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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Geb
schmaks beurtheilen, so kömmt es nicht darauf an,
ob es überhaupt eine schöne Form sey, sondern, ob
es bey den wesentlichen Eigenschaften, die es, außer
der Kunst betrachtet, haben soll, auch schön genug
sey. Derjenige ist ein guter Baumeister, der die
wesentliche Absicht, in welcher das Gebäud aufgeführt
wird, vollkommen erreichen, zugleich aber dem
Werk jede ihm zukommende Schönheit geben kann.

Vor allen Dingen also muß jedes Gebäude sei-
nem Endzwek gemäß angelegt seyn. Seine Lage, so
wie die Stärke und äußerliche Form, müssen durch
ihn bestimmt werden. Ein Rathhaus müßte nicht
in einem Winkel der Stadt angelegt, in seiner Form
nicht wie ein Gefängnis, und in Ansehung seiner
Stärke, nicht wie ein Gartenhaus aussehen.

Eben so müssen von außen und von innen die
Verhältnisse und die Verzierungen, so wie die An-
ordnung, nicht nach zufälligem Gutdünken oder phan-
tastischen Einfällen angegeben, sondern aus der Na-
tur des Gebäudes durch ein gründliches Urtheil und
einen gesunden Geschmak bestimmt werden. Die
Verhältnisse der Theile, die für eine Kirche, oder für
einen großen Pallast gut wären, schiken sich nicht
für ein Privathaus, so wenig als große Audienzsäle
mit Vorzimmern; so wie auf der andern Seite das
bescheidene Ansehen, und eine durchaus gleiche und
wenig Mannigfaltigkeit zeigende Anordnung, für
ein gemeines Haus ganz vernünftig, aber für einen
Pallast zu mager und zu elend seyn würde. Jn
Zierrathen kömmt das Große und die Pracht nur
großen, und in Ansehung ihrer Bestimmung vorneh-
men Gebäuden zu; da hingegen Zierlichkeit, Net-
tigkeit, auch ein mäßiger Reichthum, auch an Pri-
vatgebäuden reicher Bürger noch gut stehen kann.

Man kann überhaupt diese und andre hieher ge-
hörigen Anmerkungen in die allgemeine Regel zusam-
men fassen, daß jedes Gebäude, so wol in seinen
wesentlichen, als zufälligen Theilen, seinen Charak-
ter behaupten und seinen Zwek anzeigen, zugleich aber
in seiner Art gut in die Augen fallen, und überall
gute Verhältnisse, Geschmak, Festigkeit und ange-
wandten Fleiß, an den Tag legen müsse. Aus je-
der Vergehung gegen diese Regel entstehen Haupt-
fehler. Es würde zu weitläuftig seyn, dieselben
hier aufzuzählen, da sie so sehr mannigfaltig seyn
können. Wer gründlich von einem Gebäud urthei-
len will, der muß also zuerst von der Natur und
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Geb
Bestimmung desselben richtige Begriffe haben, und
darnach so wol das Ganze, als die Theile beurthei-
len. Hiezu aber gehört eine richtige Kenntnis der
Sitten, der Lebensart, der Geschäfte und der Ge-
bräuche des Landes, dessen Gebäude man beurthei-
len will.

Findet man jedes der Natur und der Bestim-
mung des Gebäudes angemessen, so ist man von
dem Verstand und der Ueberlegung des Baumeisters
versichert; und man weiß, daß weder Mangel noch
Ueberfluß, auch nichts Unschickliches vorhanden ist.

Jedes Gebäud aber, zu welchem Gebrauch es
möge bestimmt seyn, muß Festigkeit, Regelmäßig-
keit und Eurythmie haben, auch muß jedes Einzele
darin mit Fleiß gemacht und in seiner Art wol vol-
lendet seyn. Alles stehende muß senkrecht, und alles
liegende waagerecht seyn: jeder schweere Theil muß
seine verhältnißmäßige Unterstützung haben; hinge-
gen muß auch nirgend weder Stärke noch Unterstü-
tzung seyn, wo nichts zu tragen ist. Säulen oder
Pfeiler, auf denen nichts schweeres ruhet, oder sehr
starke Unterstützungen, auf denen etwas ganz leich-
tes liegt, sind Ungereimtheiten in der Baukunst, die
den gemeinen Begriffen widerstreiten. Was sollen
riesenmäßige Sclaven, die aus Nachahmung der
Caryatiden (*) an den Thüren gemeiner Wohnhäuser(*) S. Ca-
ryatiden.

angebracht sind, um etwa einen leichten Balkon
zu tragen, wie man an einigen Häusern in Ber-
lin sieht?

