Zur Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit ist vor allen Dingen nothwendig, daß keine Lüke in der Erzählung gelassen, daß nichts übergangen werde, daraus das, was hernach folget, begreifflich wird. Aber dieses ist noch nicht allemal hinlänglich. Ge- wisse Theile der Erzählung müssen genau, umständ- lich und durch solche Kleinigkeiten ausgezeichnet seyn, daß der Zuhörer bey der Sache gegenwärtig zu seyn glaubet. Dadurch wird die Erzählung um so mehr wahrscheinlich, da der Zuhörer sich nicht vorstellen kann, daß alles so umständlich würde können be- zeichnet werden, wenn sich die Sachen nicht würklich so verhielten. So wie es gewisse Gemählde giebt, von denen man leicht urtheilen kann, daß sie blos aus der Phantasie, nach einem Jdeal gemacht sind, andre hingegen, wo man aus verschiedenen sehr zufälligen Kleinigkeiten gewiß erkennt, daß sie nach der Natur gemacht sind; so ist es auch mit den Er- zählungen beschaffen, deren Wahrheit oder Erdich- tung man aus Kleinigkeiten am besten beurtheilet. (*) L. IV. C. §. 41.Folgendes Beyspiel aus dem Quintilianus (*) kann zur Erläuterung dienen. In portum veni, navim prospexi, quanti veheret interrogavi, de pretio convenit, conscendi, sublatae sunt anchorae, solvi- mus oram, profecti sumus. Alles dieses sagt im Grunde nichts anders, als die zwey Worte: E portu navigavi. Aber das ausgezeichnete Gemählde macht, daß man die Sache zu sehen glaubt. Da bey jeder Erzählung etwas die Hauptsach ist, das, wornach alles andre beurtheilt wird, diese Hauptsach aber, (*) Grup- pe.wie die Hauptgruppe des Mahlers (*) in dem Ge- mählde, voranstehen und am deutlichsten ins Gesicht fallen muß; so muß der Redner durch Bezeichnung kleiner Umstände, die Hauptsache nahe vor das Gesicht bringen. Darin ist Homer ein großer Mei- ster der Kunst. Die Hauptsachen heben sich in sei- nen Gemählden vom Grund heraus, und kommen ganz nahe.
Einen großen Grad der Wahrheit kann auch der Ton der Rede einer Erzählung geben. Ein den Sa- chen, die man erzählt, völlig angemessener Ton, der sich währender Erzählung immer nach der Beschaf- fenheit der Dinge, die erzählt werden, abändert, ist beynahe allein hinreichend die ganze Sache wahr- scheinlich zu machen; so wie ein falscher Ton, be- sonders da man zur Unzeit wichtig thut, oder ins (*) S. Ton der Rede.declamatorische verfällt, einen sehr großen Verdacht der Unwahrheit erweken kann. (*)
[Spaltenumbruch]
Erz
Es erhellet hieraus hinlänglich, daß es eine höchst schweere Sach ist, gut zu erzählen, und viel- leicht erfodert kein Theil der Beredsamkeit fleißigere Uebung, als dieser.
Hermogenes unterscheidet drey Hauptgattungen die Erzählung zu behandeln, die einfache, die aus- geführte, die zierliche. Die erste erzählt die Sache schlechtweg, wie sie geschehen ist, ohne sich in irgend eine Art der Ausschweiffung einzulassen. Sie wird da gebraucht, wo die geschehene Sache an sich selbst mit den dabey vorkommenden Umständen hinrei- chend ist, dem Zuhörer die Begriffe zu geben, die unsrer Absicht gemäß sind. Von dieser Art ist die Erzählung in des Demosthenes Rede gegen den Conon. Die Sache war an sich so klar, daß der natürlichste Vortrag derselben am geschicktesten war, die Zuhörer gegen den Beklagten einzunehmen.
