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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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che zugehörigen, Umständen und Eigenschaften, wo-
durch die Hauptvorstellung ihre wahre Größe und
Stärke erhält. Man kann nämlich eine Sache ent-
weder blos nennen, oder auf die kürzeste Weise nach
dem, was ihr wesentlich oder zufällig zukommt, an-
zeigen, oder man kann sie weitläuftiger nach ihren
Eigenschaften, Würkungen und verschiedenen Ver-
hältnissen beschreiben. Wenn also der Redner, nach-
dem er das, was wesentlich zu seinem Gegenstande
gehört, gesagt hat, noch etwas hinzuthut, um die
Vorstellung zu verstärken, sie lebhafter zu machen,
oder ihr eine weitere Ausdähnung zu geben, so gehört
dieses zur Erweiterung. Man setze, daß ein geistli-
cher Redner an einer Stelle seiner Rede nöthig habe,
die Vorstellung von Gottes Allwissenheit zu erweken.
Der Satz: Gott ist allwissend, wär hier das We-
fentliche, was er zu sagen hat; thut er hinzu: alles
Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige, was
würklich geschieht oder blos möglich ist, stellt sich
ihm deutlich dar; so ist dieser Zusatz eine Erwei-
terung.

Der Vortrag des Dichters und des Redners un-
terscheidet sich von dem Vortrag des forschenden
und lehrenden Philosophen hauptsächlich durch die
Erweiterungen, die ihnen vorzüglich eigen sind.
Bisweilen ist eine ganze Rede, oder ein ganzes Ge-
dicht nichts anders, als ein einziger Gedanken, der
durch mancherley Erweiterungen lebhafter und ein-
leuchtender gemacht worden. So ist die siebende
Ode des I Buches beym Horaz nichts anders, als
eine Erweiterung eines sehr einfachen Gedankens.

Ein wichtiger Theil der Kunst des Redners und
Dichters besteht demnach in der Geschiklichkeit zu
erweitern; wenigstens ist sie bey dem Redner bey-
nahe die Hauptsache. Wenn man von bekannten
Dingen zureden hat; wenn in einer lehrenden Rede
alles, was man anzubringen hat, klar und verständ-
lich ist, so sind die Erweiterungen das einzige Mit-
tel der Rede aufzuhelfen, die Aufmerksamkeit des
Zuhörers zu reizen und dem Vortrag ästhetische
Kraft zu geben.

Die Erweiterung hat sowol bey einzelen Gedan-
ken, oder bey besondern Theilen einer Rede, als
bey der ganzen Rede überhaupt statt, deren Wür-
kung beym Schluß dadurch verstärkt werden kann.
(*) Par-
titiones
Orat.
Jn so fern ist sie ein Haupttheil des Beschlusses der
Rede, und so sieht sie Cicero an. (*)

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Wenn man | das, was wesentlich zu Erwekung
gewisser Vorstellungen, zur Ueberzeugung oder zur
Rührung gehört, vorgetragen hat; so können we-
gen der völligen Würkung des Vorgetragenen noch
zweyerley Zweifel entstehen. Entweder hat der Zu-
hörer noch nicht Zeit genug gehabt sich den Vorstel-
lungen so zu überlassen, daß er ihre völlige Wür-
kung schon gefühlt hätte, denn dazu gehört allemal,
nach den Fähigkeiten des Zuhörers, mehr oder we-
niger Zeit; oder die Vorstellungen haben ihrer
Gründlichkeit und Richtigkeit ungeachtet nicht genug
ästhetische Kraft, weil sie zu abgezogen, zu einfach,
zu speculativ sind. Jn diesen beyden Fällen muß
der Nedner seine Zuflucht zur Erweiterung nehmen.
Sie verursachet im erstern Fall eine Verweilung auf
den Vorstellungen, von denen man die Würkung
erwartet. Der Zuhörer bekommt dadurch Zeit
sich den Eindrüken zu überlassen. Es geht bey
den offenbaresten Wahrheiten nicht an, daß der
Redner die Sätze so unaufgehalten nach einander
vortrage, wie man es bey einem geometrischen Be-
weis thut. Jeder Satz muß nothwendig eine
Zeitlang der Vorstellungskraft gegenwärtig seyn,
wenn man seine Wahrheit recht einleuchtend empfin-
den soll. Diese Verweilung kann nicht durch Un-
terbrechung des Vortrages, durch ein Verweilen
des Redners erhalten werden; er muß fortreden.
Also bleibet ihm nur das Mittel übrig, das, was
er gesagt hat, noch einmal auf eine andre Art zu
sagen; etwas hinzuzusetzen, das die Ausmerksamkeit
des Zuhörers auf denselben Begriffen unterhält;
dieselbe Hauptsach in einem andern und noch an-
dern Lichte zu zeigen. Dieses heißt aber den Satz
Erweitern. Man kann deswegen bey der Beweis-
art, die man Jnduktion nennt (*), diese Erweite-(*) S.
Beweisgt-
ten S. 161.

