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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Fal Fan
das häufige allzukleine in den Falten zu vermeiden;
sie müssen wie die Gruppen der Figuren und des
Lichts, wenig und große Massen ausmachen, so daß
jede kleine nicht für sich allein steht, sondern als ein
kleiner Theil einer Hauptgruppe untergeordnet ist.

Jn Rüksicht auf die Haltung und Harmonie
der Farben scheinet dieses die wichtigste Regel zu
(*) Traite
de la pein-
ture chap.
ccclviii.
seyn, die schon da Vinci gegeben hat; (*) Falten, in
deren Tiefe sehr dunkle Schatten seyn müßten, sollen
nicht an den Stellen des Gewandes kommen, auf
welche das stärkste Licht fällt; und im Gegentheil,
sollen an den dunkeln Stellen keine Falten so heraus-
stehen, daß ein starkes Licht auf sie fallen müßte.
Hernach aber muß auch besonders in Absicht auf die
Theile, auf denen die Hauptmasse des Lichts fällt,
alles das beobachtet werden, was vorher über die
Form der Falten angemerkt worden, weil es sonst
nicht möglich ist, der Hauptmasse des Lichts die wahre
Haltung zu geben. Mahler die sich einbilden, es
sey schon genug, daß sie die Falten nicht aus dem
Kopf, sondern nach der Natur, wie sie etwa an ei-
nem bekleideten Gliedermann liegen, nachmachen,
betrügen sich. Denn schon in der Natur können
sie schlecht und dem Gemählde verderblich seyn. Ein
feiner Kenner sagt, er habe in der französischen Aca-
demie in Rom den Direktor und zwölf Academisten
beysammen gesehen, welche ihr lebendiges Model
zu bekleiden und die Falten in gehörige Ordnung zu
legen, einen ganzen Nachmittag zugebracht haben,
ehe ihrem Geschmak Genüge geschehen. [Spaltenumbruch] (+)

Dieser Theil der Kunst erfodert einen großen Ge-
schmak, so gut als irgend ein anderer. Darum
übertrift Raphael auch hierin alle Mahler, so wie
er sie in Zeichnung und Ausdruk übertrift. Diesen
großen Mann müssen angehende Künstler zum Mu-
ster nehmen. Uebrigens verdienet vorzüglich über
diese Sache da Vinci, und der eben angezogene Ken-
ner, nachgelesen zu werden. (++)

Fantasiren; Fantasie.
(Musik.)

Wenn ein Tonkünstler ein Stük, so wie er es all-
mählig in Gedanken setzet, so fort auf einem Jn-
[Spaltenumbruch]

Fan
strumente spielt; oder wenn er nicht ein schon vor-
handenes Stük spielt, sondern eines, das er wäh-
rendem Spielen erfindet, so sagt man, er fantasire.
Also gehört zum Fantasiren eine große Fertigkeit
im Satz, besonders, wenn man auf Orgeln, Cla-
vieren oder Harffen vielstimmig fantasirt. Die auf
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nennt, was für einen Charakter sie sonst an sich ha-
ben. Ofte fantasirt man ohne Melodie blos der
Harmonie und Modulation halber; oft aber fanta-
sirt man so, daß das Stük den Charakter einer Arie,
oder eines Duets, oder eines andern singenden Stüks,
mit begleitendem Basse hat. Einige Fantasien
schweiffen von einer Gattung in die andre aus,
bald in ordentlichem Takt, bald ohne Takt u. s. f.

Die Fantasien von großen Meistern, besonders
die, welche aus einer gewissen Fülle der Empfindung
und in dem Feuer der Begeisterung gespielt werden,
sind oft, wie die ersten Entwürfe der Zeichner,
Werke von ausnehmender Kraft und Schönheit,
die bey einer gelassenen Gemüthslage nicht so könn-
ten verfertiget werden.

Es wäre demnach eine wichtige Sache, wenn
man ein Mittel hätte, die Fantasien großer Meister
aufzuschreiben. Das Mittel ist auch würklich er-
funden, und darf nur bekannt gemacht werden, und
von geschikten Männern die lezte Bearbeitung zur
Vollkommenheit bekommen.

