Mit diesem Buchstaben bezeichnen wir in Deutsch- land die fünfte Sayte unsrer diatonisch- chromatischen Tonleiter. Jhre Länge verhält sich gegen die Länge der ersten Sayte C, wie 4/5 zu 1; so daß E gegen C eine reine grosse Terz ausmacht. Dieser Ton wird aber auch selbst als ein Grundton, oder eine Tonica gebraucht, und zwar sowol in der har- ten Tonart E dur, als in der weichen E mol. Die Tonleitern in beyden Fällen sind im Artikel Tonart zu sehen.
Ebenmaaß. (Schöne Künste.)
Eine solche Uebereinstimmung der Theile in Anse- hung der Grösse, die keinen derselben besonders, zum Nachtheil der andern oder des Ganzen, merk- bar macht. Also hat ein Gegenstand sein ge- höriges Ebenmaaß, wenn jeder Theil die ihm, nach seiner Verhältnis zum Ganzen, zukommende Grösse hat. Durch das Ebenmaaß werden einige Theile groß und andre klein, jeder nach seinem Rang in den Verhältnissen; durch dasselbe ist der Rumpf an dem menschlichen Körper sein größter und der Kopf sein kleinester Haupttheil. Die Wür- kung des Ebenmaasses auf unsre Vorstellung ist die Ruhe oder Befriedigung derselben, weil durch sie die mannigfaltigen Theile eines Gegenstandes ihr Gleichgewicht untereinander bekommen, daß der Gegenstand nicht einseitig, oder eintheilig, sondern mit allen seinen Theilen zugleich, als ein einziges Ding, oder ein wahres Ganzes erscheint, ohne wel- ches Gleichgewicht kein Gegenstand schön seyn kann: deswegen das Ebenmaaß auch der Grund der Schönheit ist.
Das Ebenmaaß der Theile ist also eine allgemeine Eigenschaft aller Werke des Geschmaks, weil sie da- durch zu einem harmonischen Ganzen werden. Es er- strekt sich aber nicht nur auf die verhältnißmäßige Größe, sondern auch auf die Ausarbeitung der Theile. Wenn ein besondrer Theil eines Gemähldes fleißiger, als seine Stelle, oder seine Würkung zum Ganzen [Spaltenumbruch]
es erfodert, bearbeitet wäre, so würde dieses auch das Ebenmaaß stöhren. Denn jeder Theil muß in allen Absichten gerade so seyn, wie die Würkung des Ganzen es erfodert.
Diese Beobachtung des Ebenmaaßes ist die Wür- kung einer überaus scharfen Beurtheilungskraft, oder des feinesten Geschmaks. Es ist aber offenbar, daß nur die genaue und bestimmte Vorstellung des Ganzen, mit allen seinen Theilen dasselbe möglich macht. Wer nicht vermögend ist, das Ganze auf einen Blik richtig zu übersehen und genau zu fassen, der fühlt weder Ebenmaaß noch Abweichung davon. Um also diesen wichtigen Theil der Kunst zu besitzen, muß man sich unaufhörlich üben, die Fertigkeit zu erlangen, ein Ganzes richtig zu fassen. Der Mah- ler tritt währender Ausarbeitung sehr oft weit von seinem Gemählde weg, um es im Ganzen zu über- sehen, und der Tonsetzer hört in einiger Entfernung die erste Aufführung seiner Arbeit an. Dem Red- ner und dem Dichter aber wird dieses bey einiger Größe am schweersten. Darum muß ein Dichter sich äusserst angelegen seyn lassen, sein Werk, eh' er die letzte Hand daran legt, nach allen einzeln Thei- len im ganzen Plan zu übersehen. Nur der, wel- chem das ganze Werk so geläufig ist, als wenn er sich einen einzigen Gedanken vorstellte, ist fähig alle Theile in Absicht auf das Ebenmaaß zu beurtheilen.
Auch der Baumeister hat eine beträchtliche Zeit nöthig, sich den Plan eines grossen Gebäudes mit allen seinen Theilen so bekannt zu machen, daß er mit Leichtigkeit jeden Theil in der Vorstellung des Ganzen fühlt.
