheiten derselben nachzuspühren, und
die Worte auf eine wolklingende Art zusammen zu
ordnen. Die aufgewekten Köpfe, welche die Natur
mit dem poetischen Geist vorzüglich begabet hatte,
übertrafen in kurzen die übrigen so weit, daß man
sie für besondere göttlich begeisterte Leute hielt, de-
nen es allein zukomme, Lieder und Gedichte zu ma-
chen, welche an Festtagen und bey allerley freudigen
Anläßen gesungen werden könnten. So entstanden
die Sänger und Dichter in diesem einfältigen Zeit-
alter, und ihre Gesänge waren die wahren ur-
sprünglichen Jdillen,
von denen nichts auf uns ge-
kommen ist, entweder weil die Schreibkunst viel
später erfunden worden, als die Sing- und Dichtkunst,
oder weil die kriegerischen eisernen Zeiten, welche
dieses goldne Weltalter verdrungen haben, auch diese
anmuthigen Früchte desselben verderbet haben. Was
wir Jdillen heißen, sind blos Nachahmungen jener
ursprünglichen Waldgesänge, welche die Natur selbst
ihren Kindern eingab. Theokrit hat unter den Grie-
chen diese nachgeahmten Jdillen zu einer großen
Vollkommenheit gebracht. Er fand in seinem Zeit-
alter noch viele Ueberbleibsel der nicht gefabelten
goldnen Zeit; die Lebensart der Landleute war freyer,
glüklicher und angesehener, als sie heut zu Tage ist.
Er scheint deswegen seine reizenden Gemählde viel-
mehr aus der würklichen Natur, so wie er sie vor
Augen hatte, als der Schäferwelt, oder dem goldnen
Alter, welches seine eigne Phantasie hätte erschaffen
müssen, hergenommen zu haben; und eben deswe-
gen sind seine Hirten nicht so unschuldig und liebens-

wür-

[Spaltenumbruch]

Hir
duͤrfniſſe der Natur, keine Guͤter, als ihre Gaben, und
was zum Zeitvertreib ihres muͤßigen Lebens dienet.
Jhre Hauptleidenſchaft iſt Liede, aber eine Liebe
ohne Zwang, ohne Verſtellung, und ohne platoniſche
Veredlung. Jhre Kuͤnſte ſind Leibesuͤbungen, Ge-
ſang und Tanz. Jhr Reichthum iſt ſchoͤnes und
fruchtbares Vieh; ihre Geraͤthſchaft ein Hirtenſtab,
eine Floͤte und ein Becher. Alſo ſind die Hirten-
lieder Gemaͤhlde aus der noch ungekuͤnſtelten ſittli-
chen Natur, und deſto reizender, weil ſie uns den
Menſchen in der liebenswuͤrdigen Einfalt einer na-
tuͤrlichen Sinnesart vorſtellen.

Es giebt eine Gattung der Hirtenlieder, die ganz
allegoriſch iſt. Der Dichter, der von ſich ſelbſt, von
ſeinen Angelegenheiten, von ſeinem Schikſal zu ſpre-
chen hat, nihmt die Perſon eines Hirten an, und ſucht
in dem Hirtenſtand die Bilder auf, die durch Aehn-
lichkeit dasjenige mahlen, was er ausdruͤken will;
ſo wie der Fabeldichter in der thieriſchen Welt die
Bilder der ſittlichen Handlungen ſucht. Dieſes giebt
ihm die Bequaͤmlichkeit von ſich ſelbſt, von ſeinen
Freunden, Wohlthaͤtern, und von ſeinen Feinden,
auf eine feine Art zu ſprechen, Lob und Tadel auf
eine verdekte und darum nachdruͤklichere Weiſe aus-
zutheilen. Fuͤrtreffliche Beyſpiele dieſer Art ha-
ben wir an einigen Eklogen des Virgils, fuͤrnehm-
lich an der erſten und zehnten; an den Jdillen der
Frau des-Houlieres, die man nicht ohne innigſte
Ruͤhrung leſen kann. Dieſe Gattung kann ſich bis
zum erhabenſten Jnhalt empor ſchwingen, wie wir
an Popens Meſſias ſehen. Dieſes ſcheinet die fei-
neſte Gattung der Allegorie zu ſeyn.

