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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Geb
rungen dessen sind, was in der Seele vorgeht. [Spaltenumbruch] (+)
Jn gar viel Fällen sind die Gebehrden eine so genaue
und lebhafte Abbildung des innern Zustandes der
Menschen, daß man ihre Empfindungen dadurch
weit besser erkennet, als der beredteste Ausdruk der
Worte sie zu erkennen geben würde. Keine Worte
können weder Lust noch Verdruß, weder Verachtung
noch Liebe so bestimmen, so lebhaft, viel weniger so
schnell ausdrüken, als die Gebehrden. Also ist auch
nichts, wodurch man schneller und kräftiger auf die
Gemüther würken kann. Darum sind sie der Haupt-
gegenstand der Künste, die auf das Aug würken.
Der Mahler hat wenig andre Mittel, als dieses,
Empfindungen und Gedanken zu erweken; der Red-
ner und der Schauspieler aber kann durch die Ge-
behrden seinen Vorstellungen ein Leben und eine Kraft
geben, die die, welche in den Worten liegt, weit
übertreffen. Man kann aus dem, was uns einige
Alten von den Pantomimen in Rom erzählen, ab-
nehmen, wie weit die Sprache der Gebehrden sich
erstrecken könne. Die Kunst der Gebehrden ist des-
wegen von den Alten als ein besonderer Theil der
schönen Wissenschaften, unter dem Namen Musica
Hypocritica,
betrachtet worden. Plato erwähnt der
Gebehrdenkunst unter dem Namen Orchesis.

Aber so bestimmt jede Empfindung, so gar jede
Schattirung und jeder Grad einer Empfindung, sich
durch ihre besondern Gebehrden ausdrüken läßt, so
unbestimmt und unzureichend hingegen ist jede Spra-
che, wenn man diesen Theil der Kunst in Regeln
fassen wollte. So wie man auch in der reiche-
sten Sprache die verschiedenen Gesichtsbildungen der
Menschen nur sehr unvollkommen beschreiben kann,
so findet man auch die größten Schwierigkeiten,
die Gebehrden bestimmt zu beschreiben. Darum ha-
ben auch die besten Lehrer der Redner, als Cicero
und Quintilian, nur wenige allgemeine Vorschriften
hierüber geben können. Doch sollte man die Hoff-
nung, den Ausdruk der Sprache in diesem Stük zu
einer mehrern Vollständigkeit und zu genauerer Be-
stimmung zu bringen, nicht verlohren geben. Wenn
die spätern griechischen Rhetoren, die sich so viel
unnütze Mühe gegeben haben, für jede grammati-
sche oder rhetorische Figur einen Namen und eine
Erklärung zu finden, ihr Nachdenken auf die Be-
[Spaltenumbruch]

Geb
schreibung der Gebehrden angewendet hätten, so
würde man vielleicht itzt schon nähere Hoffnung ha-
ben, von diesem wichtigen Theile der Kunst einmal
bestimmt zu sprechen.

Die zeichnenden Künste könnten darin den reden-
den einen wichtigen Dienst leisten. Es ist zu wün-
schen, daß ein guter Zeichner eine Sammlung nach-
drüklicher und redender Gebehrden anfangen möchte.
Wer sich besonders darauf legen wollte, blos die
Gebehrden der Menschen zu beobachten, und jedes
redende und jeden genauen Ausdruk darin, richtig
zu zeichnen, dem würde es nicht schweer fallen, ei-
nen beträchtlichen Beytrag zur Gebehrdenkunst zu
liefern. Es wär ein, einer Kunstacademie würdiges,
Unternehmen, eine solche Sammlung zu veranstal-
ten, und die Künstler zu jährlicher Vermehrung der-
selben aufzumuntern. Man könnte allenfalls den
Anfang der Sammlung damit machen, daß man
aus den Antiken und aus den Gemählden der neuern
zuerst alle Figuren aussuchte, und in einer Folge
herausgäbe, die in der Stellung einen bestimmten
Ausdruk zeigen. Hernach könnte jedem Zeichner,
der eine genau nach der Natur gemachte und durch
Gebehrden sehr redende Figur, zur Sammlung ein-
schikte, eine kleine Belohnung gereicht werden.
Dadurch würde die Sammlung in wenig Jahren
vermuthlich sehr ansehnlich anwachsen. Wenn als-
denn ein Mann von Genie eine solche Sammlung
vor sich nähme, Beschreibungen und Anmerkungen
dazu machte, so würde nach und nach der Theil der
Kunst, der itzt so wenig bearbeitet ist, zu großer
Vollkommenheit kommen können. Wenn man be-
denkt, daß mancher Liebhaber der Naturgeschichte
vermittelst der Beobachtung, der Zeichnungen und
der Beschreibungen, die Gestalt und die Bildung
vieler tausend Pflanzen und Jnsekte, so genau in
die Einbildungskraft gefaßt hat, daß er die kleine-
sten Abändrungen richtig bemerket; so läßt sich
auch gewiß vermuthen, daß eine, mit eben so viel
Fleis gemachte und in Classen gebrachte Sammlung
von Gesichtsbildungen und Gebehrden, und also ein
daher entstehender eigener Theil der Kunst, eine
ganz mögliche Sach sey. Warum sollte eine Samm-
lung redender Gebehrden weniger möglich und we-
niger nützlich seyn, als eine Sammlung von abge-