Es ist also eine für jeden Künstler zur Cultur des Genies sehr nützliche Uebung, sich aus vielen und mancherley Theilen zusammengesetzte Gegen- stände im Ganzen so ofte vorzustellen, bis er es mit Leichtigkeit übersehen, und jedes einzele auf ein- mal bemerken kann. Nur die Genien der ersten Größe sind im Stand ganz grosse und aus sehr viel Theilen bestehende Gegenstände auf einmal zu über- sehen, und es ist allemal, auch blos in Rüksicht auf diesen Theil der Kunst, ein schweeres Werk, in einer weitläuftigern Epopee das Ebenmaaß der Theile zu beobachten.
Aber
E.
[Spaltenumbruch]
E. (Muſik.)
Mit dieſem Buchſtaben bezeichnen wir in Deutſch- land die fuͤnfte Sayte unſrer diatoniſch- chromatiſchen Tonleiter. Jhre Laͤnge verhaͤlt ſich gegen die Laͤnge der erſten Sayte C, wie ⅘ zu 1; ſo daß E gegen C eine reine groſſe Terz ausmacht. Dieſer Ton wird aber auch ſelbſt als ein Grundton, oder eine Tonica gebraucht, und zwar ſowol in der har- ten Tonart E dur, als in der weichen E mol. Die Tonleitern in beyden Faͤllen ſind im Artikel Tonart zu ſehen.
Ebenmaaß. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Eine ſolche Uebereinſtimmung der Theile in Anſe- hung der Groͤſſe, die keinen derſelben beſonders, zum Nachtheil der andern oder des Ganzen, merk- bar macht. Alſo hat ein Gegenſtand ſein ge- hoͤriges Ebenmaaß, wenn jeder Theil die ihm, nach ſeiner Verhaͤltnis zum Ganzen, zukommende Groͤſſe hat. Durch das Ebenmaaß werden einige Theile groß und andre klein, jeder nach ſeinem Rang in den Verhaͤltniſſen; durch daſſelbe iſt der Rumpf an dem menſchlichen Koͤrper ſein groͤßter und der Kopf ſein kleineſter Haupttheil. Die Wuͤr- kung des Ebenmaaſſes auf unſre Vorſtellung iſt die Ruhe oder Befriedigung derſelben, weil durch ſie die mannigfaltigen Theile eines Gegenſtandes ihr Gleichgewicht untereinander bekommen, daß der Gegenſtand nicht einſeitig, oder eintheilig, ſondern mit allen ſeinen Theilen zugleich, als ein einziges Ding, oder ein wahres Ganzes erſcheint, ohne wel- ches Gleichgewicht kein Gegenſtand ſchoͤn ſeyn kann: deswegen das Ebenmaaß auch der Grund der Schoͤnheit iſt.
Das Ebenmaaß der Theile iſt alſo eine allgemeine Eigenſchaft aller Werke des Geſchmaks, weil ſie da- durch zu einem harmoniſchen Ganzen werden. Es er- ſtrekt ſich aber nicht nur auf die verhaͤltnißmaͤßige Groͤße, ſondern auch auf die Ausarbeitung der Theile. Wenn ein beſondrer Theil eines Gemaͤhldes fleißiger, als ſeine Stelle, oder ſeine Wuͤrkung zum Ganzen [Spaltenumbruch]
es erfodert, bearbeitet waͤre, ſo wuͤrde dieſes auch das Ebenmaaß ſtoͤhren. Denn jeder Theil muß in allen Abſichten gerade ſo ſeyn, wie die Wuͤrkung des Ganzen es erfodert.
