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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ede
beweißt nichts gegen den vorher angenommenen
Grundsatz des Geschmaks. Man schätzet solche Wer-
ke deswegen, weil darin Theile der Kunst, nämlich
die Haltung und das Colorit in der Vollkommen-
heit erscheinen.

Das Edle zeiget sich entweder in der Sache selbst,
oder in der Art des Vortrages; beydes muß immer
zusammen seyn. Ein edler Gedanken kann durch
einen schlechten Ausdruk verdunkelt werden, die edelste
Handlung durch eine schlechte und gemeine Art, viel
von ihrem Werth verlieren; ein Gebäude von edlem
und grossem Ansehen, in so fern man es im gan-
zen betrachtet, kann durch überhäufte, gemeine und
pöbelhafte Verzierungen schlecht werden. Darum
sollen nicht nur edle Gegenstände gewählet, sondern
auch das Zufällige darin ihrer edlen Natur richtig
angemessen werden.

Jeder Künstller hat sich unaufhörlich zu bestre-
ben, seinen Geschmak und den sittlichen Theil seiner
Seele immer mehr zu veredlen. Denn obgleich
das Gefühl, wodurch wir schnell, und oft uns selbst
unbewußt, das edlere dem gemeinern vorziehen, eine
Gabe der Natur ist, so kann es doch durch Uebung
und Studium sehr gestärkt und allmählig zur Ge-
wohnheit gemacht werden.

Wer das Glük hat, von Jugend auf mit Men-
schen von feinerm Gefühl und einer edlern Lebens-
art umzugehen, dessen Geschmak wird allmählig zu
dem edlern gebildet. Wer aber von dem Glük diese
Wolthat nicht erhalten hat, der muß desto aufmerk-
samer das Genie und den Geschmak der besten Werke
der Kunst alter und neuer Völker studiren. Mit
Vorbeygehung aller Schriftsteller und Künstler, die
nur einen zufälligen Ruhm, aus irgend einem me-
chanischen Theil derselben, oder nur einen vorüber-
gehenden Beyfall erhalten haben, muß er sich an die
ersten und claßischen Männer jeder Art halten; an
die, die nicht blos bey ihrer Nation, sondern bey al-
len Völkern, wo der Geschmak aufgekommen ist,
für die ersten in ihrer Art gehalten werden. Für
junge, noch ungebildete Genie, wenn die Natur sie
nicht vorzüglich bedacht hat, ist es allemal gefähr-
lich, gutes, mittelmäßiges und schlechtes durch einan-
der zu lesen, oder zu sehen. Es gehört ein aus-
nehmendes Genie dazu, sich nach schlechten Mustern
zu bilden, und gut zu werden.

Der deutsche Künstler hat vorzüglich nöthig, sei-
nen Geschmak durch fleißiges Studium der Alten,
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Ede
und der größten Ausländer zu bilden. Hat Horay
seinen Römern sagen dürfen, daß sie die griechi-
schen Muster nie aus den Händen lassen sollen, so
kann auch ein Deutscher seine Mitbürger an fremde
Schulen verweisen.

Man würde es vergeblich leugnen, daß Deutsch-
land im Ganzen genommen, in Ansehung des
Edlen in dem Geschmak, bis itzt noch weit, nicht
nur hinter den Alten, sondern auch hinter mancher
neuern Nation zurük bleibe. Dieser Mangel ist in
den redenden Künsten noch weit fühlbarer, als in
den andern. Die meisten Deutschen arbeiten für
den Geschmak in den ersten Aufwallungen eines
jugendlichen Genies, und hören zu der Zeit auf,
da sie hätten anfangen sollen. Selten bekommt
man das Gefühl des Edlen in den Hörsälen der
Universitäten, und in dem Umgang mit der jün-
gern Welt, welche zu lebhaft empfindet, um im-
mer fein zu wählen. Eine edlere Art zu denken und
zu empfinden erlanget man insgemein erst alsdenn,
wenn man alle Arten der sittlichen und ästhetischen
Gegenstände vielfältig und sehr öfters vor Augen ge-
habt, und den verschiedenen Ton ähnlicher Gegen-
stände genau bemerkt hat.