zeich-
(+) Nempe gestus est in Corporis vel totius vel partium
ejus quodam motu et conformatione temporaria, affectioni-
[Spaltenumbruch] bus animi vel veris, vel quas fingere volunt, accomodata,
easque exprimens. Cicero de Nat. Deor. L. II. c.
12.

[Spaltenumbruch]

Geb
rungen deſſen ſind, was in der Seele vorgeht. [Spaltenumbruch] (†)
Jn gar viel Faͤllen ſind die Gebehrden eine ſo genaue
und lebhafte Abbildung des innern Zuſtandes der
Menſchen, daß man ihre Empfindungen dadurch
weit beſſer erkennet, als der beredteſte Ausdruk der
Worte ſie zu erkennen geben wuͤrde. Keine Worte
koͤnnen weder Luſt noch Verdruß, weder Verachtung
noch Liebe ſo beſtimmen, ſo lebhaft, viel weniger ſo
ſchnell ausdruͤken, als die Gebehrden. Alſo iſt auch
nichts, wodurch man ſchneller und kraͤftiger auf die
Gemuͤther wuͤrken kann. Darum ſind ſie der Haupt-
gegenſtand der Kuͤnſte, die auf das Aug wuͤrken.
Der Mahler hat wenig andre Mittel, als dieſes,
Empfindungen und Gedanken zu erweken; der Red-
ner und der Schauſpieler aber kann durch die Ge-
behrden ſeinen Vorſtellungen ein Leben und eine Kraft
geben, die die, welche in den Worten liegt, weit
uͤbertreffen. Man kann aus dem, was uns einige
Alten von den Pantomimen in Rom erzaͤhlen, ab-
nehmen, wie weit die Sprache der Gebehrden ſich
erſtrecken koͤnne. Die Kunſt der Gebehrden iſt des-
wegen von den Alten als ein beſonderer Theil der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften, unter dem Namen Muſica
Hypocritica,
betrachtet worden. Plato erwaͤhnt der
Gebehrdenkunſt unter dem Namen Orcheſis.

Aber ſo beſtimmt jede Empfindung, ſo gar jede
Schattirung und jeder Grad einer Empfindung, ſich
durch ihre beſondern Gebehrden ausdruͤken laͤßt, ſo
unbeſtimmt und unzureichend hingegen iſt jede Spra-
che, wenn man dieſen Theil der Kunſt in Regeln
faſſen wollte. So wie man auch in der reiche-
ſten Sprache die verſchiedenen Geſichtsbildungen der
Menſchen nur ſehr unvollkommen beſchreiben kann,
ſo findet man auch die groͤßten Schwierigkeiten,
die Gebehrden beſtimmt zu beſchreiben. Darum ha-
ben auch die beſten Lehrer der Redner, als Cicero
und Quintilian, nur wenige allgemeine Vorſchriften
hieruͤber geben koͤnnen. Doch ſollte man die Hoff-
nung, den Ausdruk der Sprache in dieſem Stuͤk zu
einer mehrern Vollſtaͤndigkeit und zu genauerer Be-
ſtimmung zu bringen, nicht verlohren geben. Wenn
die ſpaͤtern griechiſchen Rhetoren, die ſich ſo viel
unnuͤtze Muͤhe gegeben haben, fuͤr jede grammati-
ſche oder rhetoriſche Figur einen Namen und eine
Erklaͤrung zu finden, ihr Nachdenken auf die Be-
[Spaltenumbruch]

Geb
ſchreibung der Gebehrden angewendet haͤtten, ſo
wuͤrde man vielleicht itzt ſchon naͤhere Hoffnung ha-
ben, von dieſem wichtigen Theile der Kunſt einmal
beſtimmt zu ſprechen.