Da Einer unſrer beruͤhmteſten und groͤßten Dich-
ter mir vor etlichen Jahren ſeine Gedanken uͤber die
Jdille zugeſchikt hat, ſo will ich ſie mit ſeiner Er-
laubnis hier ganz einruͤken.

„Die Muſe hat zu allen Zeiten die laͤndlichen
Scenen und das kunſtloſe freye und anmuthige Land-
leben geliebt. Vermuthlich hat eben dieſe gluͤkliche
Lebensart der aͤlteſten Menſchen der Poeſie den Ur-
ſprung gegeben. Die ſchoͤne Natur mit allen ihren
lieblichen Abwechslungen und die Freyheit, die uns
in den ungeſtoͤrten Genuß ihrer Gaben ſetzt, floͤßen
dem Menſchen eine Froͤhlichkeit ein, die manchmal
zu einem ſo hohen Grad ſteigt, daß ſie ſeine ganze
Seele begeiſtert, ſeine Einbildungskraft erhitzt, und
alle ſeine Gliedmaaßen mit reger Munterkeit durch-
dringet. Jn dieſem ſuͤßen Taumel angenehmer Em-
[Spaltenumbruch]

Hir
pfindungen ergießt ſich unſre Stimme von ſich ſelbſt
in ungelehrte Toͤne, die unſre Freude ausdruͤken und
auch auf andre eine ſympathetiſche Wuͤrkung thun.
Dieſes war ohne Zweifel der erſte Urſprung des Ge-
ſangs, welcher dann bald auch die Dichtkunſt her-
vorbrachte, die anfangs nur in kunſtloſen Liedern
beſtand, worin die Menſchen die Ruͤhrungen aus-
drukten, welche die Natur, die Freyheit und die Liebe,
die Quellen ihrer Gluͤkſeeligkeit, in ihnen hervor-
brachten. Der Wetteifer mußte dieſe Erfindungen
der Natur, ſchnell zu immer hoͤhern Graden der Voll-
kommenheit forttreiben. Was anfangs regelloſe
Verſuche, oder vielmehr Wuͤrkungen des Jnſtinks
waren, wurde nach und nach zur Kunſt; man fieng
an, uͤber den Ausdruk der Empfindungen zu raffi-
niren, die Gemaͤhlde der ſchoͤnen Gegenſtaͤnde, wo-
von man geruͤhrt war, beſſer auszubilden, den ge-
heimern Schoͤnheiten derſelben nachzuſpuͤhren, und
die Worte auf eine wolklingende Art zuſammen zu
ordnen. Die aufgewekten Koͤpfe, welche die Natur
mit dem poetiſchen Geiſt vorzuͤglich begabet hatte,
uͤbertrafen in kurzen die uͤbrigen ſo weit, daß man
ſie fuͤr beſondere goͤttlich begeiſterte Leute hielt, de-
nen es allein zukomme, Lieder und Gedichte zu ma-
chen, welche an Feſttagen und bey allerley freudigen
Anlaͤßen geſungen werden koͤnnten. So entſtanden
die Saͤnger und Dichter in dieſem einfaͤltigen Zeit-
alter, und ihre Geſaͤnge waren die wahren ur-
ſpruͤnglichen Jdillen,
von denen nichts auf uns ge-
kommen iſt, entweder weil die Schreibkunſt viel
ſpaͤter erfunden worden, als die Sing- und Dichtkunſt,
oder weil die kriegeriſchen eiſernen Zeiten, welche
dieſes goldne Weltalter verdrungen haben, auch dieſe
anmuthigen Fruͤchte deſſelben verderbet haben. Was
wir Jdillen heißen, ſind blos Nachahmungen jener
urſpruͤnglichen Waldgeſaͤnge, welche die Natur ſelbſt
ihren Kindern eingab. Theokrit hat unter den Grie-
chen dieſe nachgeahmten Jdillen zu einer großen
Vollkommenheit gebracht. Er fand in ſeinem Zeit-
alter noch viele Ueberbleibſel der nicht gefabelten
goldnen Zeit; die Lebensart der Landleute war freyer,
gluͤklicher und angeſehener, als ſie heut zu Tage iſt.
Er ſcheint deswegen ſeine reizenden Gemaͤhlde viel-
mehr aus der wuͤrklichen Natur, ſo wie er ſie vor
Augen hatte, als der Schaͤferwelt, oder dem goldnen
Alter, welches ſeine eigne Phantaſie haͤtte erſchaffen
muͤſſen, hergenommen zu haben; und eben deswe-
gen ſind ſeine Hirten nicht ſo unſchuldig und liebens-

