Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Dic
dem anschauenden Erkenntniß mahlen, was der Red-
ner dem Verstand entwikelt, sind des Dichters ge-
wöhnliche Mittel zum Ausdruk.

Auf diese Weise muß nothwendig die Rede des
Dichters von des Redners Rede, sowol in der Ma-
terie, als in der Form, dem Ausdruk und dem Ton
ganz verschieden werden; und deswegen theilet sich
die Kunst der Rede in die zwey Hauptäste, die Be-
redsamkeit und die Dichtkunst.

Der Grund der Dichtkunst ist in dem Genie des
Dichters zu suchen, und die verschiedenen Zweyge
derselben, oder die Gattungen der Gedichte entste-
hen sowol aus der besondern Art des dichterischen
Genies, als aus den besondern Veranlasungen da-
zu. Von jenem ist in dem vorhergehenden Artikel
gesprochen worden; von diesem aber wird in dem Ar-
tikel Gedicht gehandelt. Demnach bleiben uns hier
allgemeine Betrachtungen über die Dichtkunst, ihre
Anwendung und Würkung übrig

Der Gegenstand der Dichtkunst, oder die Ma-
terie, die sie bearbeitet, ist jede Vorstellung des
Geistes, die klar genug ist, unter den Ausdruk der
Rede zu fallen, und interessant genug, die Gemüther
der Menschen einzunehmen. Sie scheinet einen
weitern Umfang zu haben, als die Beredsamkeit.
Diese muß das Jnteressante ihres Stoffs in der
Materie selbst suchen, da der Dichter durch die
Wärme seiner Empfindung, Lebhaftigkeit seiner Ein-
bildungskraft und den sonderbaren Gesichtspunkt,
in welchen ihn seine Laune setzet, auch den schlechte-
sten Stoff intressant machen kann. Der Gesang
(*) S.
Anakreons
Ode auf die
Cicada.
einer Nachtigall, so gar eines Jnsekts (*) kann ihn
so reizen, seine Einbildungskraft und sein Herz so
erwärmen, daß er in die angenehmste Schwer-
merey von sanften Empfindungen zärtlicher Art ge-
räth, und manch liebliches Bild der Phantasie vor
seinen Augen sieht; dieses reitzt ihn durch einen dieser
Empfindung angemessenen Gesang auch uns in den an-
genehmen Gemüthszustand zu setzen, darin er sich be-
findet. So bildet der Dichter durch sein Genie ei-
nen schlechten Stoff, den der Redner ungebraucht
lassen muß, zu einer angenehmen Materie, und
dem, der schon an sich selbst reich ist, giebt er durch
seine eigene Gedanken, Phantasien und Empfindun-
gen, einen Ueberflus an jeder Art von Kraft. Was
hat nicht Homer bey Vorstellung der Belagerung
von Troja gefühlt, und Klopstok bey dem Leiden
und dem Tode Jesu? Nichts scheinet so geringe,
[Spaltenumbruch]

Dic
das die Dichtkunst nicht intressant, und nichts so
groß, das sie nicht noch weit mehr vergrössern könne.
Denn eigentlich zeiget der Dichter seinen Gegenstand
nicht, wie er in der Welt vorhanden ist, sondern
wie sein fruchtbares Genie ihn bildet, wie seine
Phantasie ihn schmüket, und was sein empfindungs-
volles Herz noch dabey empfindet, läßt er uns mit
geniessen. Wir sehen durch ihn mehr die Scenen,
die seine Phantasie und sein Herz beschäftigen, als
Scenen der Natur. Also wird einem Dichter, des-
sen Kopf und Herz merkwürdig sind, der geringste
Stoff Gelegenheit zu einem guten Werk: aber alle-
mal wird er ihn nach der Stimmung seines Charak-
ters wählen; der einen grossen und ernsthaften,
der einen lieblichen; der einen traurigen, und der
einen fröhlichen. Aber in dieser Wahl hat er,
wenn ihn Verstand und Ueberlegung nicht verläßt,
eine genaue Rüksicht auf die, die seine Gesänge hö-
ren sollen. Nicht jeder außerordentliche Zustand
seiner Einbildungskraft oder seines Herzens ist ihm
wichtig genug, um ihn auf dem Dreyfus des Apollo
der Welt zu entfalten; so wol seine eigene Ehre,
als das, was er der Gesellschaft, darin er lebt, was
er den Menschen überhaupt schuldig ist, leitet seine
Wahl, und dadurch versichert er sich der Hochach-
tung und Dankbarkeit seiner Zeitgenossen und der
späthesten Nachwelt.