rung am leichtesten anbringen, wenn man mehrere
Fälle zum deutlichen Begriff der Sachen aussucht,
wovon das, was am angezogenen Ort aus dem Xe-
nophon angeführt worden, zum Beyspiel dienen
kann. Die Geschiklichkeit, die Zuhörer durch ge-
schikte Erweiterungen eine hinlängliche Weile bey
gewissen Hauptvorstellungen aufzuhalten, bis sie ihre
Würkung gethan haben, ist ohne Zweifel eines der
wichtigsten Talente des Redners, ohne welches die
höchste Gründlichkeit und Scharfsinnigkeit ihm sehr
wenig hilft.

Eben so nothwendig ist auch die Erweiterung in
dem andern Fall, wo das wesentliche der Vorstel-

lun-

[Spaltenumbruch]

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che zugehoͤrigen, Umſtaͤnden und Eigenſchaften, wo-
durch die Hauptvorſtellung ihre wahre Groͤße und
Staͤrke erhaͤlt. Man kann naͤmlich eine Sache ent-
weder blos nennen, oder auf die kuͤrzeſte Weiſe nach
dem, was ihr weſentlich oder zufaͤllig zukommt, an-
zeigen, oder man kann ſie weitlaͤuftiger nach ihren
Eigenſchaften, Wuͤrkungen und verſchiedenen Ver-
haͤltniſſen beſchreiben. Wenn alſo der Redner, nach-
dem er das, was weſentlich zu ſeinem Gegenſtande
gehoͤrt, geſagt hat, noch etwas hinzuthut, um die
Vorſtellung zu verſtaͤrken, ſie lebhafter zu machen,
oder ihr eine weitere Ausdaͤhnung zu geben, ſo gehoͤrt
dieſes zur Erweiterung. Man ſetze, daß ein geiſtli-
cher Redner an einer Stelle ſeiner Rede noͤthig habe,
die Vorſtellung von Gottes Allwiſſenheit zu erweken.
Der Satz: Gott iſt allwiſſend, waͤr hier das We-
fentliche, was er zu ſagen hat; thut er hinzu: alles
Vergangene, Gegenwaͤrtige und Zukuͤnftige, was
wuͤrklich geſchieht oder blos moͤglich iſt, ſtellt ſich
ihm deutlich dar; ſo iſt dieſer Zuſatz eine Erwei-
terung.

Der Vortrag des Dichters und des Redners un-
terſcheidet ſich von dem Vortrag des forſchenden
und lehrenden Philoſophen hauptſaͤchlich durch die
Erweiterungen, die ihnen vorzuͤglich eigen ſind.
Bisweilen iſt eine ganze Rede, oder ein ganzes Ge-
dicht nichts anders, als ein einziger Gedanken, der
durch mancherley Erweiterungen lebhafter und ein-
leuchtender gemacht worden. So iſt die ſiebende
Ode des I Buches beym Horaz nichts anders, als
eine Erweiterung eines ſehr einfachen Gedankens.

Ein wichtiger Theil der Kunſt des Redners und
Dichters beſteht demnach in der Geſchiklichkeit zu
erweitern; wenigſtens iſt ſie bey dem Redner bey-
nahe die Hauptſache. Wenn man von bekannten
Dingen zureden hat; wenn in einer lehrenden Rede
alles, was man anzubringen hat, klar und verſtaͤnd-
lich iſt, ſo ſind die Erweiterungen das einzige Mit-
tel der Rede aufzuhelfen, die Aufmerkſamkeit des
Zuhoͤrers zu reizen und dem Vortrag aͤſthetiſche
Kraft zu geben.

Die Erweiterung hat ſowol bey einzelen Gedan-
ken, oder bey beſondern Theilen einer Rede, als
bey der ganzen Rede uͤberhaupt ſtatt, deren Wuͤr-
kung beym Schluß dadurch verſtaͤrkt werden kann.
(*) Par-
titiones
Orat.
Jn ſo fern iſt ſie ein Haupttheil des Beſchluſſes der
Rede, und ſo ſieht ſie Cicero an. (*)