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[538/0550] Hir Hir duͤrfniſſe der Natur, keine Guͤter, als ihre Gaben, und was zum Zeitvertreib ihres muͤßigen Lebens dienet. Jhre Hauptleidenſchaft iſt Liede, aber eine Liebe ohne Zwang, ohne Verſtellung, und ohne platoniſche Veredlung. Jhre Kuͤnſte ſind Leibesuͤbungen, Ge- ſang und Tanz. Jhr Reichthum iſt ſchoͤnes und fruchtbares Vieh; ihre Geraͤthſchaft ein Hirtenſtab, eine Floͤte und ein Becher. Alſo ſind die Hirten- lieder Gemaͤhlde aus der noch ungekuͤnſtelten ſittli- chen Natur, und deſto reizender, weil ſie uns den Menſchen in der liebenswuͤrdigen Einfalt einer na- tuͤrlichen Sinnesart vorſtellen. Es giebt eine Gattung der Hirtenlieder, die ganz allegoriſch iſt. Der Dichter, der von ſich ſelbſt, von ſeinen Angelegenheiten, von ſeinem Schikſal zu ſpre- chen hat, nihmt die Perſon eines Hirten an, und ſucht in dem Hirtenſtand die Bilder auf, die durch Aehn- lichkeit dasjenige mahlen, was er ausdruͤken will; ſo wie der Fabeldichter in der thieriſchen Welt die Bilder der ſittlichen Handlungen ſucht. Dieſes giebt ihm die Bequaͤmlichkeit von ſich ſelbſt, von ſeinen Freunden, Wohlthaͤtern, und von ſeinen Feinden, auf eine feine Art zu ſprechen, Lob und Tadel auf eine verdekte und darum nachdruͤklichere Weiſe aus- zutheilen. Fuͤrtreffliche Beyſpiele dieſer Art ha- ben wir an einigen Eklogen des Virgils, fuͤrnehm- lich an der erſten und zehnten; an den Jdillen der Frau des-Houlieres, die man nicht ohne innigſte Ruͤhrung leſen kann. Dieſe Gattung kann ſich bis zum erhabenſten Jnhalt empor ſchwingen, wie wir an Popens Meſſias ſehen. Dieſes ſcheinet die fei- neſte Gattung der Allegorie zu ſeyn. Da Einer unſrer beruͤhmteſten und groͤßten Dich- ter mir vor etlichen Jahren ſeine Gedanken uͤber die Jdille zugeſchikt hat, ſo will ich ſie mit ſeiner Er- laubnis hier ganz einruͤken. „Die Muſe hat zu allen Zeiten die laͤndlichen Scenen und das kunſtloſe freye und anmuthige Land- leben geliebt. Vermuthlich hat eben dieſe gluͤkliche Lebensart der aͤlteſten Menſchen der Poeſie den Ur- ſprung gegeben. Die ſchoͤne Natur mit allen ihren lieblichen Abwechslungen und die Freyheit, die uns in den ungeſtoͤrten Genuß ihrer Gaben ſetzt, floͤßen dem Menſchen eine Froͤhlichkeit ein, die manchmal zu einem ſo hohen Grad ſteigt, daß ſie ſeine ganze Seele begeiſtert, ſeine Einbildungskraft erhitzt, und alle ſeine Gliedmaaßen mit reger Munterkeit durch- dringet. Jn dieſem ſuͤßen Taumel angenehmer Em- pfindungen ergießt ſich unſre Stimme