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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Erw Erz
lungen gar zu einfach ist. Denn dadurch verliert
es seine ästhetische Kraft; es beschäftiget blos den
Verstand und hat keine Würkung auf das Gemüth.
Was also abstrakt und einfach gesagt worden, weil
die Natur der Sachen dieses erfodert, das muß
durch die Erweiterung der Einbildungskraft und dem
anschauenden Erkenntnis nun auch noch lebhafter,
sinnlicher, mit mehrern verstärkenden Nebenbegrif-
fen gesagt werden. So wie Haller, nachdem er
gesagt hat:

Unendlichkeit, wer misset dich?

durch Erweiterung hinzu thut

Vor dir sind Welten Tag' und Menschen Augenblicke.

Es ist überhaupt offenbar, daß die Kraft der
Beredsamkeit großen Theils von geschikten Erweite-
rungen abhange, ohne welche die gründlichste Rede
troken und ohne Kraft ist. Vielleicht hat der an sich
gründliche, aber alle Erweiterungen verschmähende
Vortrag der größten Philosophen, die seit einem hal-
ben Jahrhundert in Deutschland ein Licht angezündet,
worauf es sonst stolz seyn kann, gar viel dazu bey-
getragen, daß wir in der Beredsamkeit noch so weit
hinter andern Völkern zurüke geblieben sind.

Denen, welchen aufgetragen ist, die Jugend
zur Beredsamkeit anzuführen, kann man nicht genung
wiederholen, daß sie dieselbe fleißig, aber auch mit
hinlänglicher Gründlichkeit in allen Arten der Erwei-
terungen üben müssen. Aber weh ihnen, wenn sie
die wahre Kraft der Erweiterungen nicht fühlen;
wenn sie sich einbilden, es komme nur auf die Menge
der Wörter, auf bloße Wiederholung derselben Sa-
che in andern Ausdrüken, oder Aufhäufung einer
Menge nichtsbedeutender Nebenumständen an.

Wir wünschten zur Aufnahm der wahren Be-
redsamkeit, daß ein der Sache gewachsener Mann
die Arbeit auf sich nehmen möge, diesen wichtigen
Theil der Redekunst in seinem ganzen Umfang abzu-
handeln. Woher kommt es doch, daß wir eine so
große Menge critischer Schriften über alles, was
zur Dichtkunst gehört, haben, und so sehr wenig, was
der noch in der Zeugung liegenden Beredsamkeit
aufhelfen könnte?

Erzählung.
(Beredsamkeit.)

Ein Haupttheil derjenigen gerichtlichen Reden, in
denen es auf die Beurtheilung einer geschehenen
Sache ankommt. Der Zwek der Erzählung ist
[Spaltenumbruch]

Erz
dem Zuhörer den Verlauf der Sachen so vorzustel-
len, daß sein Urtheil darüber gelenkt werde. Die
alten Lehrer der Redner sind, wie man beym Her-
mogenes, Cicero und Quintilian sehen kann, sehr
weitläuftig hierüber. Da hier die Absicht gar nicht
ist den Advocaten Anleitung zu geben, wie durch
eine schlaue Erzählung eine böse Sache als gut, oder
eine gute als bös vorzustellen sey, sondern voraus-
gesetzt wird, der Redner wolle das, was er selbst
gesehen oder erzählen gehört hat, so wie er die
Sachen würklich faßt, wieder erzählen, so werden
wir uns nur bey Betrachtung einiger allgemeinen
Eigenschaften einer guten Erzählung aufhalten. Die
Kunst zu erzählen erfodert eigene Gaben, die man
nicht durch Regeln bekommt; alles, was die Critik
hier thun kann, ist, daß sie einige Winke und War-
nungen giebt.