Dieses sind die Würkungen der Dichtkunst auf
den Dichter. Nicht weniger wichtig sind die, wel-
che sie auf die Gemüther der Menschen hat, die
dem Dichter ein aufmerksames und empfindliches
Ohr leihen. Wenn nach einer alten sehr richtigen
Bemerkung das Wort, das aus dem Herzen ent-
standen ist, wieder in die Herzen dringt, so ist der
Dichter ein Meister über die Herzen der Menschen.
Nicht nur die Gedanken und Bilder selbst, die er
vorlegt, tragen das Gepräge eines empfindsamen
Herzens; auch der Ausdruk und der Ton der gan-
zen Rede bestätigen es, und lassen es uns unmit-
telbar empfinden. Die unerforschliche Tiefe des
menschlichen Herzens zeiget sich auch darin, daß
bisweilen Vorstellungen, die sehr oft ohne alle
Würkung vor uns vorübergegangen, blos durch eine
glükliche Wendung, selbst nur durch den Ton der
Worte, in denen sie uns wieder vorkommen, die
Kraft gewinnen, sich der ganzen Seele zu bemäch-
tigen. Lieder, die nichts enthalten, als was man
schon tausendmal ohne Kraft gedacht und empfun-

den
J i 2

[Spaltenumbruch]

Dic
dem anſchauenden Erkenntniß mahlen, was der Red-
ner dem Verſtand entwikelt, ſind des Dichters ge-
woͤhnliche Mittel zum Ausdruk.

Auf dieſe Weiſe muß nothwendig die Rede des
Dichters von des Redners Rede, ſowol in der Ma-
terie, als in der Form, dem Ausdruk und dem Ton
ganz verſchieden werden; und deswegen theilet ſich
die Kunſt der Rede in die zwey Hauptaͤſte, die Be-
redſamkeit und die Dichtkunſt.

Der Grund der Dichtkunſt iſt in dem Genie des
Dichters zu ſuchen, und die verſchiedenen Zweyge
derſelben, oder die Gattungen der Gedichte entſte-
hen ſowol aus der beſondern Art des dichteriſchen
Genies, als aus den beſondern Veranlaſungen da-
zu. Von jenem iſt in dem vorhergehenden Artikel
geſprochen worden; von dieſem aber wird in dem Ar-
tikel Gedicht gehandelt. Demnach bleiben uns hier
allgemeine Betrachtungen uͤber die Dichtkunſt, ihre
Anwendung und Wuͤrkung uͤbrig