Dieses sey nicht gesagt, um jemanden, der, noch
nicht völlig reif, sich in redenden Künsten öffentlich
gezeiget hat, zu tadeln oder zu beleidigen; denn
die Absicht dieser Anmerkungen geht blos dahin,
einigen unsrer schönen Geister diese wichtige Erinne-
rung zu geben, daß sie, da es ein Haupttheil ihres
Berufs ist, einen edlen Geschmak und eine edle Sin-
nesart unter ihrer Nation auszubreiten, ein so wich-
tiges Werk nicht eher unternehmen sollen, bis sie
selbst diese schönen Würkungen der Künste an ihren
eigenen Gemüthern erfahren haben. Weder das
Feuer des Genies, noch eine lebhafte Einbildungs-
kraft, noch starke Empfindungen, sind dazu hinrei-
chend. Das feine Gefühl der besten Art zu han-
deln und seine Empfindungen zu äussern, dieses
Gefühl, das die, nie deutlich zu zeichnenden Grän-
zen, zwischen dem gemeinen und dem edlen, zwi-
schen dem feinen und dem gröbern, zwischen dem
gezwungenen und dem natürlichen, sicher empfin-
det, ist die Frucht eines langen und scharfen Nach-
denkens, und eines sehr anhaltenden Beobachtungs-
geistes.

Nirgend zeiget sich aber der Mangel des Edlen
sichtbarer, als auf der deutschen Schaubühne, wo

es
Erster Theil. O o

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Ede
beweißt nichts gegen den vorher angenommenen
Grundſatz des Geſchmaks. Man ſchaͤtzet ſolche Wer-
ke deswegen, weil darin Theile der Kunſt, naͤmlich
die Haltung und das Colorit in der Vollkommen-
heit erſcheinen.

Das Edle zeiget ſich entweder in der Sache ſelbſt,
oder in der Art des Vortrages; beydes muß immer
zuſammen ſeyn. Ein edler Gedanken kann durch
einen ſchlechten Ausdruk verdunkelt werden, die edelſte
Handlung durch eine ſchlechte und gemeine Art, viel
von ihrem Werth verlieren; ein Gebaͤude von edlem
und groſſem Anſehen, in ſo fern man es im gan-
zen betrachtet, kann durch uͤberhaͤufte, gemeine und
poͤbelhafte Verzierungen ſchlecht werden. Darum
ſollen nicht nur edle Gegenſtaͤnde gewaͤhlet, ſondern
auch das Zufaͤllige darin ihrer edlen Natur richtig
angemeſſen werden.

Jeder Kuͤnſtller hat ſich unaufhoͤrlich zu beſtre-
ben, ſeinen Geſchmak und den ſittlichen Theil ſeiner
Seele immer mehr zu veredlen. Denn obgleich
das Gefuͤhl, wodurch wir ſchnell, und oft uns ſelbſt
unbewußt, das edlere dem gemeinern vorziehen, eine
Gabe der Natur iſt, ſo kann es doch durch Uebung
und Studium ſehr geſtaͤrkt und allmaͤhlig zur Ge-
wohnheit gemacht werden.

Wer das Gluͤk hat, von Jugend auf mit Men-
ſchen von feinerm Gefuͤhl und einer edlern Lebens-
art umzugehen, deſſen Geſchmak wird allmaͤhlig zu
dem edlern gebildet. Wer aber von dem Gluͤk dieſe
Wolthat nicht erhalten hat, der muß deſto aufmerk-
ſamer das Genie und den Geſchmak der beſten Werke
der Kunſt alter und neuer Voͤlker ſtudiren. Mit
Vorbeygehung aller Schriftſteller und Kuͤnſtler, die
nur einen zufaͤlligen Ruhm, aus irgend einem me-
chaniſchen Theil derſelben, oder nur einen voruͤber-
gehenden Beyfall erhalten haben, muß er ſich an die
erſten und claßiſchen Maͤnner jeder Art halten; an
die, die nicht blos bey ihrer Nation, ſondern bey al-
len Voͤlkern, wo der Geſchmak aufgekommen iſt,
fuͤr die erſten in ihrer Art gehalten werden. Fuͤr
junge, noch ungebildete Genie, wenn die Natur ſie
nicht vorzuͤglich bedacht hat, iſt es allemal gefaͤhr-
lich, gutes, mittelmaͤßiges und ſchlechtes durch einan-
der zu leſen, oder zu ſehen. Es gehoͤrt ein aus-
nehmendes Genie dazu, ſich nach ſchlechten Muſtern
zu bilden, und gut zu werden.

Der deutſche Kuͤnſtler hat vorzuͤglich noͤthig, ſei-
nen Geſchmak durch fleißiges Studium der Alten,
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Ede
und der groͤßten Auslaͤnder zu bilden. Hat Horay
ſeinen Roͤmern ſagen duͤrfen, daß ſie die griechi-
ſchen Muſter nie aus den Haͤnden laſſen ſollen, ſo
kann auch ein Deutſcher ſeine Mitbuͤrger an fremde
Schulen verweiſen.