Die ausgeführte Art besteht darin, daß der Redner verschiedenes beybringt, das in der gesche- henen Sache nicht offenbar liegt, indem er Ursa- chen davon angiebt, Absichten aufdekt, und etwa Umstände ergänzt, alles in der Absicht die Sache gut oder schlecht vorzustellen. Er hilft also dem Urtheil des Zuhörers dabey, da er im erstern Fall es ihm gänzlich frey gelassen hat. Diese Art ist nö- thig, wo die vorzutragende Sache etwas zweydeu- tig ist, so daß der Zuhörer, wenn ihm die Sache einfach erzählt würde, auch wol ein ander Urtheil davon fällen, oder sie anders fassen könnte, als es die Absicht des Redners erfodert.
Die zierliche Art trägt die Sache mit Zusätzen vor, welche die Einbildungskraft des Zuhörers ein- nehmen. Er mischt Bilder und Nebenumstände in die Sache, welche ihn für oder gegen die Begeben- heit einnehmen, welche er entweder auf eine vor- theilhafte oder verhaßte Weise vorstellt, so daß er das Urtheil des Zuhörers schon in der Erzählung selbst lenkt. Er braucht die Farben der Beredsam- keit sein Gemähld desto kräftiger zu machen. Die- ses ist bey gerichtlichen Erzählungen ein Kunstgriff, der den Sachen den Ausschlag geben kann; und darin war Cicero ein großer Meister. Man über- lege folgende Stelle. Anstatt blos zu sagen: Quin- ctius trauete dem Versprechen des Nävius, trägt er die Sache so vor: Quia, quod virum bonum facere oportebat, id loquebatur Naevius; credit Quinctius eum, qui orationem bonorum imitaretur, facta quo- que imitaturum. Dergleichen Wendungen sind um
so
Erster Theil. Y y
[Spaltenumbruch]
Erz
Zur Wahrheit oder Wahrſcheinlichkeit iſt vor allen Dingen nothwendig, daß keine Luͤke in der Erzaͤhlung gelaſſen, daß nichts uͤbergangen werde, daraus das, was hernach folget, begreifflich wird. Aber dieſes iſt noch nicht allemal hinlaͤnglich. Ge- wiſſe Theile der Erzaͤhlung muͤſſen genau, umſtaͤnd- lich und durch ſolche Kleinigkeiten ausgezeichnet ſeyn, daß der Zuhoͤrer bey der Sache gegenwaͤrtig zu ſeyn glaubet. Dadurch wird die Erzaͤhlung um ſo mehr wahrſcheinlich, da der Zuhoͤrer ſich nicht vorſtellen kann, daß alles ſo umſtaͤndlich wuͤrde koͤnnen be- zeichnet werden, wenn ſich die Sachen nicht wuͤrklich ſo verhielten. So wie es gewiſſe Gemaͤhlde giebt, von denen man leicht urtheilen kann, daß ſie blos aus der Phantaſie, nach einem Jdeal gemacht ſind, andre hingegen, wo man aus verſchiedenen ſehr zufaͤlligen Kleinigkeiten gewiß erkennt, daß ſie nach der Natur gemacht ſind; ſo iſt es auch mit den Er- zaͤhlungen beſchaffen, deren Wahrheit oder Erdich- tung man aus Kleinigkeiten am beſten beurtheilet. (*) L. IV. C. §. 41.Folgendes Beyſpiel aus dem Quintilianus (*) kann zur Erlaͤuterung dienen. In portum veni, navim proſpexi, quanti veheret interrogavi, de pretio convenit, conſcendi, ſublatæ ſunt anchoræ, ſolvi- mus oram, profecti ſumus. Alles dieſes ſagt im Grunde nichts anders, als die zwey Worte: E portu navigavi. Aber das ausgezeichnete Gemaͤhlde macht, daß man die Sache zu ſehen glaubt. Da bey jeder Erzaͤhlung etwas die Hauptſach iſt, das, wornach alles andre beurtheilt wird, dieſe Hauptſach aber, (*) Grup- pe.wie die Hauptgruppe des Mahlers (*) in dem Ge- maͤhlde, voranſtehen und am deutlichſten ins Geſicht fallen muß; ſo muß der Redner durch Bezeichnung kleiner Umſtaͤnde, die Hauptſache nahe vor das Geſicht bringen. Darin iſt Homer ein großer Mei- ſter der Kunſt. Die Hauptſachen heben ſich in ſei- nen Gemaͤhlden vom Grund heraus, und kommen ganz nahe.