Der Gegenſtand der Dichtkunſt, oder die Ma-
terie, die ſie bearbeitet, iſt jede Vorſtellung des
Geiſtes, die klar genug iſt, unter den Ausdruk der
Rede zu fallen, und intereſſant genug, die Gemuͤther
der Menſchen einzunehmen. Sie ſcheinet einen
weitern Umfang zu haben, als die Beredſamkeit.
Dieſe muß das Jntereſſante ihres Stoffs in der
Materie ſelbſt ſuchen, da der Dichter durch die
Waͤrme ſeiner Empfindung, Lebhaftigkeit ſeiner Ein-
bildungskraft und den ſonderbaren Geſichtspunkt,
in welchen ihn ſeine Laune ſetzet, auch den ſchlechte-
ſten Stoff intreſſant machen kann. Der Geſang
(*) S.
Anakreons
Ode auf die
Cicada.
einer Nachtigall, ſo gar eines Jnſekts (*) kann ihn
ſo reizen, ſeine Einbildungskraft und ſein Herz ſo
erwaͤrmen, daß er in die angenehmſte Schwer-
merey von ſanften Empfindungen zaͤrtlicher Art ge-
raͤth, und manch liebliches Bild der Phantaſie vor
ſeinen Augen ſieht; dieſes reitzt ihn durch einen dieſer
Empfindung angemeſſenen Geſang auch uns in den an-
genehmen Gemuͤthszuſtand zu ſetzen, darin er ſich be-
findet. So bildet der Dichter durch ſein Genie ei-
nen ſchlechten Stoff, den der Redner ungebraucht
laſſen muß, zu einer angenehmen Materie, und
dem, der ſchon an ſich ſelbſt reich iſt, giebt er durch
ſeine eigene Gedanken, Phantaſien und Empfindun-
gen, einen Ueberflus an jeder Art von Kraft. Was
hat nicht Homer bey Vorſtellung der Belagerung
von Troja gefuͤhlt, und Klopſtok bey dem Leiden
und dem Tode Jeſu? Nichts ſcheinet ſo geringe,
[Spaltenumbruch]

Dic
das die Dichtkunſt nicht intreſſant, und nichts ſo
groß, das ſie nicht noch weit mehr vergroͤſſern koͤnne.
Denn eigentlich zeiget der Dichter ſeinen Gegenſtand
nicht, wie er in der Welt vorhanden iſt, ſondern
wie ſein fruchtbares Genie ihn bildet, wie ſeine
Phantaſie ihn ſchmuͤket, und was ſein empfindungs-
volles Herz noch dabey empfindet, laͤßt er uns mit
genieſſen. Wir ſehen durch ihn mehr die Scenen,
die ſeine Phantaſie und ſein Herz beſchaͤftigen, als
Scenen der Natur. Alſo wird einem Dichter, deſ-
ſen Kopf und Herz merkwuͤrdig ſind, der geringſte
Stoff Gelegenheit zu einem guten Werk: aber alle-
mal wird er ihn nach der Stimmung ſeines Charak-
ters waͤhlen; der einen groſſen und ernſthaften,
der einen lieblichen; der einen traurigen, und der
einen froͤhlichen. Aber in dieſer Wahl hat er,
wenn ihn Verſtand und Ueberlegung nicht verlaͤßt,
eine genaue Ruͤkſicht auf die, die ſeine Geſaͤnge hoͤ-
ren ſollen. Nicht jeder außerordentliche Zuſtand
ſeiner Einbildungskraft oder ſeines Herzens iſt ihm
wichtig genug, um ihn auf dem Dreyfus des Apollo
der Welt zu entfalten; ſo wol ſeine eigene Ehre,
als das, was er der Geſellſchaft, darin er lebt, was
er den Menſchen uͤberhaupt ſchuldig iſt, leitet ſeine
Wahl, und dadurch verſichert er ſich der Hochach-
tung und Dankbarkeit ſeiner Zeitgenoſſen und der
ſpaͤtheſten Nachwelt.