Dieſe Beobachtung des Ebenmaaßes iſt die Wuͤr- kung einer uͤberaus ſcharfen Beurtheilungskraft, oder des feineſten Geſchmaks. Es iſt aber offenbar, daß nur die genaue und beſtimmte Vorſtellung des Ganzen, mit allen ſeinen Theilen daſſelbe moͤglich macht. Wer nicht vermoͤgend iſt, das Ganze auf einen Blik richtig zu uͤberſehen und genau zu faſſen, der fuͤhlt weder Ebenmaaß noch Abweichung davon. Um alſo dieſen wichtigen Theil der Kunſt zu beſitzen, muß man ſich unaufhoͤrlich uͤben, die Fertigkeit zu erlangen, ein Ganzes richtig zu faſſen. Der Mah- ler tritt waͤhrender Ausarbeitung ſehr oft weit von ſeinem Gemaͤhlde weg, um es im Ganzen zu uͤber- ſehen, und der Tonſetzer hoͤrt in einiger Entfernung die erſte Auffuͤhrung ſeiner Arbeit an. Dem Red- ner und dem Dichter aber wird dieſes bey einiger Groͤße am ſchweerſten. Darum muß ein Dichter ſich aͤuſſerſt angelegen ſeyn laſſen, ſein Werk, eh’ er die letzte Hand daran legt, nach allen einzeln Thei- len im ganzen Plan zu uͤberſehen. Nur der, wel- chem das ganze Werk ſo gelaͤufig iſt, als wenn er ſich einen einzigen Gedanken vorſtellte, iſt faͤhig alle Theile in Abſicht auf das Ebenmaaß zu beurtheilen.
Auch der Baumeiſter hat eine betraͤchtliche Zeit noͤthig, ſich den Plan eines groſſen Gebaͤudes mit allen ſeinen Theilen ſo bekannt zu machen, daß er mit Leichtigkeit jeden Theil in der Vorſtellung des Ganzen fuͤhlt.
Es iſt alſo eine fuͤr jeden Kuͤnſtler zur Cultur des Genies ſehr nuͤtzliche Uebung, ſich aus vielen und mancherley Theilen zuſammengeſetzte Gegen- ſtaͤnde im Ganzen ſo ofte vorzuſtellen, bis er es mit Leichtigkeit uͤberſehen, und jedes einzele auf ein- mal bemerken kann. Nur die Genien der erſten Groͤße ſind im Stand ganz groſſe und aus ſehr viel Theilen beſtehende Gegenſtaͤnde auf einmal zu uͤber- ſehen, und es iſt allemal, auch blos in Ruͤkſicht auf dieſen Theil der Kunſt, ein ſchweeres Werk, in einer weitlaͤuftigern Epopee das Ebenmaaß der Theile zu beobachten.
Aber
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[287/0299]
E.
E.
(Muſik.)
Mit dieſem Buchſtaben bezeichnen wir in Deutſch-
land die fuͤnfte Sayte unſrer diatoniſch-
chromatiſchen Tonleiter. Jhre Laͤnge verhaͤlt ſich
gegen die Laͤnge der erſten Sayte C, wie ⅘ zu 1; ſo
daß E gegen C eine reine groſſe Terz ausmacht. Dieſer
Ton wird aber auch ſelbſt als ein Grundton, oder
eine Tonica gebraucht, und zwar ſowol in der har-
ten Tonart E dur, als in der weichen E mol. Die
Tonleitern in beyden Faͤllen ſind im Artikel Tonart
zu ſehen.
Ebenmaaß.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Eine ſolche Uebereinſtimmung der Theile in Anſe-
hung der Groͤſſe, die keinen derſelben beſonders,
zum Nachtheil der andern oder des Ganzen, merk-
bar macht. Alſo hat ein Gegenſtand ſein ge-
hoͤriges Ebenmaaß, wenn jeder Theil die ihm,
nach ſeiner Verhaͤltnis zum Ganzen, zukommende
Groͤſſe hat. Durch das Ebenmaaß werden einige
Theile groß und andre klein, jeder nach ſeinem
Rang in den Verhaͤltniſſen; durch daſſelbe iſt der
Rumpf an dem menſchlichen Koͤrper ſein groͤßter
und der Kopf ſein kleineſter Haupttheil. Die Wuͤr-
kung des Ebenmaaſſes auf unſre Vorſtellung iſt
die Ruhe oder Befriedigung derſelben, weil durch
ſie die mannigfaltigen Theile eines Gegenſtandes ihr
Gleichgewicht untereinander bekommen, daß der
Gegenſtand nicht einſeitig, oder eintheilig, ſondern
mit allen ſeinen Theilen zugleich, als ein einziges
Ding, oder ein wahres Ganzes erſcheint, ohne wel-
ches Gleichgewicht kein Gegenſtand ſchoͤn ſeyn kann:
deswegen das Ebenmaaß auch der Grund der
Schoͤnheit iſt.