Einen großen Grad der Wahrheit kann auch der Ton der Rede einer Erzaͤhlung geben. Ein den Sa- chen, die man erzaͤhlt, voͤllig angemeſſener Ton, der ſich waͤhrender Erzaͤhlung immer nach der Beſchaf- fenheit der Dinge, die erzaͤhlt werden, abaͤndert, iſt beynahe allein hinreichend die ganze Sache wahr- ſcheinlich zu machen; ſo wie ein falſcher Ton, be- ſonders da man zur Unzeit wichtig thut, oder ins (*) S. Ton der Rede.declamatoriſche verfaͤllt, einen ſehr großen Verdacht der Unwahrheit erweken kann. (*)
[Spaltenumbruch]
Erz
Es erhellet hieraus hinlaͤnglich, daß es eine hoͤchſt ſchweere Sach iſt, gut zu erzaͤhlen, und viel- leicht erfodert kein Theil der Beredſamkeit fleißigere Uebung, als dieſer.
Hermogenes unterſcheidet drey Hauptgattungen die Erzaͤhlung zu behandeln, die einfache, die aus- gefuͤhrte, die zierliche. Die erſte erzaͤhlt die Sache ſchlechtweg, wie ſie geſchehen iſt, ohne ſich in irgend eine Art der Ausſchweiffung einzulaſſen. Sie wird da gebraucht, wo die geſchehene Sache an ſich ſelbſt mit den dabey vorkommenden Umſtaͤnden hinrei- chend iſt, dem Zuhoͤrer die Begriffe zu geben, die unſrer Abſicht gemaͤß ſind. Von dieſer Art iſt die Erzaͤhlung in des Demoſthenes Rede gegen den Conon. Die Sache war an ſich ſo klar, daß der natuͤrlichſte Vortrag derſelben am geſchickteſten war, die Zuhoͤrer gegen den Beklagten einzunehmen.
Die ausgefuͤhrte Art beſteht darin, daß der Redner verſchiedenes beybringt, das in der geſche- henen Sache nicht offenbar liegt, indem er Urſa- chen davon angiebt, Abſichten aufdekt, und etwa Umſtaͤnde ergaͤnzt, alles in der Abſicht die Sache gut oder ſchlecht vorzuſtellen. Er hilft alſo dem Urtheil des Zuhoͤrers dabey, da er im erſtern Fall es ihm gaͤnzlich frey gelaſſen hat. Dieſe Art iſt noͤ- thig, wo die vorzutragende Sache etwas zweydeu- tig iſt, ſo daß der Zuhoͤrer, wenn ihm die Sache einfach erzaͤhlt wuͤrde, auch wol ein ander Urtheil davon faͤllen, oder ſie anders faſſen koͤnnte, als es die Abſicht des Redners erfodert.