von ſich ſelbſt in ungelehrte Toͤne, die unſre Freude ausdruͤken und auch auf andre eine ſympathetiſche Wuͤrkung thun. Dieſes war ohne Zweifel der erſte Urſprung des Ge- ſangs, welcher dann bald auch die Dichtkunſt her- vorbrachte, die anfangs nur in kunſtloſen Liedern beſtand, worin die Menſchen die Ruͤhrungen aus- drukten, welche die Natur, die Freyheit und die Liebe, die Quellen ihrer Gluͤkſeeligkeit, in ihnen hervor- brachten. Der Wetteifer mußte dieſe Erfindungen der Natur, ſchnell zu immer hoͤhern Graden der Voll- kommenheit forttreiben. Was anfangs regelloſe Verſuche, oder vielmehr Wuͤrkungen des Jnſtinks waren, wurde nach und nach zur Kunſt; man fieng an, uͤber den Ausdruk der Empfindungen zu raffi- niren, die Gemaͤhlde der ſchoͤnen Gegenſtaͤnde, wo- von man geruͤhrt war, beſſer auszubilden, den ge- heimern Schoͤnheiten derſelben nachzuſpuͤhren, und die Worte auf eine wolklingende Art zuſammen zu ordnen. Die aufgewekten Koͤpfe, welche die Natur mit dem poetiſchen Geiſt vorzuͤglich begabet hatte, uͤbertrafen in kurzen die uͤbrigen ſo weit, daß man ſie fuͤr beſondere goͤttlich begeiſterte Leute hielt, de- nen es allein zukomme, Lieder und Gedichte zu ma- chen, welche an Feſttagen und bey allerley freudigen Anlaͤßen geſungen werden koͤnnten. So entſtanden die Saͤnger und Dichter in dieſem einfaͤltigen Zeit- alter, und ihre Geſaͤnge waren die wahren ur- ſpruͤnglichen Jdillen, von denen nichts auf uns ge- kommen iſt, entweder weil die Schreibkunſt viel ſpaͤter erfunden worden, als die Sing- und Dichtkunſt, oder weil die kriegeriſchen eiſernen Zeiten, welche dieſes goldne Weltalter verdrungen haben, auch dieſe anmuthigen Fruͤchte deſſelben verderbet haben. Was wir Jdillen heißen, ſind blos Nachahmungen jener urſpruͤnglichen Waldgeſaͤnge, welche die Natur ſelbſt ihren Kindern eingab. Theokrit hat unter den Grie- chen dieſe nachgeahmten Jdillen zu einer großen Vollkommenheit gebracht. Er fand in ſeinem Zeit- alter noch viele Ueberbleibſel der nicht gefabelten goldnen Zeit; die Lebensart der Landleute war freyer, gluͤklicher und angeſehener, als ſie heut zu Tage iſt. Er ſcheint deswegen ſeine reizenden Gemaͤhlde viel- mehr aus der wuͤrklichen Natur, ſo wie er ſie vor Augen hatte, als der Schaͤferwelt, oder dem goldnen Alter, welches ſeine eigne Phantaſie haͤtte erſchaffen muͤſſen, hergenommen zu haben; und eben deswe- gen ſind ſeine Hirten nicht ſo unſchuldig und liebens- wuͤr-

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/550>, abgerufen am 06.05.2024.