Dieſes ſind die Wuͤrkungen der Dichtkunſt auf
den Dichter. Nicht weniger wichtig ſind die, wel-
che ſie auf die Gemuͤther der Menſchen hat, die
dem Dichter ein aufmerkſames und empfindliches
Ohr leihen. Wenn nach einer alten ſehr richtigen
Bemerkung das Wort, das aus dem Herzen ent-
ſtanden iſt, wieder in die Herzen dringt, ſo iſt der
Dichter ein Meiſter uͤber die Herzen der Menſchen.
Nicht nur die Gedanken und Bilder ſelbſt, die er
vorlegt, tragen das Gepraͤge eines empfindſamen
Herzens; auch der Ausdruk und der Ton der gan-
zen Rede beſtaͤtigen es, und laſſen es uns unmit-
telbar empfinden. Die unerforſchliche Tiefe des
menſchlichen Herzens zeiget ſich auch darin, daß
bisweilen Vorſtellungen, die ſehr oft ohne alle
Wuͤrkung vor uns voruͤbergegangen, blos durch eine
gluͤkliche Wendung, ſelbſt nur durch den Ton der
Worte, in denen ſie uns wieder vorkommen, die
Kraft gewinnen, ſich der ganzen Seele zu bemaͤch-
tigen. Lieder, die nichts enthalten, als was man
ſchon tauſendmal ohne Kraft gedacht und empfun-