Jn den Transactionen der Königl. Gesellschaft der
Wissenschaften in London befindet sich in der 483
Numer, die 1747 herausgekommen, ein kurzer
Aufsatz, in welchem ein englischer Geistlicher, Na-
mens Creed, den Entwurf zu einer Maschine angiebt,
welche ein Tonstük, indem es gespielt wird, in No-
ten setzt. [Spaltenumbruch] (+++) Nicht lang hernach nämlich 1749
hat ein auswärtiges Mitglied der Königl. Academie
der Wissenschaften von Berlin derselben eröfnet, daß
er seit einiger Zeit an einem Clavier arbeite, das die
Fantasien in Noten setzen könne, sich aber genöthi-
get sehe, die Sache wegen Mangel an einem ge-
schikten Arbeiter aufzugeben; er schikte zugleich der
Academie seinen Entwurf davon. Dieser Veran-
lasung haben wir die Erfindung des holfeldischen

Setz-
(+) S. Köremons Natur und Kunst in Gemählden
1 Theil 18 Kap.
(++) Traite de la peint. Chap. 158-164 und das ganze
18 Kap. bey Köremon.
(+++) A Letter from Mr. John Freke - - inclosing a pa-
per of Mr. Creed concerning a Machine to write down Ex-
tempore Voluntaries or other pieces of Music. Trausact.
Philos. Vol. 44. pag.
445.

[Spaltenumbruch]

Fal Fan
das haͤufige allzukleine in den Falten zu vermeiden;
ſie muͤſſen wie die Gruppen der Figuren und des
Lichts, wenig und große Maſſen ausmachen, ſo daß
jede kleine nicht fuͤr ſich allein ſteht, ſondern als ein
kleiner Theil einer Hauptgruppe untergeordnet iſt.

Jn Ruͤkſicht auf die Haltung und Harmonie
der Farben ſcheinet dieſes die wichtigſte Regel zu
(*) Traité
de la pein-
ture chap.
ccclviii.
ſeyn, die ſchon da Vinci gegeben hat; (*) Falten, in
deren Tiefe ſehr dunkle Schatten ſeyn muͤßten, ſollen
nicht an den Stellen des Gewandes kommen, auf
welche das ſtaͤrkſte Licht faͤllt; und im Gegentheil,
ſollen an den dunkeln Stellen keine Falten ſo heraus-
ſtehen, daß ein ſtarkes Licht auf ſie fallen muͤßte.
Hernach aber muß auch beſonders in Abſicht auf die
Theile, auf denen die Hauptmaſſe des Lichts faͤllt,
alles das beobachtet werden, was vorher uͤber die
Form der Falten angemerkt worden, weil es ſonſt
nicht moͤglich iſt, der Hauptmaſſe des Lichts die wahre
Haltung zu geben. Mahler die ſich einbilden, es
ſey ſchon genug, daß ſie die Falten nicht aus dem
Kopf, ſondern nach der Natur, wie ſie etwa an ei-
nem bekleideten Gliedermann liegen, nachmachen,
betruͤgen ſich. Denn ſchon in der Natur koͤnnen
ſie ſchlecht und dem Gemaͤhlde verderblich ſeyn. Ein
feiner Kenner ſagt, er habe in der franzoͤſiſchen Aca-
demie in Rom den Direktor und zwoͤlf Academiſten
beyſammen geſehen, welche ihr lebendiges Model
zu bekleiden und die Falten in gehoͤrige Ordnung zu
legen, einen ganzen Nachmittag zugebracht haben,
ehe ihrem Geſchmak Genuͤge geſchehen. [Spaltenumbruch] (†)

Dieſer Theil der Kunſt erfodert einen großen Ge-
ſchmak, ſo gut als irgend ein anderer. Darum
uͤbertrift Raphael auch hierin alle Mahler, ſo wie
er ſie in Zeichnung und Ausdruk uͤbertrift. Dieſen
großen Mann muͤſſen angehende Kuͤnſtler zum Mu-
ſter nehmen. Uebrigens verdienet vorzuͤglich uͤber
dieſe Sache da Vinci, und der eben angezogene Ken-
ner, nachgeleſen zu werden. (††)

Fantaſiren; Fantaſie.
(Muſik.)

Wenn ein Tonkuͤnſtler ein Stuͤk, ſo wie er es all-
maͤhlig in Gedanken ſetzet, ſo fort auf einem Jn-
[Spaltenumbruch]

Fan
ſtrumente ſpielt; oder wenn er nicht ein ſchon vor-
handenes Stuͤk ſpielt, ſondern eines, das er waͤh-
rendem Spielen erfindet, ſo ſagt man, er fantaſire.
Alſo gehoͤrt zum Fantaſiren eine große Fertigkeit
im Satz, beſonders, wenn man auf Orgeln, Cla-
vieren oder Harffen vielſtimmig fantaſirt. Die auf
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nennt, was fuͤr einen Charakter ſie ſonſt an ſich ha-
ben. Ofte fantaſirt man ohne Melodie blos der
Harmonie und Modulation halber; oft aber fanta-
ſirt man ſo, daß das Stuͤk den Charakter einer Arie,
oder eines Duets, oder eines andern ſingenden Stuͤks,
mit begleitendem Baſſe hat. Einige Fantaſien
ſchweiffen von einer Gattung in die andre aus,
bald in ordentlichem Takt, bald ohne Takt u. ſ. f.