Die Erzählung ist in der Beredsamkeit gerade
das, was das historische Gemähld in der Mahlerey
ist: beyde werden durch einerley Eigenschaften gut
oder schlecht. Jede Erzählung muß die geschehene
Sache klar und wahrhaft oder wahrscheinlich vorstel-
len, damit der Zuhörer über keinen zur Sache ge-
hörigen Umstand in Ungewißheit oder Zweifel bleibe.
Zur Klarheit gehört ausser dem guten und richtigen
Ausdruk, wodurch die Begriffe auf das genaueste
bestimmt werden, die Ordnung und die Vermei-
dung alles dessen, was eigentlich zur Sache nicht
gehört, was keinen Einflus, weder auf den Aus-
gang der Sache, noch auf das Urtheil, das man
von der Sache fällt, haben kann. Bey jeder Er-
zählung hat man eine gewisse Absicht, aus welcher
beurtheilt werden muß, was zur Sache gehört oder
nicht. Der Erzähler muß den Zwek der Erzählung,
die Vorstellung, die durch dieselbe in völlige Klar-
heit kommen soll, auf das deutlichste fassen, um zu
beurtheilen, was jeder einzele Umstand dazu beytra-
gen könne. Er muß sich auf das genaueste in die
Stelle seiner Zuhörer setzen, um zu erkennen, was
sie eigentlich durch seinen Vortrag erfahren wollen
oder müssen. Eine nothwendige Eigenschaft der Er-
zählung in Absicht auf die Klarheit ist die Gruppi-
rung der Sachen, das ist, die genaue Unterschei-
dung der Haupttheile. Die Erzählung muß nicht
so unabgesetzt in einem fortgehen, daß der Zuhörer
gar nichts begreife, bis man fertig ist. Sie muß
in ihre Hauptperioden abgetheilt seyn, deren jede
besonders kann gefaßt werden.

Zur

[Spaltenumbruch]

Erw Erz
lungen gar zu einfach iſt. Denn dadurch verliert
es ſeine aͤſthetiſche Kraft; es beſchaͤftiget blos den
Verſtand und hat keine Wuͤrkung auf das Gemuͤth.
Was alſo abſtrakt und einfach geſagt worden, weil
die Natur der Sachen dieſes erfodert, das muß
durch die Erweiterung der Einbildungskraft und dem
anſchauenden Erkenntnis nun auch noch lebhafter,
ſinnlicher, mit mehrern verſtaͤrkenden Nebenbegrif-
fen geſagt werden. So wie Haller, nachdem er
geſagt hat:

Unendlichkeit, wer miſſet dich?

durch Erweiterung hinzu thut

Vor dir ſind Welten Tag’ und Menſchen Augenblicke.

Es iſt uͤberhaupt offenbar, daß die Kraft der
Beredſamkeit großen Theils von geſchikten Erweite-
rungen abhange, ohne welche die gruͤndlichſte Rede
troken und ohne Kraft iſt. Vielleicht hat der an ſich
gruͤndliche, aber alle Erweiterungen verſchmaͤhende
Vortrag der groͤßten Philoſophen, die ſeit einem hal-
ben Jahrhundert in Deutſchland ein Licht angezuͤndet,
worauf es ſonſt ſtolz ſeyn kann, gar viel dazu bey-
getragen, daß wir in der Beredſamkeit noch ſo weit
hinter andern Voͤlkern zuruͤke geblieben ſind.

Denen, welchen aufgetragen iſt, die Jugend
zur Beredſamkeit anzufuͤhren, kann man nicht genung
wiederholen, daß ſie dieſelbe fleißig, aber auch mit
hinlaͤnglicher Gruͤndlichkeit in allen Arten der Erwei-
terungen uͤben muͤſſen. Aber weh ihnen, wenn ſie
die wahre Kraft der Erweiterungen nicht fuͤhlen;
wenn ſie ſich einbilden, es komme nur auf die Menge
der Woͤrter, auf bloße Wiederholung derſelben Sa-
che in andern Ausdruͤken, oder Aufhaͤufung einer
Menge nichtsbedeutender Nebenumſtaͤnden an.

Wir wuͤnſchten zur Aufnahm der wahren Be-
redſamkeit, daß ein der Sache gewachſener Mann
die Arbeit auf ſich nehmen moͤge, dieſen wichtigen
Theil der Redekunſt in ſeinem ganzen Umfang abzu-
handeln. Woher kommt es doch, daß wir eine ſo
große Menge critiſcher Schriften uͤber alles, was
zur Dichtkunſt gehoͤrt, haben, und ſo ſehr wenig, was
der noch in der Zeugung liegenden Beredſamkeit
aufhelfen koͤnnte?

Erzaͤhlung.
(Beredſamkeit.)