Das Ebenmaaß der Theile iſt alſo eine allgemeine
Eigenſchaft aller Werke des Geſchmaks, weil ſie da-
durch zu einem harmoniſchen Ganzen werden. Es er-
ſtrekt ſich aber nicht nur auf die verhaͤltnißmaͤßige
Groͤße, ſondern auch auf die Ausarbeitung der Theile.
Wenn ein beſondrer Theil eines Gemaͤhldes fleißiger,
als ſeine Stelle, oder ſeine Wuͤrkung zum Ganzen
es erfodert, bearbeitet waͤre, ſo wuͤrde dieſes auch
das Ebenmaaß ſtoͤhren. Denn jeder Theil muß in
allen Abſichten gerade ſo ſeyn, wie die Wuͤrkung
des Ganzen es erfodert.
Dieſe Beobachtung des Ebenmaaßes iſt die Wuͤr-
kung einer uͤberaus ſcharfen Beurtheilungskraft,
oder des feineſten Geſchmaks. Es iſt aber offenbar,
daß nur die genaue und beſtimmte Vorſtellung des
Ganzen, mit allen ſeinen Theilen daſſelbe moͤglich
macht. Wer nicht vermoͤgend iſt, das Ganze auf
einen Blik richtig zu uͤberſehen und genau zu faſſen,
der fuͤhlt weder Ebenmaaß noch Abweichung davon.
Um alſo dieſen wichtigen Theil der Kunſt zu beſitzen,
muß man ſich unaufhoͤrlich uͤben, die Fertigkeit zu
erlangen, ein Ganzes richtig zu faſſen. Der Mah-
ler tritt waͤhrender Ausarbeitung ſehr oft weit von
ſeinem Gemaͤhlde weg, um es im Ganzen zu uͤber-
ſehen, und der Tonſetzer hoͤrt in einiger Entfernung
die erſte Auffuͤhrung ſeiner Arbeit an. Dem Red-
ner und dem Dichter aber wird dieſes bey einiger
Groͤße am ſchweerſten. Darum muß ein Dichter
ſich aͤuſſerſt angelegen ſeyn laſſen, ſein Werk, eh’ er
die letzte Hand daran legt, nach allen einzeln Thei-
len im ganzen Plan zu uͤberſehen. Nur der, wel-
chem das ganze Werk ſo gelaͤufig iſt, als wenn er
ſich einen einzigen Gedanken vorſtellte, iſt faͤhig alle
Theile in Abſicht auf das Ebenmaaß zu beurtheilen.
Auch der Baumeiſter hat eine betraͤchtliche Zeit
noͤthig, ſich den Plan eines groſſen Gebaͤudes mit
allen ſeinen Theilen ſo bekannt zu machen, daß er
mit Leichtigkeit jeden Theil in der Vorſtellung des
Ganzen fuͤhlt.
Es iſt alſo eine fuͤr jeden Kuͤnſtler zur Cultur
des Genies ſehr nuͤtzliche Uebung, ſich aus vielen
und mancherley Theilen zuſammengeſetzte Gegen-
ſtaͤnde im Ganzen ſo ofte vorzuſtellen, bis er es
mit Leichtigkeit uͤberſehen, und jedes einzele auf ein-
mal bemerken kann. Nur die Genien der erſten
Groͤße ſind im Stand ganz groſſe und aus ſehr viel
Theilen beſtehende Gegenſtaͤnde auf einmal zu uͤber-
ſehen, und es iſt allemal, auch blos in Ruͤkſicht auf
dieſen Theil der Kunſt, ein ſchweeres Werk, in einer
weitlaͤuftigern Epopee das Ebenmaaß der Theile zu
beobachten.
Aber
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/299>, abgerufen am 22.11.2024.
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