Die Fantaſien von großen Meiſtern, beſonders
die, welche aus einer gewiſſen Fuͤlle der Empfindung
und in dem Feuer der Begeiſterung geſpielt werden,
ſind oft, wie die erſten Entwuͤrfe der Zeichner,
Werke von ausnehmender Kraft und Schoͤnheit,
die bey einer gelaſſenen Gemuͤthslage nicht ſo koͤnn-
ten verfertiget werden.

Es waͤre demnach eine wichtige Sache, wenn
man ein Mittel haͤtte, die Fantaſien großer Meiſter
aufzuſchreiben. Das Mittel iſt auch wuͤrklich er-
funden, und darf nur bekannt gemacht werden, und
von geſchikten Maͤnnern die lezte Bearbeitung zur
Vollkommenheit bekommen.

Jn den Tranſactionen der Koͤnigl. Geſellſchaft der
Wiſſenſchaften in London befindet ſich in der 483
Numer, die 1747 herausgekommen, ein kurzer
Aufſatz, in welchem ein engliſcher Geiſtlicher, Na-
mens Creed, den Entwurf zu einer Maſchine angiebt,
welche ein Tonſtuͤk, indem es geſpielt wird, in No-
ten ſetzt. [Spaltenumbruch] (†††) Nicht lang hernach naͤmlich 1749
hat ein auswaͤrtiges Mitglied der Koͤnigl. Academie
der Wiſſenſchaften von Berlin derſelben eroͤfnet, daß
er ſeit einiger Zeit an einem Clavier arbeite, das die
Fantaſien in Noten ſetzen koͤnne, ſich aber genoͤthi-
get ſehe, die Sache wegen Mangel an einem ge-
ſchikten Arbeiter aufzugeben; er ſchikte zugleich der
Academie ſeinen Entwurf davon. Dieſer Veran-
laſung haben wir die Erfindung des holfeldiſchen