Ein Haupttheil derjenigen gerichtlichen Reden, in
denen es auf die Beurtheilung einer geſchehenen
Sache ankommt. Der Zwek der Erzaͤhlung iſt
[Spaltenumbruch]

Erz
dem Zuhoͤrer den Verlauf der Sachen ſo vorzuſtel-
len, daß ſein Urtheil daruͤber gelenkt werde. Die
alten Lehrer der Redner ſind, wie man beym Her-
mogenes, Cicero und Quintilian ſehen kann, ſehr
weitlaͤuftig hieruͤber. Da hier die Abſicht gar nicht
iſt den Advocaten Anleitung zu geben, wie durch
eine ſchlaue Erzaͤhlung eine boͤſe Sache als gut, oder
eine gute als boͤs vorzuſtellen ſey, ſondern voraus-
geſetzt wird, der Redner wolle das, was er ſelbſt
geſehen oder erzaͤhlen gehoͤrt hat, ſo wie er die
Sachen wuͤrklich faßt, wieder erzaͤhlen, ſo werden
wir uns nur bey Betrachtung einiger allgemeinen
Eigenſchaften einer guten Erzaͤhlung aufhalten. Die
Kunſt zu erzaͤhlen erfodert eigene Gaben, die man
nicht durch Regeln bekommt; alles, was die Critik
hier thun kann, iſt, daß ſie einige Winke und War-
nungen giebt.

Die Erzaͤhlung iſt in der Beredſamkeit gerade
das, was das hiſtoriſche Gemaͤhld in der Mahlerey
iſt: beyde werden durch einerley Eigenſchaften gut
oder ſchlecht. Jede Erzaͤhlung muß die geſchehene
Sache klar und wahrhaft oder wahrſcheinlich vorſtel-
len, damit der Zuhoͤrer uͤber keinen zur Sache ge-
hoͤrigen Umſtand in Ungewißheit oder Zweifel bleibe.
Zur Klarheit gehoͤrt auſſer dem guten und richtigen
Ausdruk, wodurch die Begriffe auf das genaueſte
beſtimmt werden, die Ordnung und die Vermei-
dung alles deſſen, was eigentlich zur Sache nicht
gehoͤrt, was keinen Einflus, weder auf den Aus-
gang der Sache, noch auf das Urtheil, das man
von der Sache faͤllt, haben kann. Bey jeder Er-
zaͤhlung hat man eine gewiſſe Abſicht, aus welcher
beurtheilt werden muß, was zur Sache gehoͤrt oder
nicht. Der Erzaͤhler muß den Zwek der Erzaͤhlung,
die Vorſtellung, die durch dieſelbe in voͤllige Klar-
heit kommen ſoll, auf das deutlichſte faſſen, um zu
beurtheilen, was jeder einzele Umſtand dazu beytra-
gen koͤnne. Er muß ſich auf das genaueſte in die
Stelle ſeiner Zuhoͤrer ſetzen, um zu erkennen, was
ſie eigentlich durch ſeinen Vortrag erfahren wollen
oder muͤſſen. Eine nothwendige Eigenſchaft der Er-
zaͤhlung in Abſicht auf die Klarheit iſt die Gruppi-
rung der Sachen, das iſt, die genaue Unterſchei-
dung der Haupttheile. Die Erzaͤhlung muß nicht
ſo unabgeſetzt in einem fortgehen, daß der Zuhoͤrer
gar nichts begreife, bis man fertig iſt. Sie muß
in ihre Hauptperioden abgetheilt ſeyn, deren jede
beſonders kann gefaßt werden.