Die zierliche Art traͤgt die Sache mit Zuſaͤtzen vor, welche die Einbildungskraft des Zuhoͤrers ein- nehmen. Er miſcht Bilder und Nebenumſtaͤnde in die Sache, welche ihn fuͤr oder gegen die Begeben- heit einnehmen, welche er entweder auf eine vor- theilhafte oder verhaßte Weiſe vorſtellt, ſo daß er das Urtheil des Zuhoͤrers ſchon in der Erzaͤhlung ſelbſt lenkt. Er braucht die Farben der Beredſam- keit ſein Gemaͤhld deſto kraͤftiger zu machen. Die- ſes iſt bey gerichtlichen Erzaͤhlungen ein Kunſtgriff, der den Sachen den Ausſchlag geben kann; und darin war Cicero ein großer Meiſter. Man uͤber- lege folgende Stelle. Anſtatt blos zu ſagen: Quin- ctius trauete dem Verſprechen des Naͤvius, traͤgt er die Sache ſo vor: Quia, quod virum bonum facere oportebat, id loquebatur Nævius; credit Quinctius eum, qui orationem bonorum imitaretur, facta quo- que imitaturum. Dergleichen Wendungen ſind um
ſo
Erſter Theil. Y y
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[353/0365]
Erz
Erz
Zur Wahrheit oder Wahrſcheinlichkeit iſt vor
allen Dingen nothwendig, daß keine Luͤke in der
Erzaͤhlung gelaſſen, daß nichts uͤbergangen werde,
daraus das, was hernach folget, begreifflich wird.
Aber dieſes iſt noch nicht allemal hinlaͤnglich. Ge-
wiſſe Theile der Erzaͤhlung muͤſſen genau, umſtaͤnd-
lich und durch ſolche Kleinigkeiten ausgezeichnet ſeyn,
daß der Zuhoͤrer bey der Sache gegenwaͤrtig zu ſeyn
glaubet. Dadurch wird die Erzaͤhlung um ſo mehr
wahrſcheinlich, da der Zuhoͤrer ſich nicht vorſtellen
kann, daß alles ſo umſtaͤndlich wuͤrde koͤnnen be-
zeichnet werden, wenn ſich die Sachen nicht wuͤrklich
ſo verhielten. So wie es gewiſſe Gemaͤhlde giebt,
von denen man leicht urtheilen kann, daß ſie blos
aus der Phantaſie, nach einem Jdeal gemacht ſind,
andre hingegen, wo man aus verſchiedenen ſehr
zufaͤlligen Kleinigkeiten gewiß erkennt, daß ſie nach
der Natur gemacht ſind; ſo iſt es auch mit den Er-
zaͤhlungen beſchaffen, deren Wahrheit oder Erdich-
tung man aus Kleinigkeiten am beſten beurtheilet.
Folgendes Beyſpiel aus dem Quintilianus (*) kann
zur Erlaͤuterung dienen. In portum veni, navim
proſpexi, quanti veheret interrogavi, de pretio
convenit, conſcendi, ſublatæ ſunt anchoræ, ſolvi-
mus oram, profecti ſumus. Alles dieſes ſagt im
Grunde nichts anders, als die zwey Worte: E portu
navigavi. Aber das ausgezeichnete Gemaͤhlde macht,
daß man die Sache zu ſehen glaubt. Da bey jeder
Erzaͤhlung etwas die Hauptſach iſt, das, wornach
alles andre beurtheilt wird, dieſe Hauptſach aber,
wie die Hauptgruppe des Mahlers (*) in dem Ge-
maͤhlde, voranſtehen und am deutlichſten ins Geſicht
fallen muß; ſo muß der Redner durch Bezeichnung
kleiner Umſtaͤnde, die Hauptſache nahe vor das
Geſicht bringen. Darin iſt Homer ein großer Mei-
ſter der Kunſt. Die Hauptſachen heben ſich in ſei-
nen Gemaͤhlden vom Grund heraus, und kommen
ganz nahe.
(*) L. IV.
C. §. 41.
(*) Grup-
pe.