Setz-
(†) S. Koͤremons Natur und Kunſt in Gemaͤhlden
1 Theil 18 Kap.
(††) Traité de la peint. Chap. 158-164 und das ganze
18 Kap. bey Koͤremon.
(†††) A Letter from Mr. John Freke - - incloſing a pa-
per of Mr. Creed concerning a Machine to write down Ex-
tempore Voluntaries or other pieces of Muſic. Trauſact.
Philoſ. Vol. 44. pag.
445.
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[368/0380] Fal Fan Fan das haͤufige allzukleine in den Falten zu vermeiden; ſie muͤſſen wie die Gruppen der Figuren und des Lichts, wenig und große Maſſen ausmachen, ſo daß jede kleine nicht fuͤr ſich allein ſteht, ſondern als ein kleiner Theil einer Hauptgruppe untergeordnet iſt. Jn Ruͤkſicht auf die Haltung und Harmonie der Farben ſcheinet dieſes die wichtigſte Regel zu ſeyn, die ſchon da Vinci gegeben hat; (*) Falten, in deren Tiefe ſehr dunkle Schatten ſeyn muͤßten, ſollen nicht an den Stellen des Gewandes kommen, auf welche das ſtaͤrkſte Licht faͤllt; und im Gegentheil, ſollen an den dunkeln Stellen keine Falten ſo heraus- ſtehen, daß ein ſtarkes Licht auf ſie fallen muͤßte. Hernach aber muß auch beſonders in Abſicht auf die Theile, auf denen die Hauptmaſſe des Lichts faͤllt, alles das beobachtet werden, was vorher uͤber die Form der Falten angemerkt worden, weil es ſonſt nicht moͤglich iſt, der Hauptmaſſe des Lichts die wahre Haltung zu geben. Mahler die ſich einbilden, es ſey ſchon genug, daß ſie die Falten nicht aus dem Kopf, ſondern nach der Natur, wie ſie etwa an ei- nem bekleideten Gliedermann liegen, nachmachen, betruͤgen ſich. Denn ſchon in der Natur koͤnnen ſie ſchlecht und dem Gemaͤhlde verderblich ſeyn. Ein feiner Kenner ſagt, er habe in der franzoͤſiſchen Aca- demie in Rom den Direktor und zwoͤlf Academiſten beyſammen geſehen, welche ihr lebendiges Model zu bekleiden und die Falten in gehoͤrige Ordnung zu legen, einen ganzen Nachmittag zugebracht haben, ehe ihrem Geſchmak Genuͤge geſchehen. (†) (*) Traité de la pein- ture chap. ccclviii. Dieſer Theil der Kunſt erfodert einen großen Ge- ſchmak, ſo gut als irgend ein anderer. Darum uͤbertrift Raphael auch hierin alle Mahler, ſo wie er ſie in Zeichnung und Ausdruk uͤbertrift. Dieſen großen Mann muͤſſen angehende Kuͤnſtler zum Mu- ſter nehmen. Uebrigens verdienet vorzuͤglich uͤber dieſe Sache da Vinci, und der eben angezogene Ken- ner, nachgeleſen zu werden. (††) Fantaſiren; Fantaſie. (Muſik.) Wenn ein Tonkuͤnſtler ein Stuͤk, ſo wie er es all- maͤhlig in Gedanken ſetzet, ſo fort auf einem Jn- ſtrumente ſpielt; oder wenn er nicht ein ſchon vor- handenes Stuͤk ſpielt, ſondern eines, das er waͤh- rendem Spielen erfindet, ſo ſagt man, er fantaſire. Alſo gehoͤrt zum Fantaſiren eine große Fertigkeit im Satz, beſonders, wenn man auf Orgeln, Cla- vieren oder Harffen vielſtimmig fantaſirt. Die auf dieſe Weiſe geſpielten Stuͤke werden Fantaſien ge- nennt, was fuͤr einen Charakter ſie ſonſt an ſich ha- ben. Ofte fantaſirt man ohne Melodie blos der Harmonie und Modulation halber; oft aber fanta- ſirt man ſo, daß das Stuͤk den Charakter einer Arie, oder eines Duets, oder eines andern ſingenden Stuͤks, mit begleitendem Baſſe hat. Einige Fantaſien ſchweiffen von einer Gattung in die andre aus, bald in ordentlichem Takt, bald ohne Takt u. ſ. f. Die Fantaſien von großen Meiſtern, beſonders die, welche aus einer gewiſſen Fuͤlle der Empfindung und in dem Feuer der Begeiſterung geſpielt werden, ſind oft, wie die erſten Entwuͤrfe der Zeichner, Werke von ausnehmender Kraft und Schoͤnheit, die bey einer gelaſſenen Gemuͤthslage nicht ſo koͤnn- ten verfertiget werden. Es waͤre demnach eine wichtige Sache, wenn man ein Mittel haͤtte, die Fantaſien großer Meiſter aufzuſchreiben. Das Mittel iſt auch wuͤrklich er- funden, und darf nur bekannt gemacht werden, und von geſchikten Maͤnnern die lezte Bearbeitung zur Vollkommenheit bekommen. Jn den Tranſactionen der Koͤnigl. Geſellſchaft der Wiſſenſchaften in London befindet ſich in der 483 Numer, die 1747 herausgekommen, ein kurzer Aufſatz, in welchem ein engliſcher Geiſtlicher, Na- mens Creed, den Entwurf zu einer Maſchine angiebt, welche ein Tonſtuͤk, indem es geſpielt wird, in No- ten ſetzt. (†††) Nicht lang hernach naͤmlich 1749 hat ein auswaͤrtiges Mitglied der Koͤnigl. Academie der Wiſſenſchaften von Berlin derſelben eroͤfnet, daß er ſeit einiger Zeit an einem Clavier arbeite, das die Fantaſien in Noten ſetzen koͤnne, ſich aber genoͤthi- get ſehe, die Sache wegen Mangel an einem ge- ſchikten Arbeiter aufzugeben; er ſchikte zugleich der Academie ſeinen Entwurf davon. Dieſer Veran- laſung haben wir die Erfindung des holfeldiſchen Setz- (†) S. Koͤremons Natur und Kunſt in Gemaͤhlden 1 Theil 18 Kap. (††) Traité de la peint. Chap. 158-164 und das ganze 18 Kap. bey Koͤremon. (†††) A Letter from Mr. John Freke - - incloſing a pa- per of Mr. Creed concerning a Machine to write down Ex- tempore Voluntaries or other pieces of Muſic. Trauſact. Philoſ. Vol. 44. pag. 445.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/380>, abgerufen am 22.11.2024.