Zur
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[352/0364] Erw Erz Erz lungen gar zu einfach iſt. Denn dadurch verliert es ſeine aͤſthetiſche Kraft; es beſchaͤftiget blos den Verſtand und hat keine Wuͤrkung auf das Gemuͤth. Was alſo abſtrakt und einfach geſagt worden, weil die Natur der Sachen dieſes erfodert, das muß durch die Erweiterung der Einbildungskraft und dem anſchauenden Erkenntnis nun auch noch lebhafter, ſinnlicher, mit mehrern verſtaͤrkenden Nebenbegrif- fen geſagt werden. So wie Haller, nachdem er geſagt hat: Unendlichkeit, wer miſſet dich? durch Erweiterung hinzu thut Vor dir ſind Welten Tag’ und Menſchen Augenblicke. Es iſt uͤberhaupt offenbar, daß die Kraft der Beredſamkeit großen Theils von geſchikten Erweite- rungen abhange, ohne welche die gruͤndlichſte Rede troken und ohne Kraft iſt. Vielleicht hat der an ſich gruͤndliche, aber alle Erweiterungen verſchmaͤhende Vortrag der groͤßten Philoſophen, die ſeit einem hal- ben Jahrhundert in Deutſchland ein Licht angezuͤndet, worauf es ſonſt ſtolz ſeyn kann, gar viel dazu bey- getragen, daß wir in der Beredſamkeit noch ſo weit hinter andern Voͤlkern zuruͤke geblieben ſind. Denen, welchen aufgetragen iſt, die Jugend zur Beredſamkeit anzufuͤhren, kann man nicht genung wiederholen, daß ſie dieſelbe fleißig, aber auch mit hinlaͤnglicher Gruͤndlichkeit in allen Arten der Erwei- terungen uͤben muͤſſen. Aber weh ihnen, wenn ſie die wahre Kraft der Erweiterungen nicht fuͤhlen; wenn ſie ſich einbilden, es komme nur auf die Menge der Woͤrter, auf bloße Wiederholung derſelben Sa- che in andern Ausdruͤken, oder Aufhaͤufung einer Menge nichtsbedeutender Nebenumſtaͤnden an. Wir wuͤnſchten zur Aufnahm der wahren Be- redſamkeit, daß ein der Sache gewachſener Mann die Arbeit auf ſich nehmen moͤge, dieſen wichtigen Theil der Redekunſt in ſeinem ganzen Umfang abzu- handeln. Woher kommt es doch, daß wir eine ſo große Menge critiſcher Schriften uͤber alles, was zur Dichtkunſt gehoͤrt, haben, und ſo ſehr wenig, was der noch in der Zeugung liegenden Beredſamkeit aufhelfen koͤnnte? Erzaͤhlung. (Beredſamkeit.) Ein Haupttheil derjenigen gerichtlichen Reden, in denen es auf die Beurtheilung einer geſchehenen Sache ankommt. Der Zwek der Erzaͤhlung iſt dem Zuhoͤrer den Verlauf der Sachen ſo vorzuſtel- len, daß ſein Urtheil daruͤber gelenkt werde. Die alten Lehrer der Redner ſind, wie man beym Her- mogenes, Cicero und Quintilian ſehen kann, ſehr weitlaͤuftig hieruͤber. Da hier die Abſicht gar nicht iſt den Advocaten Anleitung zu geben, wie durch eine ſchlaue Erzaͤhlung eine boͤſe Sache als gut, oder eine gute als boͤs vorzuſtellen ſey, ſondern voraus- geſetzt wird, der Redner wolle das, was er ſelbſt geſehen oder erzaͤhlen gehoͤrt hat, ſo wie er die Sachen wuͤrklich faßt, wieder erzaͤhlen, ſo werden wir uns nur bey Betrachtung einiger allgemeinen Eigenſchaften einer guten Erzaͤhlung aufhalten. Die Kunſt zu erzaͤhlen erfodert eigene Gaben, die man nicht durch Regeln bekommt; alles, was die Critik hier thun kann, iſt, daß ſie einige Winke und War- nungen giebt. Die Erzaͤhlung iſt in der Beredſamkeit gerade das, was das hiſtoriſche Gemaͤhld in der Mahlerey iſt: beyde werden durch einerley Eigenſchaften gut oder ſchlecht. Jede Erzaͤhlung muß die geſchehene Sache klar und wahrhaft oder wahrſcheinlich vorſtel- len, damit der Zuhoͤrer uͤber keinen zur Sache ge- hoͤrigen Umſtand in Ungewißheit oder Zweifel bleibe. Zur Klarheit gehoͤrt auſſer dem guten und richtigen Ausdruk, wodurch die Begriffe auf das genaueſte beſtimmt werden, die Ordnung und die Vermei- dung alles deſſen, was eigentlich zur Sache nicht gehoͤrt, was keinen Einflus, weder auf den Aus- gang der Sache, noch auf das Urtheil, das man von der Sache faͤllt, haben kann. Bey jeder Er- zaͤhlung hat man eine gewiſſe Abſicht, aus welcher beurtheilt werden muß, was zur Sache gehoͤrt oder nicht. Der Erzaͤhler muß den Zwek der Erzaͤhlung, die Vorſtellung, die durch dieſelbe in voͤllige Klar- heit kommen ſoll, auf das deutlichſte faſſen, um zu beurtheilen, was jeder einzele Umſtand dazu beytra- gen koͤnne. Er muß ſich auf das genaueſte in die Stelle ſeiner Zuhoͤrer ſetzen, um zu erkennen, was ſie eigentlich durch ſeinen Vortrag erfahren wollen oder muͤſſen. Eine nothwendige Eigenſchaft der Er- zaͤhlung in Abſicht auf die Klarheit iſt die Gruppi- rung der Sachen, das iſt, die genaue Unterſchei- dung der Haupttheile. Die Erzaͤhlung muß nicht ſo unabgeſetzt in einem fortgehen, daß der Zuhoͤrer gar nichts begreife, bis man fertig iſt. Sie muß in ihre Hauptperioden abgetheilt ſeyn, deren jede beſonders kann gefaßt werden. Zur

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/364>, abgerufen am 22.11.2024.