Man wuͤrde es vergeblich leugnen, daß Deutſch-
land im Ganzen genommen, in Anſehung des
Edlen in dem Geſchmak, bis itzt noch weit, nicht
nur hinter den Alten, ſondern auch hinter mancher
neuern Nation zuruͤk bleibe. Dieſer Mangel iſt in
den redenden Kuͤnſten noch weit fuͤhlbarer, als in
den andern. Die meiſten Deutſchen arbeiten fuͤr
den Geſchmak in den erſten Aufwallungen eines
jugendlichen Genies, und hoͤren zu der Zeit auf,
da ſie haͤtten anfangen ſollen. Selten bekommt
man das Gefuͤhl des Edlen in den Hoͤrſaͤlen der
Univerſitaͤten, und in dem Umgang mit der juͤn-
gern Welt, welche zu lebhaft empfindet, um im-
mer fein zu waͤhlen. Eine edlere Art zu denken und
zu empfinden erlanget man insgemein erſt alsdenn,
wenn man alle Arten der ſittlichen und aͤſthetiſchen
Gegenſtaͤnde vielfaͤltig und ſehr oͤfters vor Augen ge-
habt, und den verſchiedenen Ton aͤhnlicher Gegen-
ſtaͤnde genau bemerkt hat.

Dieſes ſey nicht geſagt, um jemanden, der, noch
nicht voͤllig reif, ſich in redenden Kuͤnſten oͤffentlich
gezeiget hat, zu tadeln oder zu beleidigen; denn
die Abſicht dieſer Anmerkungen geht blos dahin,
einigen unſrer ſchoͤnen Geiſter dieſe wichtige Erinne-
rung zu geben, daß ſie, da es ein Haupttheil ihres
Berufs iſt, einen edlen Geſchmak und eine edle Sin-
nesart unter ihrer Nation auszubreiten, ein ſo wich-
tiges Werk nicht eher unternehmen ſollen, bis ſie
ſelbſt dieſe ſchoͤnen Wuͤrkungen der Kuͤnſte an ihren
eigenen Gemuͤthern erfahren haben. Weder das
Feuer des Genies, noch eine lebhafte Einbildungs-
kraft, noch ſtarke Empfindungen, ſind dazu hinrei-
chend. Das feine Gefuͤhl der beſten Art zu han-
deln und ſeine Empfindungen zu aͤuſſern, dieſes
Gefuͤhl, das die, nie deutlich zu zeichnenden Graͤn-
zen, zwiſchen dem gemeinen und dem edlen, zwi-
ſchen dem feinen und dem groͤbern, zwiſchen dem
gezwungenen und dem natuͤrlichen, ſicher empfin-
det, iſt die Frucht eines langen und ſcharfen Nach-
denkens, und eines ſehr anhaltenden Beobachtungs-
geiſtes.

Nirgend zeiget ſich aber der Mangel des Edlen
ſichtbarer, als auf der deutſchen Schaubuͤhne, wo