den
J i 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0263" n="251"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dic</hi></fw><lb/>
dem an&#x017F;chauenden Erkenntniß mahlen, was der Red-<lb/>
ner dem Ver&#x017F;tand entwikelt, &#x017F;ind des Dichters ge-<lb/>
wo&#x0364;hnliche Mittel zum Ausdruk.</p><lb/>
          <p>Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e muß nothwendig die Rede des<lb/>
Dichters von des Redners Rede, &#x017F;owol in der Ma-<lb/>
terie, als in der Form, dem Ausdruk und dem Ton<lb/>
ganz ver&#x017F;chieden werden; und deswegen theilet &#x017F;ich<lb/>
die Kun&#x017F;t der Rede in die zwey Haupta&#x0364;&#x017F;te, die Be-<lb/>
red&#x017F;amkeit und die Dichtkun&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Der Grund der Dichtkun&#x017F;t i&#x017F;t in dem Genie des<lb/>
Dichters zu &#x017F;uchen, und die ver&#x017F;chiedenen Zweyge<lb/>
der&#x017F;elben, oder die Gattungen der Gedichte ent&#x017F;te-<lb/>
hen &#x017F;owol aus der be&#x017F;ondern Art des dichteri&#x017F;chen<lb/>
Genies, als aus den be&#x017F;ondern Veranla&#x017F;ungen da-<lb/>
zu. Von jenem i&#x017F;t in dem vorhergehenden Artikel<lb/>
ge&#x017F;prochen worden; von die&#x017F;em aber wird in dem Ar-<lb/>
tikel Gedicht gehandelt. Demnach bleiben uns hier<lb/>
allgemeine Betrachtungen u&#x0364;ber die Dichtkun&#x017F;t, ihre<lb/>
Anwendung und Wu&#x0364;rkung u&#x0364;brig</p><lb/>
          <p>Der Gegen&#x017F;tand der Dichtkun&#x017F;t, oder die Ma-<lb/>
terie, die &#x017F;ie bearbeitet, i&#x017F;t jede Vor&#x017F;tellung des<lb/>
Gei&#x017F;tes, die klar genug i&#x017F;t, unter den Ausdruk der<lb/>
Rede zu fallen, und intere&#x017F;&#x017F;ant genug, die Gemu&#x0364;ther<lb/>
der Men&#x017F;chen einzunehmen. Sie &#x017F;cheinet einen<lb/>
weitern Umfang zu haben, als die Bered&#x017F;amkeit.<lb/>
Die&#x017F;e muß das Jntere&#x017F;&#x017F;ante ihres Stoffs in der<lb/>
Materie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;uchen, da der Dichter durch die<lb/>
Wa&#x0364;rme &#x017F;einer Empfindung, Lebhaftigkeit &#x017F;einer Ein-<lb/>
bildungskraft und den &#x017F;onderbaren Ge&#x017F;ichtspunkt,<lb/>
in welchen ihn &#x017F;eine Laune &#x017F;etzet, auch den &#x017F;chlechte-<lb/>
&#x017F;ten Stoff intre&#x017F;&#x017F;ant machen kann. Der Ge&#x017F;ang<lb/><note place="left">(*) S.<lb/>
Anakreons<lb/>
Ode auf die<lb/>
Cicada.</note>einer Nachtigall, &#x017F;o gar eines Jn&#x017F;ekts (*) kann ihn<lb/>
&#x017F;o reizen, &#x017F;eine Einbildungskraft und &#x017F;ein Herz &#x017F;o<lb/>
erwa&#x0364;rmen, daß er in die angenehm&#x017F;te Schwer-<lb/>
merey von &#x017F;anften Empfindungen za&#x0364;rtlicher Art ge-<lb/>
ra&#x0364;th, und manch liebliches Bild der Phanta&#x017F;ie vor<lb/>
&#x017F;einen Augen &#x017F;ieht; die&#x017F;es reitzt ihn durch einen die&#x017F;er<lb/>
Empfindung angeme&#x017F;&#x017F;enen Ge&#x017F;ang auch uns in den an-<lb/>
genehmen Gemu&#x0364;thszu&#x017F;tand zu &#x017F;etzen, darin er &#x017F;ich be-<lb/>
findet. So bildet der Dichter durch &#x017F;ein Genie ei-<lb/>
nen &#x017F;chlechten Stoff, den der Redner ungebraucht<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en muß, zu einer angenehmen Materie, und<lb/>
dem, der &#x017F;chon an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t reich i&#x017F;t, giebt er durch<lb/>
&#x017F;eine eigene Gedanken, Phanta&#x017F;ien und Empfindun-<lb/>
gen, einen Ueberflus an jeder Art von Kraft. Was<lb/>
hat nicht <hi rendition="#fr">Homer</hi> bey Vor&#x017F;tellung der Belagerung<lb/>
von Troja gefu&#x0364;hlt, und <hi rendition="#fr">Klop&#x017F;tok</hi> bey dem Leiden<lb/>
und dem Tode Je&#x017F;u? Nichts &#x017F;cheinet &#x017F;o geringe,<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dic</hi></fw><lb/>
das die Dichtkun&#x017F;t nicht intre&#x017F;&#x017F;ant, und nichts &#x017F;o<lb/>
groß, das &#x017F;ie nicht noch weit mehr vergro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern ko&#x0364;nne.<lb/>