Die zeichnenden Kuͤnſte koͤnnten darin den reden-
den einen wichtigen Dienſt leiſten. Es iſt zu wuͤn-
ſchen, daß ein guter Zeichner eine Sammlung nach-
druͤklicher und redender Gebehrden anfangen moͤchte.
Wer ſich beſonders darauf legen wollte, blos die
Gebehrden der Menſchen zu beobachten, und jedes
redende und jeden genauen Ausdruk darin, richtig
zu zeichnen, dem wuͤrde es nicht ſchweer fallen, ei-
nen betraͤchtlichen Beytrag zur Gebehrdenkunſt zu
liefern. Es waͤr ein, einer Kunſtacademie wuͤrdiges,
Unternehmen, eine ſolche Sammlung zu veranſtal-
ten, und die Kuͤnſtler zu jaͤhrlicher Vermehrung der-
ſelben aufzumuntern. Man koͤnnte allenfalls den
Anfang der Sammlung damit machen, daß man
aus den Antiken und aus den Gemaͤhlden der neuern
zuerſt alle Figuren ausſuchte, und in einer Folge
herausgaͤbe, die in der Stellung einen beſtimmten
Ausdruk zeigen. Hernach koͤnnte jedem Zeichner,
der eine genau nach der Natur gemachte und durch
Gebehrden ſehr redende Figur, zur Sammlung ein-
ſchikte, eine kleine Belohnung gereicht werden.
Dadurch wuͤrde die Sammlung in wenig Jahren
vermuthlich ſehr anſehnlich anwachſen. Wenn als-
denn ein Mann von Genie eine ſolche Sammlung
vor ſich naͤhme, Beſchreibungen und Anmerkungen
dazu machte, ſo wuͤrde nach und nach der Theil der
Kunſt, der itzt ſo wenig bearbeitet iſt, zu großer
Vollkommenheit kommen koͤnnen. Wenn man be-
denkt, daß mancher Liebhaber der Naturgeſchichte
vermittelſt der Beobachtung, der Zeichnungen und
der Beſchreibungen, die Geſtalt und die Bildung
vieler tauſend Pflanzen und Jnſekte, ſo genau in
die Einbildungskraft gefaßt hat, daß er die kleine-
ſten Abaͤndrungen richtig bemerket; ſo laͤßt ſich
auch gewiß vermuthen, daß eine, mit eben ſo viel
Fleis gemachte und in Claſſen gebrachte Sammlung
von Geſichtsbildungen und Gebehrden, und alſo ein
daher entſtehender eigener Theil der Kunſt, eine
ganz moͤgliche Sach ſey. Warum ſollte eine Samm-
lung redender Gebehrden weniger moͤglich und we-
niger nuͤtzlich ſeyn, als eine Sammlung von abge-