Ueberhaupt muß in jedem einzeln, zur Festigkeit
oder zur Verzierung vorhandenen Theil, außer einem
guten Verhältnis auch die Absicht, warum er da ist,
in die Augen fallen, und aus dieser Absicht muß
seine Beschaffenheit beurtheilt werden. Eine Probe,
wie eines jeden Theils Beschaffenheit und Verhältnis
aus seiner Absicht zu beurtheilen sey, kann man aus
den zu dem Gebälke gehörigen Theilen abnehmen,(*) S Ge-
bälke, Fries,
Dreyschliz,
Spatren-
köpfe.

wovon die verschiedenen Artikel nachzusehen sind. (*)
Noch finden sich verschiedene hieher gehörige Anmer-
kungen in dem Artikel Baukunst. (*)

(*) S. 131.
132.
Gebehrden.
(Schöne Künste.)

Die verschiedenen Bewegungen und Stellungen des
Körpers und einzeler Gliedmaaßen desselben, in so
fern sie etwas Charakteristisches haben, oder Aeuße-

rungen
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[Spaltenumbruch]

Geb
ſchmaks beurtheilen, ſo koͤmmt es nicht darauf an,
ob es uͤberhaupt eine ſchoͤne Form ſey, ſondern, ob
es bey den weſentlichen Eigenſchaften, die es, außer
der Kunſt betrachtet, haben ſoll, auch ſchoͤn genug
ſey. Derjenige iſt ein guter Baumeiſter, der die
weſentliche Abſicht, in welcher das Gebaͤud aufgefuͤhrt
wird, vollkommen erreichen, zugleich aber dem
Werk jede ihm zukommende Schoͤnheit geben kann.

Vor allen Dingen alſo muß jedes Gebaͤude ſei-
nem Endzwek gemaͤß angelegt ſeyn. Seine Lage, ſo
wie die Staͤrke und aͤußerliche Form, muͤſſen durch
ihn beſtimmt werden. Ein Rathhaus muͤßte nicht
in einem Winkel der Stadt angelegt, in ſeiner Form
nicht wie ein Gefaͤngnis, und in Anſehung ſeiner
Staͤrke, nicht wie ein Gartenhaus ausſehen.

Eben ſo muͤſſen von außen und von innen die
Verhaͤltniſſe und die Verzierungen, ſo wie die An-
ordnung, nicht nach zufaͤlligem Gutduͤnken oder phan-
taſtiſchen Einfaͤllen angegeben, ſondern aus der Na-
tur des Gebaͤudes durch ein gruͤndliches Urtheil und
einen geſunden Geſchmak beſtimmt werden. Die
Verhaͤltniſſe der Theile, die fuͤr eine Kirche, oder fuͤr
einen großen Pallaſt gut waͤren, ſchiken ſich nicht
fuͤr ein Privathaus, ſo wenig als große Audienzſaͤle
mit Vorzimmern; ſo wie auf der andern Seite das
beſcheidene Anſehen, und eine durchaus gleiche und
wenig Mannigfaltigkeit zeigende Anordnung, fuͤr
ein gemeines Haus ganz vernuͤnftig, aber fuͤr einen
Pallaſt zu mager und zu elend ſeyn wuͤrde. Jn
Zierrathen koͤmmt das Große und die Pracht nur
großen, und in Anſehung ihrer Beſtimmung vorneh-
men Gebaͤuden zu; da hingegen Zierlichkeit, Net-
tigkeit, auch ein maͤßiger Reichthum, auch an Pri-
vatgebaͤuden reicher Buͤrger noch gut ſtehen kann.

Man kann uͤberhaupt dieſe und andre hieher ge-
hoͤrigen Anmerkungen in die allgemeine Regel zuſam-
men faſſen, daß jedes Gebaͤude, ſo wol in ſeinen
weſentlichen, als zufaͤlligen Theilen, ſeinen Charak-
ter behaupten und ſeinen Zwek anzeigen, zugleich aber
in ſeiner Art gut in die Augen fallen, und uͤberall
gute Verhaͤltniſſe, Geſchmak, Feſtigkeit und ange-
wandten Fleiß, an den Tag legen muͤſſe. Aus je-
der Vergehung gegen dieſe Regel entſtehen Haupt-
fehler. Es wuͤrde zu weitlaͤuftig ſeyn, dieſelben
hier aufzuzaͤhlen, da ſie ſo ſehr mannigfaltig ſeyn
koͤnnen. Wer gruͤndlich von einem Gebaͤud urthei-
len will, der muß alſo zuerſt von der Natur und
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Geb
Beſtimmung deſſelben richtige Begriffe haben, und
darnach ſo wol das Ganze, als die Theile beurthei-
len. Hiezu aber gehoͤrt eine richtige Kenntnis der
Sitten, der Lebensart, der Geſchaͤfte und der Ge-
braͤuche des Landes, deſſen Gebaͤude man beurthei-
len will.

