Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Gen Gegenständen, die ihn intreßiren, mehr als andreMenschen, entdeket leichter die sichersten Mittel zu seinem Zwek zu gelangen, findet bey vorkommenden Hindernissen glükliche Auswege, ist mehr als andre Menschen, Meister seiner Seelenkräfte, erkennet und empfindet schärfer, als ein andrer, hat dabey seine Vorstellungen und Empfindungen mehr in seiner Gewalt, da Menschen ohne Genie von den ihri- gen geführt und gelenkt werden. Also scheinet das Genie im Grunde nichts anders zu seyn, als eine vorzügliche Größe des Geistes überhaupt, und die Benennungen ein großer Geist, ein großer Kopf, ein Mann von Genie, können für gleich bedeutend gehalten werden. Doch erstrekt sich diese Größe, die sich den Na- Ueberhaupt scheinet es, daß in beyden Fällen das Gen wundrung setzen; er selbst bewundert sie nicht, weiler sie, ohne mühesames Suchen, in sich mehr wahr- genommen, als erfunden hat. Es steht dahin, ob die Philosophie jemals die Seelen von geringer Empfindsamkeit, die durch des Erster Theil. M m m
[Spaltenumbruch] Gen Gegenſtaͤnden, die ihn intreßiren, mehr als andreMenſchen, entdeket leichter die ſicherſten Mittel zu ſeinem Zwek zu gelangen, findet bey vorkommenden Hinderniſſen gluͤkliche Auswege, iſt mehr als andre Menſchen, Meiſter ſeiner Seelenkraͤfte, erkennet und empfindet ſchaͤrfer, als ein andrer, hat dabey ſeine Vorſtellungen und Empfindungen mehr in ſeiner Gewalt, da Menſchen ohne Genie von den ihri- gen gefuͤhrt und gelenkt werden. Alſo ſcheinet das Genie im Grunde nichts anders zu ſeyn, als eine vorzuͤgliche Groͤße des Geiſtes uͤberhaupt, und die Benennungen ein großer Geiſt, ein großer Kopf, ein Mann von Genie, koͤnnen fuͤr gleich bedeutend gehalten werden. Doch erſtrekt ſich dieſe Groͤße, die ſich den Na- Ueberhaupt ſcheinet es, daß in beyden Faͤllen das Gen wundrung ſetzen; er ſelbſt bewundert ſie nicht, weiler ſie, ohne muͤheſames Suchen, in ſich mehr wahr- genommen, als erfunden hat. Es ſteht dahin, ob die Philoſophie jemals die Seelen von geringer Empfindſamkeit, die durch des Erſter Theil. M m m
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Bey dieſem erleuchtet<lb/> es die obere Gegend des Geiſtes, wo die allgemeinen<lb/> und abſtrakten Begriffe ihren Sitz haben; bey an-<lb/> dern verbreitet es ſich uͤber ſinnliche Begriffe, oder<lb/> dringt auch wol bis in die dunklern Gegenden der<lb/> Empfindungen ein. Dahin, wo dieſes Licht faͤllt,<lb/> vereinigen ſich die Kraͤfte und Triebfedern der Seele;<lb/> der Mann von Genie empfindet ein begeiſterndes<lb/> Feuer, das ſeine ganze Wuͤrkſamkeit rege macht, er<lb/> entdeket in ſich ſelbſt Gedanken, Bilder der Phanta-<lb/> ſie und Empfindungen, die andre Menſchen in Be-<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gen</hi></fw><lb/> wundrung ſetzen; er ſelbſt bewundert ſie nicht, weil<lb/> er ſie, ohne muͤheſames Suchen, in ſich mehr wahr-<lb/> genommen, als erfunden hat.</p><lb/> <p>Es ſteht dahin, ob die Philoſophie jemals die<lb/> eigentlichen Urſachen entdeken werde, die das Genie<lb/> hervorbringen. 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Gen
Gen
Gegenſtaͤnden, die ihn intreßiren, mehr als andre
Menſchen, entdeket leichter die ſicherſten Mittel zu
ſeinem Zwek zu gelangen, findet bey vorkommenden
Hinderniſſen gluͤkliche Auswege, iſt mehr als andre
Menſchen, Meiſter ſeiner Seelenkraͤfte, erkennet und
empfindet ſchaͤrfer, als ein andrer, hat dabey ſeine
Vorſtellungen und Empfindungen mehr in ſeiner
Gewalt, da Menſchen ohne Genie von den ihri-
gen gefuͤhrt und gelenkt werden. Alſo ſcheinet das
Genie im Grunde nichts anders zu ſeyn, als eine
vorzuͤgliche Groͤße des Geiſtes uͤberhaupt, und die
Benennungen ein großer Geiſt, ein großer Kopf,
ein Mann von Genie, koͤnnen fuͤr gleich bedeutend
gehalten werden.
Doch erſtrekt ſich dieſe Groͤße, die ſich den Na-
men des Genies erwirbt, nicht allezeit uͤber jedes
Vermoͤgen des Geiſtes. Es giebt Menſchen, in de-
ren Seelen| alles Groß iſt, wiewol dieſe hoͤchſt ſel-
ten ſind; andere beſitzen nur einzele Seelenkraͤfte in
einem ſehr hohen Grad, und werden dadurch weit
mehr, als andre Menſchen, zu gewiſſen Verrichtun-
gen tuͤchtig. Man ſchreibt ſolchen Menſchen nicht
ſchlechtweg Genie, ſondern ein beſonders Genie fuͤr
die Sachen zu, fuͤr welche ſie vorzuͤgliche Faͤhig-
keiten haben.