zeich-
(†) Nempe geſtus eſt in Corporis vel totius vel partium
ejus quodam motu et conformatione temporaria, affectioni-
[Spaltenumbruch] bus animi vel veris, vel quas fingere volunt, accomodata,
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[428/0440] Geb Geb rungen deſſen ſind, was in der Seele vorgeht. (†) Jn gar viel Faͤllen ſind die Gebehrden eine ſo genaue und lebhafte Abbildung des innern Zuſtandes der Menſchen, daß man ihre Empfindungen dadurch weit beſſer erkennet, als der beredteſte Ausdruk der Worte ſie zu erkennen geben wuͤrde. Keine Worte koͤnnen weder Luſt noch Verdruß, weder Verachtung noch Liebe ſo beſtimmen, ſo lebhaft, viel weniger ſo ſchnell ausdruͤken, als die Gebehrden. Alſo iſt auch nichts, wodurch man ſchneller und kraͤftiger auf die Gemuͤther wuͤrken kann. Darum ſind ſie der Haupt- gegenſtand der Kuͤnſte, die auf das Aug wuͤrken. Der Mahler hat wenig andre Mittel, als dieſes, Empfindungen und Gedanken zu erweken; der Red- ner und der Schauſpieler aber kann durch die Ge- behrden ſeinen Vorſtellungen ein Leben und eine Kraft geben, die die, welche in den Worten liegt, weit uͤbertreffen. Man kann aus dem, was uns einige Alten von den Pantomimen in Rom erzaͤhlen, ab- nehmen, wie weit die Sprache der Gebehrden ſich erſtrecken koͤnne. Die Kunſt der Gebehrden iſt des- wegen von den Alten als ein beſonderer Theil der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, unter dem Namen Muſica Hypocritica, betrachtet worden. Plato erwaͤhnt der Gebehrdenkunſt unter dem Namen Orcheſis. Aber ſo beſtimmt jede Empfindung, ſo gar jede Schattirung und jeder Grad einer Empfindung, ſich durch ihre beſondern Gebehrden ausdruͤken laͤßt, ſo unbeſtimmt und unzureichend hingegen iſt jede Spra- che, wenn man dieſen Theil der Kunſt in Regeln faſſen wollte. So wie man auch in der reiche- ſten Sprache die verſchiedenen Geſichtsbildungen der Menſchen nur ſehr unvollkommen beſchreiben kann, ſo findet man auch die groͤßten Schwierigkeiten, die Gebehrden beſtimmt zu beſchreiben. Darum ha- ben auch die beſten Lehrer der Redner, als Cicero und Quintilian, nur wenige allgemeine Vorſchriften hieruͤber geben koͤnnen. Doch ſollte man die Hoff- nung, den Ausdruk der Sprache in dieſem Stuͤk zu einer mehrern Vollſtaͤndigkeit und zu genauerer Be- ſtimmung zu bringen, nicht verlohren geben. Wenn die ſpaͤtern griechiſchen Rhetoren, die ſich ſo viel unnuͤtze Muͤhe gegeben haben, fuͤr jede grammati- ſche oder rhetoriſche Figur einen Namen und eine Erklaͤrung zu finden, ihr Nachdenken auf die Be- ſchreibung der Gebehrden angewendet haͤtten, ſo wuͤrde man vielleicht itzt ſchon naͤhere Hoffnung ha- ben, von dieſem wichtigen Theile der Kunſt einmal beſtimmt zu ſprechen. Die zeichnenden Kuͤnſte koͤnnten darin den reden- den einen wichtigen Dienſt leiſten. Es iſt zu wuͤn- ſchen, daß ein guter Zeichner eine Sammlung nach- druͤklicher und redender Gebehrden anfangen moͤchte. Wer ſich beſonders darauf legen wollte, blos die Gebehrden der Menſchen zu beobachten, und jedes redende und jeden genauen Ausdruk darin, richtig zu zeichnen, dem wuͤrde es nicht ſchweer fallen, ei- nen betraͤchtlichen Beytrag zur Gebehrdenkunſt zu liefern. Es waͤr ein, einer Kunſtacademie wuͤrdiges, Unternehmen, eine ſolche Sammlung zu veranſtal- ten, und die Kuͤnſtler zu jaͤhrlicher Vermehrung der- ſelben aufzumuntern. Man koͤnnte allenfalls den Anfang der Sammlung damit machen, daß man aus den Antiken und aus den Gemaͤhlden der neuern zuerſt alle Figuren ausſuchte, und in einer Folge herausgaͤbe, die in der Stellung einen beſtimmten Ausdruk zeigen. Hernach koͤnnte jedem Zeichner, der eine genau nach der Natur gemachte und durch Gebehrden ſehr redende Figur, zur Sammlung ein- ſchikte, eine kleine Belohnung gereicht werden. Dadurch wuͤrde die Sammlung in wenig Jahren vermuthlich ſehr anſehnlich anwachſen. Wenn als- denn ein Mann von Genie eine ſolche Sammlung vor ſich naͤhme, Beſchreibungen und Anmerkungen dazu machte, ſo wuͤrde nach und nach der Theil der Kunſt, der itzt ſo wenig bearbeitet iſt, zu großer Vollkommenheit kommen koͤnnen. Wenn man be- denkt, daß mancher Liebhaber der Naturgeſchichte vermittelſt der Beobachtung, der Zeichnungen und der Beſchreibungen, die Geſtalt und die Bildung vieler tauſend Pflanzen und Jnſekte, ſo genau in die Einbildungskraft gefaßt hat, daß er die kleine- ſten Abaͤndrungen richtig bemerket; ſo laͤßt ſich auch gewiß vermuthen, daß eine, mit eben ſo viel Fleis gemachte und in Claſſen gebrachte Sammlung von Geſichtsbildungen und Gebehrden, und alſo ein daher entſtehender eigener Theil der Kunſt, eine ganz moͤgliche Sach ſey. Warum ſollte eine Samm- lung redender Gebehrden weniger moͤglich und we- niger nuͤtzlich ſeyn, als eine Sammlung von abge- zeich- (†) Nempe geſtus eſt in Corporis vel totius vel partium ejus quodam motu et conformatione temporaria, affectioni- bus animi vel veris, vel quas fingere volunt, accomodata, easque exprimens. Cicero de Nat. Deor. L. II. c. 12.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/440>, abgerufen am 22.11.2024.