Findet man jedes der Natur und der Beſtim-
mung des Gebaͤudes angemeſſen, ſo iſt man von
dem Verſtand und der Ueberlegung des Baumeiſters
verſichert; und man weiß, daß weder Mangel noch
Ueberfluß, auch nichts Unſchickliches vorhanden iſt.

Jedes Gebaͤud aber, zu welchem Gebrauch es
moͤge beſtimmt ſeyn, muß Feſtigkeit, Regelmaͤßig-
keit und Eurythmie haben, auch muß jedes Einzele
darin mit Fleiß gemacht und in ſeiner Art wol vol-
lendet ſeyn. Alles ſtehende muß ſenkrecht, und alles
liegende waagerecht ſeyn: jeder ſchweere Theil muß
ſeine verhaͤltnißmaͤßige Unterſtuͤtzung haben; hinge-
gen muß auch nirgend weder Staͤrke noch Unterſtuͤ-
tzung ſeyn, wo nichts zu tragen iſt. Saͤulen oder
Pfeiler, auf denen nichts ſchweeres ruhet, oder ſehr
ſtarke Unterſtuͤtzungen, auf denen etwas ganz leich-
tes liegt, ſind Ungereimtheiten in der Baukunſt, die
den gemeinen Begriffen widerſtreiten. Was ſollen
rieſenmaͤßige Sclaven, die aus Nachahmung der
Caryatiden (*) an den Thuͤren gemeiner Wohnhaͤuſer(*) S. Ca-
ryatiden.

angebracht ſind, um etwa einen leichten Balkon
zu tragen, wie man an einigen Haͤuſern in Ber-
lin ſieht?

Ueberhaupt muß in jedem einzeln, zur Feſtigkeit
oder zur Verzierung vorhandenen Theil, außer einem
guten Verhaͤltnis auch die Abſicht, warum er da iſt,
in die Augen fallen, und aus dieſer Abſicht muß
ſeine Beſchaffenheit beurtheilt werden. Eine Probe,
wie eines jeden Theils Beſchaffenheit und Verhaͤltnis
aus ſeiner Abſicht zu beurtheilen ſey, kann man aus
den zu dem Gebaͤlke gehoͤrigen Theilen abnehmen,(*) S Ge-
baͤlke, Fries,
Dreyſchliz,
Spatren-
koͤpfe.

wovon die verſchiedenen Artikel nachzuſehen ſind. (*)
Noch finden ſich verſchiedene hieher gehoͤrige Anmer-
kungen in dem Artikel Baukunſt. (*)

(*) S. 131.
132.
Gebehrden.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die verſchiedenen Bewegungen und Stellungen des
Koͤrpers und einzeler Gliedmaaßen deſſelben, in ſo
fern ſie etwas Charakteriſtiſches haben, oder Aeuße-