Ueberhaupt ſcheinet es, daß in beyden Faͤllen das
Genie eine beſondere Leichtigkeit, die Vorſtellungen
auf einen hohen Grad der Klarheit und Lebhaftigkeit,
oder nach Beſchaffenheit der Sache, der Deutlichkeit
zu erheben, mit ſich bringe. Jn der Seele des
Mannes von Genie herrſcht ein heller Tag, ein vol-
les Licht, das ihm jeden Gegenſtand wie ein nahe vor
Augen liegendes und wol erleuchtetes Gemaͤhld vor-
ſtellt, das er leicht uͤberſehen, und darin er jedes
Einzele genau bemerken kann. Dieſes Licht ver-
breitet ſich bey wenigen gluͤklichern Menſchen uͤber
die ganze Seele, bey den meiſten aber nur uͤber
einige Gegenden derſelben. Bey dieſem erleuchtet
es die obere Gegend des Geiſtes, wo die allgemeinen
und abſtrakten Begriffe ihren Sitz haben; bey an-
dern verbreitet es ſich uͤber ſinnliche Begriffe, oder
dringt auch wol bis in die dunklern Gegenden der
Empfindungen ein. Dahin, wo dieſes Licht faͤllt,
vereinigen ſich die Kraͤfte und Triebfedern der Seele;
der Mann von Genie empfindet ein begeiſterndes
Feuer, das ſeine ganze Wuͤrkſamkeit rege macht, er
entdeket in ſich ſelbſt Gedanken, Bilder der Phanta-
ſie und Empfindungen, die andre Menſchen in Be-
wundrung ſetzen; er ſelbſt bewundert ſie nicht, weil
er ſie, ohne muͤheſames Suchen, in ſich mehr wahr-
genommen, als erfunden hat.
Es ſteht dahin, ob die Philoſophie jemals die
eigentlichen Urſachen entdeken werde, die das Genie
hervorbringen. Den erſten Grund dazu ſcheinet die
Natur dadurch zu legen, daß ſie den Menſchen, dem
ſie ein beſonderes Genie zugedacht hat, fuͤr gewiſſe
Gegenſtaͤnde vorzuͤglich empfindſam macht, wodurch
geſchieht, daß ihm der Genuß dieſer Gegenſtaͤnde
einigermaaßen zum Beduͤrfnis wird. Wir duͤrfen
uns nicht ſcheuhen, die Anlage zum Genie ſelbſt in
der thieriſchen Natur aufzuſuchen, da man durch-
gehends uͤbereingekommen iſt, auch den Thieren et-
was dem Genie aͤhnliches zuzuſchreiben. Wir ſehen,
daß jedes Thier alle Geſchaͤffte, die zu ſeinen Beduͤrf-
niſſen gehoͤren, mit einer Geſchicklichkeit und mit einer
Fertigkeit verrichtet, die Genie anzuzeigen ſcheinen.
Bey dem Thier liegt allemal ein hoͤchſt feines Ge-
fuͤhl, eine ausnehmende Reizbarkeit der Sinne zum
Grund. Man beraube den Hund ſeines feinen Ge-
ruchs und Gehoͤres, ſo nihmt man ihm zugleich auch
ſein Genie weg. Bey dem Menſchen ſcheinet das
Genie eine aͤhnliche Unterſtuͤtzung noͤthig zu haben.
Wie ſcharf auch immer die Vorſtellungskraͤfte des
Menſchen ſeyn moͤgen, ſo machen ſie das Genie noch
nicht aus: es muß irgend eine Reizung hinzukom-
men, wodurch die Wuͤrkſamkeit jener Kraͤfte auf
beſondere Gegenſtaͤnde gelenkt und dabey unterhal-
ten wird. Denn was wir hier Vorſtellungskraͤfte
nennen, ſind, wenn man genau reden will, bloße
Vermoͤgen oder bloße Faͤhigkeiten des Geiſtes, die
erſt alsdann wuͤrkſam werden, wenn ein innerliches
oder aͤußerliches Beduͤrfniß ihre Wuͤrkſamkeit erwekt
und unterhaͤlt.
Seelen von geringer Empfindſamkeit, die durch
nichts zu vorzuͤglicher Wuͤrkſamkeit gereizt werden,
die keine beſondere Beduͤrfniſſe haben, ſolche Seelen
ſind bey dem groͤßten Verſtand ohne Genie; denn
dieſer große Verſtand muß durch das Beduͤrfniß
in Wuͤrkſamkeit erhalten werden. Die verſchiede-
nen Vermoͤgen der Seele liegen in einer ſchlaffen
Unthaͤtigkeit, bis irgend eine Empfindung ſie reizt,
und dann wuͤrken ſie, ſo lange dieſe Empfindung
vorhanden iſt. So wie das ſchlaneſte und lebhaf-
teſte Thier, wenn es uͤber alle ſeine Beduͤrfniſſe bis
zur Saͤtigung befriediget iſt, in einer dummen
Traͤgheit ausgeſtrekt liegt, ſo ſinken auch alle Kraͤfte
des
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