[Spaltenumbruch]
Erw

Wenn man | das, was weſentlich zu Erwekung
gewiſſer Vorſtellungen, zur Ueberzeugung oder zur
Ruͤhrung gehoͤrt, vorgetragen hat; ſo koͤnnen we-
gen der voͤlligen Wuͤrkung des Vorgetragenen noch
zweyerley Zweifel entſtehen. Entweder hat der Zu-
hoͤrer noch nicht Zeit genug gehabt ſich den Vorſtel-
lungen ſo zu uͤberlaſſen, daß er ihre voͤllige Wuͤr-
kung ſchon gefuͤhlt haͤtte, denn dazu gehoͤrt allemal,
nach den Faͤhigkeiten des Zuhoͤrers, mehr oder we-
niger Zeit; oder die Vorſtellungen haben ihrer
Gruͤndlichkeit und Richtigkeit ungeachtet nicht genug
aͤſthetiſche Kraft, weil ſie zu abgezogen, zu einfach,
zu ſpeculativ ſind. Jn dieſen beyden Faͤllen muß
der Nedner ſeine Zuflucht zur Erweiterung nehmen.
Sie verurſachet im erſtern Fall eine Verweilung auf
den Vorſtellungen, von denen man die Wuͤrkung
erwartet. Der Zuhoͤrer bekommt dadurch Zeit
ſich den Eindruͤken zu uͤberlaſſen. Es geht bey
den offenbareſten Wahrheiten nicht an, daß der
Redner die Saͤtze ſo unaufgehalten nach einander
vortrage, wie man es bey einem geometriſchen Be-
weis thut. Jeder Satz muß nothwendig eine
Zeitlang der Vorſtellungskraft gegenwaͤrtig ſeyn,
wenn man ſeine Wahrheit recht einleuchtend empfin-
den ſoll. Dieſe Verweilung kann nicht durch Un-
terbrechung des Vortrages, durch ein Verweilen
des Redners erhalten werden; er muß fortreden.
Alſo bleibet ihm nur das Mittel uͤbrig, das, was
er geſagt hat, noch einmal auf eine andre Art zu
ſagen; etwas hinzuzuſetzen, das die Auſmerkſamkeit
des Zuhoͤrers auf denſelben Begriffen unterhaͤlt;
dieſelbe Hauptſach in einem andern und noch an-
dern Lichte zu zeigen. Dieſes heißt aber den Satz
Erweitern. Man kann deswegen bey der Beweis-
art, die man Jnduktion nennt (*), dieſe Erweite-(*) S.
Beweisgt-
ten S. 161.

rung am leichteſten anbringen, wenn man mehrere
Faͤlle zum deutlichen Begriff der Sachen ausſucht,
wovon das, was am angezogenen Ort aus dem Xe-
nophon angefuͤhrt worden, zum Beyſpiel dienen
kann. Die Geſchiklichkeit, die Zuhoͤrer durch ge-
ſchikte Erweiterungen eine hinlaͤngliche Weile bey
gewiſſen Hauptvorſtellungen aufzuhalten, bis ſie ihre
Wuͤrkung gethan haben, iſt ohne Zweifel eines der
wichtigſten Talente des Redners, ohne welches die
hoͤchſte Gruͤndlichkeit und Scharfſinnigkeit ihm ſehr
wenig hilft.

Eben ſo nothwendig iſt auch die Erweiterung in
dem andern Fall, wo das weſentliche der Vorſtel-