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[427/0439] Geb Geb ſchmaks beurtheilen, ſo koͤmmt es nicht darauf an, ob es uͤberhaupt eine ſchoͤne Form ſey, ſondern, ob es bey den weſentlichen Eigenſchaften, die es, außer der Kunſt betrachtet, haben ſoll, auch ſchoͤn genug ſey. Derjenige iſt ein guter Baumeiſter, der die weſentliche Abſicht, in welcher das Gebaͤud aufgefuͤhrt wird, vollkommen erreichen, zugleich aber dem Werk jede ihm zukommende Schoͤnheit geben kann. Vor allen Dingen alſo muß jedes Gebaͤude ſei- nem Endzwek gemaͤß angelegt ſeyn. Seine Lage, ſo wie die Staͤrke und aͤußerliche Form, muͤſſen durch ihn beſtimmt werden. Ein Rathhaus muͤßte nicht in einem Winkel der Stadt angelegt, in ſeiner Form nicht wie ein Gefaͤngnis, und in Anſehung ſeiner Staͤrke, nicht wie ein Gartenhaus ausſehen. Eben ſo muͤſſen von außen und von innen die Verhaͤltniſſe und die Verzierungen, ſo wie die An- ordnung, nicht nach zufaͤlligem Gutduͤnken oder phan- taſtiſchen Einfaͤllen angegeben, ſondern aus der Na- tur des Gebaͤudes durch ein gruͤndliches Urtheil und einen geſunden Geſchmak beſtimmt werden. Die Verhaͤltniſſe der Theile, die fuͤr eine Kirche, oder fuͤr einen großen Pallaſt gut waͤren, ſchiken ſich nicht fuͤr ein Privathaus, ſo wenig als große Audienzſaͤle mit Vorzimmern; ſo wie auf der andern Seite das beſcheidene Anſehen, und eine durchaus gleiche und wenig Mannigfaltigkeit zeigende Anordnung, fuͤr ein gemeines Haus ganz vernuͤnftig, aber fuͤr einen Pallaſt zu mager und zu elend ſeyn wuͤrde. Jn Zierrathen koͤmmt das Große und die Pracht nur großen, und in Anſehung ihrer Beſtimmung vorneh- men Gebaͤuden zu; da hingegen Zierlichkeit, Net- tigkeit, auch ein maͤßiger Reichthum, auch an Pri- vatgebaͤuden reicher Buͤrger noch gut ſtehen kann. Man kann uͤberhaupt dieſe und andre hieher ge- hoͤrigen Anmerkungen in die allgemeine Regel zuſam- men faſſen, daß jedes Gebaͤude, ſo wol in ſeinen weſentlichen, als zufaͤlligen Theilen, ſeinen Charak- ter behaupten und ſeinen Zwek anzeigen, zugleich aber in ſeiner Art gut in die Augen fallen, und uͤberall gute Verhaͤltniſſe, Geſchmak, Feſtigkeit und ange- wandten Fleiß, an den Tag legen muͤſſe. Aus je- der Vergehung gegen dieſe Regel entſtehen Haupt- fehler. Es wuͤrde zu weitlaͤuftig ſeyn, dieſelben hier aufzuzaͤhlen, da ſie ſo ſehr mannigfaltig ſeyn koͤnnen. Wer gruͤndlich von einem Gebaͤud urthei- len will, der muß alſo zuerſt von der Natur und Beſtimmung deſſelben richtige Begriffe haben, und darnach ſo wol das Ganze, als die Theile beurthei- len. Hiezu aber gehoͤrt eine richtige Kenntnis der Sitten, der Lebensart, der Geſchaͤfte und der Ge- braͤuche des Landes, deſſen Gebaͤude man beurthei- len will. Findet man jedes der Natur und der Beſtim- mung des Gebaͤudes angemeſſen, ſo iſt man von dem Verſtand und der Ueberlegung des Baumeiſters verſichert; und man weiß, daß weder Mangel noch Ueberfluß, auch nichts Unſchickliches vorhanden iſt. Jedes Gebaͤud aber, zu welchem Gebrauch es moͤge beſtimmt ſeyn, muß Feſtigkeit, Regelmaͤßig- keit und Eurythmie haben, auch muß jedes Einzele darin mit Fleiß gemacht und in ſeiner Art wol vol- lendet ſeyn. Alles ſtehende muß ſenkrecht, und alles liegende waagerecht ſeyn: jeder ſchweere Theil muß ſeine verhaͤltnißmaͤßige Unterſtuͤtzung haben; hinge- gen muß auch nirgend weder Staͤrke noch Unterſtuͤ- tzung ſeyn, wo nichts zu tragen iſt. Saͤulen oder Pfeiler, auf denen nichts ſchweeres ruhet, oder ſehr ſtarke Unterſtuͤtzungen, auf denen etwas ganz leich- tes liegt, ſind Ungereimtheiten in der Baukunſt, die den gemeinen Begriffen widerſtreiten. Was ſollen rieſenmaͤßige Sclaven, die aus Nachahmung der Caryatiden (*) an den Thuͤren gemeiner Wohnhaͤuſer angebracht ſind, um etwa einen leichten Balkon zu tragen, wie man an einigen Haͤuſern in Ber- lin ſieht? (*) S. Ca- ryatiden. Ueberhaupt muß in jedem einzeln, zur Feſtigkeit oder zur Verzierung vorhandenen Theil, außer einem guten Verhaͤltnis auch die Abſicht, warum er da iſt, in die Augen fallen, und aus dieſer Abſicht muß ſeine Beſchaffenheit beurtheilt werden. Eine Probe, wie eines jeden Theils Beſchaffenheit und Verhaͤltnis aus ſeiner Abſicht zu beurtheilen ſey, kann man aus den zu dem Gebaͤlke gehoͤrigen Theilen abnehmen, wovon die verſchiedenen Artikel nachzuſehen ſind. (*) Noch finden ſich verſchiedene hieher gehoͤrige Anmer- kungen in dem Artikel Baukunſt. (*) (*) S Ge- baͤlke, Fries, Dreyſchliz, Spatren- koͤpfe. Gebehrden. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die verſchiedenen Bewegungen und Stellungen des Koͤrpers und einzeler Gliedmaaßen deſſelben, in ſo fern ſie etwas Charakteriſtiſches haben, oder Aeuße- rungen H h h 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/439>, abgerufen am 02.05.2024.