Einen großen Grad der Wahrheit kann auch der
Ton der Rede einer Erzaͤhlung geben. Ein den Sa-
chen, die man erzaͤhlt, voͤllig angemeſſener Ton, der
ſich waͤhrender Erzaͤhlung immer nach der Beſchaf-
fenheit der Dinge, die erzaͤhlt werden, abaͤndert,
iſt beynahe allein hinreichend die ganze Sache wahr-
ſcheinlich zu machen; ſo wie ein falſcher Ton, be-
ſonders da man zur Unzeit wichtig thut, oder ins
declamatoriſche verfaͤllt, einen ſehr großen Verdacht
der Unwahrheit erweken kann. (*)
(*) S.
Ton der
Rede.
Es erhellet hieraus hinlaͤnglich, daß es eine
hoͤchſt ſchweere Sach iſt, gut zu erzaͤhlen, und viel-
leicht erfodert kein Theil der Beredſamkeit fleißigere
Uebung, als dieſer.
Hermogenes unterſcheidet drey Hauptgattungen
die Erzaͤhlung zu behandeln, die einfache, die aus-
gefuͤhrte, die zierliche. Die erſte erzaͤhlt die Sache
ſchlechtweg, wie ſie geſchehen iſt, ohne ſich in irgend
eine Art der Ausſchweiffung einzulaſſen. Sie wird
da gebraucht, wo die geſchehene Sache an ſich ſelbſt
mit den dabey vorkommenden Umſtaͤnden hinrei-
chend iſt, dem Zuhoͤrer die Begriffe zu geben, die
unſrer Abſicht gemaͤß ſind. Von dieſer Art iſt die
Erzaͤhlung in des Demoſthenes Rede gegen den
Conon. Die Sache war an ſich ſo klar, daß der
natuͤrlichſte Vortrag derſelben am geſchickteſten war,
die Zuhoͤrer gegen den Beklagten einzunehmen.
Die ausgefuͤhrte Art beſteht darin, daß der
Redner verſchiedenes beybringt, das in der geſche-
henen Sache nicht offenbar liegt, indem er Urſa-
chen davon angiebt, Abſichten aufdekt, und etwa
Umſtaͤnde ergaͤnzt, alles in der Abſicht die Sache
gut oder ſchlecht vorzuſtellen. Er hilft alſo dem
Urtheil des Zuhoͤrers dabey, da er im erſtern Fall
es ihm gaͤnzlich frey gelaſſen hat. Dieſe Art iſt noͤ-
thig, wo die vorzutragende Sache etwas zweydeu-
tig iſt, ſo daß der Zuhoͤrer, wenn ihm die Sache
einfach erzaͤhlt wuͤrde, auch wol ein ander Urtheil
davon faͤllen, oder ſie anders faſſen koͤnnte, als es
die Abſicht des Redners erfodert.
Die zierliche Art traͤgt die Sache mit Zuſaͤtzen
vor, welche die Einbildungskraft des Zuhoͤrers ein-
nehmen. Er miſcht Bilder und Nebenumſtaͤnde in
die Sache, welche ihn fuͤr oder gegen die Begeben-
heit einnehmen, welche er entweder auf eine vor-
theilhafte oder verhaßte Weiſe vorſtellt, ſo daß er
das Urtheil des Zuhoͤrers ſchon in der Erzaͤhlung
ſelbſt lenkt. Er braucht die Farben der Beredſam-
keit ſein Gemaͤhld deſto kraͤftiger zu machen. Die-
ſes iſt bey gerichtlichen Erzaͤhlungen ein Kunſtgriff,
der den Sachen den Ausſchlag geben kann; und
darin war Cicero ein großer Meiſter. Man uͤber-
lege folgende Stelle. Anſtatt blos zu ſagen: Quin-
ctius trauete dem Verſprechen des Naͤvius, traͤgt er
die Sache ſo vor: Quia, quod virum bonum facere
oportebat, id loquebatur Nævius; credit Quinctius
eum, qui orationem bonorum imitaretur, facta quo-
que imitaturum. Dergleichen Wendungen ſind um
ſo
Erſter Theil. Y y
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/365>, abgerufen am 16.07.2024.
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