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[351/0363] Erw Erw che zugehoͤrigen, Umſtaͤnden und Eigenſchaften, wo- durch die Hauptvorſtellung ihre wahre Groͤße und Staͤrke erhaͤlt. Man kann naͤmlich eine Sache ent- weder blos nennen, oder auf die kuͤrzeſte Weiſe nach dem, was ihr weſentlich oder zufaͤllig zukommt, an- zeigen, oder man kann ſie weitlaͤuftiger nach ihren Eigenſchaften, Wuͤrkungen und verſchiedenen Ver- haͤltniſſen beſchreiben. Wenn alſo der Redner, nach- dem er das, was weſentlich zu ſeinem Gegenſtande gehoͤrt, geſagt hat, noch etwas hinzuthut, um die Vorſtellung zu verſtaͤrken, ſie lebhafter zu machen, oder ihr eine weitere Ausdaͤhnung zu geben, ſo gehoͤrt dieſes zur Erweiterung. Man ſetze, daß ein geiſtli- cher Redner an einer Stelle ſeiner Rede noͤthig habe, die Vorſtellung von Gottes Allwiſſenheit zu erweken. Der Satz: Gott iſt allwiſſend, waͤr hier das We- fentliche, was er zu ſagen hat; thut er hinzu: alles Vergangene, Gegenwaͤrtige und Zukuͤnftige, was wuͤrklich geſchieht oder blos moͤglich iſt, ſtellt ſich ihm deutlich dar; ſo iſt dieſer Zuſatz eine Erwei- terung. Der Vortrag des Dichters und des Redners un- terſcheidet ſich von dem Vortrag des forſchenden und lehrenden Philoſophen hauptſaͤchlich durch die Erweiterungen, die ihnen vorzuͤglich eigen ſind. Bisweilen iſt eine ganze Rede, oder ein ganzes Ge- dicht nichts anders, als ein einziger Gedanken, der durch mancherley Erweiterungen lebhafter und ein- leuchtender gemacht worden. So iſt die ſiebende Ode des I Buches beym Horaz nichts anders, als eine Erweiterung eines ſehr einfachen Gedankens. Ein wichtiger Theil der Kunſt des Redners und Dichters beſteht demnach in der Geſchiklichkeit zu erweitern; wenigſtens iſt ſie bey dem Redner bey- nahe die Hauptſache. Wenn man von bekannten Dingen zureden hat; wenn in einer lehrenden Rede alles, was man anzubringen hat, klar und verſtaͤnd- lich iſt, ſo ſind die Erweiterungen das einzige Mit- tel der Rede aufzuhelfen, die Aufmerkſamkeit des Zuhoͤrers zu reizen und dem Vortrag aͤſthetiſche Kraft zu geben. Die Erweiterung hat ſowol bey einzelen Gedan- ken, oder bey beſondern Theilen einer Rede, als bey der ganzen Rede uͤberhaupt ſtatt, deren Wuͤr- kung beym Schluß dadurch verſtaͤrkt werden kann. Jn ſo fern iſt ſie ein Haupttheil des Beſchluſſes der Rede, und ſo ſieht ſie Cicero an. (*) (*) Par- titiones Orat. Wenn man | das, was weſentlich zu Erwekung gewiſſer Vorſtellungen, zur Ueberzeugung oder zur Ruͤhrung gehoͤrt, vorgetragen hat; ſo koͤnnen we- gen der voͤlligen Wuͤrkung des Vorgetragenen noch zweyerley Zweifel entſtehen. Entweder hat der Zu- hoͤrer noch nicht Zeit genug gehabt ſich den Vorſtel- lungen ſo zu uͤberlaſſen, daß er ihre voͤllige Wuͤr- kung ſchon gefuͤhlt haͤtte, denn dazu gehoͤrt allemal, nach den Faͤhigkeiten des Zuhoͤrers, mehr oder we- niger Zeit; oder die Vorſtellungen haben ihrer Gruͤndlichkeit und Richtigkeit ungeachtet nicht genug aͤſthetiſche Kraft, weil ſie zu abgezogen, zu einfach, zu ſpeculativ ſind. Jn dieſen beyden Faͤllen muß der Nedner ſeine Zuflucht zur Erweiterung nehmen. Sie verurſachet im erſtern Fall eine Verweilung auf den Vorſtellungen, von denen man die Wuͤrkung erwartet. Der Zuhoͤrer bekommt dadurch Zeit ſich den Eindruͤken zu uͤberlaſſen. Es geht bey den offenbareſten Wahrheiten nicht an, daß der Redner die Saͤtze ſo unaufgehalten nach einander vortrage, wie man es bey einem geometriſchen Be- weis thut. Jeder Satz muß nothwendig eine Zeitlang der Vorſtellungskraft gegenwaͤrtig ſeyn, wenn man ſeine Wahrheit recht einleuchtend empfin- den ſoll. Dieſe Verweilung kann nicht durch Un- terbrechung des Vortrages, durch ein Verweilen des Redners erhalten werden; er muß fortreden. Alſo bleibet ihm nur das Mittel uͤbrig, das, was er geſagt hat, noch einmal auf eine andre Art zu ſagen; etwas hinzuzuſetzen, das die Auſmerkſamkeit des Zuhoͤrers auf denſelben Begriffen unterhaͤlt; dieſelbe Hauptſach in einem andern und noch an- dern Lichte zu zeigen. Dieſes heißt aber den Satz Erweitern. Man kann deswegen bey der Beweis- art, die man Jnduktion nennt (*), dieſe Erweite- rung am leichteſten anbringen, wenn man mehrere Faͤlle zum deutlichen Begriff der Sachen ausſucht, wovon das, was am angezogenen Ort aus dem Xe- nophon angefuͤhrt worden, zum Beyſpiel dienen kann. Die Geſchiklichkeit, die Zuhoͤrer durch ge- ſchikte Erweiterungen eine hinlaͤngliche Weile bey gewiſſen Hauptvorſtellungen aufzuhalten, bis ſie ihre Wuͤrkung gethan haben, iſt ohne Zweifel eines der wichtigſten Talente des Redners, ohne welches die hoͤchſte Gruͤndlichkeit und Scharfſinnigkeit ihm ſehr wenig hilft. (*) S. Beweisgt- ten S. 161. Eben ſo nothwendig iſt auch die Erweiterung in dem andern Fall, wo das weſentliche der Vorſtel- lun-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/363>, abgerufen am 07.05.2024.