es
Erſter Theil. O o
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[289/0301] Ede Ede beweißt nichts gegen den vorher angenommenen Grundſatz des Geſchmaks. Man ſchaͤtzet ſolche Wer- ke deswegen, weil darin Theile der Kunſt, naͤmlich die Haltung und das Colorit in der Vollkommen- heit erſcheinen. Das Edle zeiget ſich entweder in der Sache ſelbſt, oder in der Art des Vortrages; beydes muß immer zuſammen ſeyn. Ein edler Gedanken kann durch einen ſchlechten Ausdruk verdunkelt werden, die edelſte Handlung durch eine ſchlechte und gemeine Art, viel von ihrem Werth verlieren; ein Gebaͤude von edlem und groſſem Anſehen, in ſo fern man es im gan- zen betrachtet, kann durch uͤberhaͤufte, gemeine und poͤbelhafte Verzierungen ſchlecht werden. Darum ſollen nicht nur edle Gegenſtaͤnde gewaͤhlet, ſondern auch das Zufaͤllige darin ihrer edlen Natur richtig angemeſſen werden. Jeder Kuͤnſtller hat ſich unaufhoͤrlich zu beſtre- ben, ſeinen Geſchmak und den ſittlichen Theil ſeiner Seele immer mehr zu veredlen. Denn obgleich das Gefuͤhl, wodurch wir ſchnell, und oft uns ſelbſt unbewußt, das edlere dem gemeinern vorziehen, eine Gabe der Natur iſt, ſo kann es doch durch Uebung und Studium ſehr geſtaͤrkt und allmaͤhlig zur Ge- wohnheit gemacht werden. Wer das Gluͤk hat, von Jugend auf mit Men- ſchen von feinerm Gefuͤhl und einer edlern Lebens- art umzugehen, deſſen Geſchmak wird allmaͤhlig zu dem edlern gebildet. Wer aber von dem Gluͤk dieſe Wolthat nicht erhalten hat, der muß deſto aufmerk- ſamer das Genie und den Geſchmak der beſten Werke der Kunſt alter und neuer Voͤlker ſtudiren. Mit Vorbeygehung aller Schriftſteller und Kuͤnſtler, die nur einen zufaͤlligen Ruhm, aus irgend einem me- chaniſchen Theil derſelben, oder nur einen voruͤber- gehenden Beyfall erhalten haben, muß er ſich an die erſten und claßiſchen Maͤnner jeder Art halten; an die, die nicht blos bey ihrer Nation, ſondern bey al- len Voͤlkern, wo der Geſchmak aufgekommen iſt, fuͤr die erſten in ihrer Art gehalten werden. Fuͤr junge, noch ungebildete Genie, wenn die Natur ſie nicht vorzuͤglich bedacht hat, iſt es allemal gefaͤhr- lich, gutes, mittelmaͤßiges und ſchlechtes durch einan- der zu leſen, oder zu ſehen. Es gehoͤrt ein aus- nehmendes Genie dazu, ſich nach ſchlechten Muſtern zu bilden, und gut zu werden. Der deutſche Kuͤnſtler hat vorzuͤglich noͤthig, ſei- nen Geſchmak durch fleißiges Studium der Alten, und der groͤßten Auslaͤnder zu bilden. Hat Horay ſeinen Roͤmern ſagen duͤrfen, daß ſie die griechi- ſchen Muſter nie aus den Haͤnden laſſen ſollen, ſo kann auch ein Deutſcher ſeine Mitbuͤrger an fremde Schulen verweiſen. Man wuͤrde es vergeblich leugnen, daß Deutſch- land im Ganzen genommen, in Anſehung des Edlen in dem Geſchmak, bis itzt noch weit, nicht nur hinter den Alten, ſondern auch hinter mancher neuern Nation zuruͤk bleibe. Dieſer Mangel iſt in den redenden Kuͤnſten noch weit fuͤhlbarer, als in den andern. Die meiſten Deutſchen arbeiten fuͤr den Geſchmak in den erſten Aufwallungen eines jugendlichen Genies, und hoͤren zu der Zeit auf, da ſie haͤtten anfangen ſollen. Selten bekommt man das Gefuͤhl des Edlen in den Hoͤrſaͤlen der Univerſitaͤten, und in dem Umgang mit der juͤn- gern Welt, welche zu lebhaft empfindet, um im- mer fein zu waͤhlen. Eine edlere Art zu denken und zu empfinden erlanget man insgemein erſt alsdenn, wenn man alle Arten der ſittlichen und aͤſthetiſchen Gegenſtaͤnde vielfaͤltig und ſehr oͤfters vor Augen ge- habt, und den verſchiedenen Ton aͤhnlicher Gegen- ſtaͤnde genau bemerkt hat. Dieſes ſey nicht geſagt, um jemanden, der, noch nicht voͤllig reif, ſich in redenden Kuͤnſten oͤffentlich gezeiget hat, zu tadeln oder zu beleidigen; denn die Abſicht dieſer Anmerkungen geht blos dahin, einigen unſrer ſchoͤnen Geiſter dieſe wichtige Erinne- rung zu geben, daß ſie, da es ein Haupttheil ihres Berufs iſt, einen edlen Geſchmak und eine edle Sin- nesart unter ihrer Nation auszubreiten, ein ſo wich- tiges Werk nicht eher unternehmen ſollen, bis ſie ſelbſt dieſe ſchoͤnen Wuͤrkungen der Kuͤnſte an ihren eigenen Gemuͤthern erfahren haben. Weder das Feuer des Genies, noch eine lebhafte Einbildungs- kraft, noch ſtarke Empfindungen, ſind dazu hinrei- chend. Das feine Gefuͤhl der beſten Art zu han- deln und ſeine Empfindungen zu aͤuſſern, dieſes Gefuͤhl, das die, nie deutlich zu zeichnenden Graͤn- zen, zwiſchen dem gemeinen und dem edlen, zwi- ſchen dem feinen und dem groͤbern, zwiſchen dem gezwungenen und dem natuͤrlichen, ſicher empfin- det, iſt die Frucht eines langen und ſcharfen Nach- denkens, und eines ſehr anhaltenden Beobachtungs- geiſtes. Nirgend zeiget ſich aber der Mangel des Edlen ſichtbarer, als auf der deutſchen Schaubuͤhne, wo es Erſter Theil. O o

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/301>, abgerufen am 25.11.2024.