Denn eigentlich zeiget der Dichter &#x017F;einen Gegen&#x017F;tand<lb/>
nicht, wie er in der Welt vorhanden i&#x017F;t, &#x017F;ondern<lb/>
wie &#x017F;ein fruchtbares Genie ihn bildet, wie &#x017F;eine<lb/>
Phanta&#x017F;ie ihn &#x017F;chmu&#x0364;ket, und was &#x017F;ein empfindungs-<lb/>
volles Herz noch dabey empfindet, la&#x0364;ßt er uns mit<lb/>
genie&#x017F;&#x017F;en. Wir &#x017F;ehen durch ihn mehr die Scenen,<lb/>
die &#x017F;eine Phanta&#x017F;ie und &#x017F;ein Herz be&#x017F;cha&#x0364;ftigen, als<lb/>
Scenen der Natur. Al&#x017F;o wird einem Dichter, de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en Kopf und Herz merkwu&#x0364;rdig &#x017F;ind, der gering&#x017F;te<lb/>
Stoff Gelegenheit zu einem guten Werk: aber alle-<lb/>
mal wird er ihn nach der Stimmung &#x017F;eines Charak-<lb/>
ters wa&#x0364;hlen; der einen gro&#x017F;&#x017F;en und ern&#x017F;thaften,<lb/>
der einen lieblichen; der einen traurigen, und der<lb/>
einen fro&#x0364;hlichen. Aber in die&#x017F;er Wahl hat er,<lb/>
wenn ihn Ver&#x017F;tand und Ueberlegung nicht verla&#x0364;ßt,<lb/>
eine genaue Ru&#x0364;k&#x017F;icht auf die, die &#x017F;eine Ge&#x017F;a&#x0364;nge ho&#x0364;-<lb/>
ren &#x017F;ollen. Nicht jeder außerordentliche Zu&#x017F;tand<lb/>
&#x017F;einer Einbildungskraft oder &#x017F;eines Herzens i&#x017F;t ihm<lb/>
wichtig genug, um ihn auf dem Dreyfus des Apollo<lb/>
der Welt zu entfalten; &#x017F;o wol &#x017F;eine eigene Ehre,<lb/>
als das, was er der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, darin er lebt, was<lb/>
er den Men&#x017F;chen u&#x0364;berhaupt &#x017F;chuldig i&#x017F;t, leitet &#x017F;eine<lb/>
Wahl, und dadurch ver&#x017F;ichert er &#x017F;ich der Hochach-<lb/>
tung und Dankbarkeit &#x017F;einer Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en und der<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;the&#x017F;ten Nachwelt.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;es &#x017F;ind die Wu&#x0364;rkungen der Dichtkun&#x017F;t auf<lb/>
den Dichter. Nicht weniger wichtig &#x017F;ind die, wel-<lb/>
che &#x017F;ie auf die Gemu&#x0364;ther der Men&#x017F;chen hat, die<lb/>
dem Dichter ein aufmerk&#x017F;ames und empfindliches<lb/>
Ohr leihen. Wenn nach einer alten &#x017F;ehr richtigen<lb/>
Bemerkung das Wort, das aus dem Herzen ent-<lb/>
&#x017F;tanden i&#x017F;t, wieder in die Herzen dringt, &#x017F;o i&#x017F;t der<lb/>
Dichter ein Mei&#x017F;ter u&#x0364;ber die Herzen der Men&#x017F;chen.<lb/>
Nicht nur die Gedanken und Bilder &#x017F;elb&#x017F;t, die er<lb/>
vorlegt, tragen das Gepra&#x0364;ge eines empfind&#x017F;amen<lb/>
Herzens; auch der Ausdruk und der Ton der gan-<lb/>
zen Rede be&#x017F;ta&#x0364;tigen es, und la&#x017F;&#x017F;en es uns unmit-<lb/>
telbar empfinden. Die unerfor&#x017F;chliche Tiefe des<lb/>
men&#x017F;chlichen Herzens zeiget &#x017F;ich auch darin, daß<lb/>
bisweilen Vor&#x017F;tellungen, die &#x017F;ehr oft ohne alle<lb/>
Wu&#x0364;rkung vor uns voru&#x0364;bergegangen, blos durch eine<lb/>
glu&#x0364;kliche Wendung, &#x017F;elb&#x017F;t nur durch den Ton der<lb/>
Worte, in denen &#x017F;ie uns wieder vorkommen, die<lb/>
Kraft gewinnen, &#x017F;ich der ganzen Seele zu bema&#x0364;ch-<lb/>
tigen. Lieder, die nichts enthalten, als was man<lb/>
&#x017F;chon tau&#x017F;endmal ohne Kraft gedacht und empfun-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J i 2</fw><fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0263] Dic Dic dem anſchauenden Erkenntniß mahlen, was der Red- ner dem Verſtand entwikelt, ſind des Dichters ge- woͤhnliche Mittel zum Ausdruk. Auf dieſe Weiſe muß nothwendig die Rede des Dichters von des Redners Rede, ſowol in der Ma- terie, als in der Form, dem Ausdruk und dem Ton ganz verſchieden werden; und deswegen theilet ſich die Kunſt der Rede in die zwey Hauptaͤſte, die Be- redſamkeit und die Dichtkunſt. Der Grund der Dichtkunſt iſt in dem Genie des Dichters zu ſuchen, und die verſchiedenen Zweyge derſelben, oder die Gattungen der Gedichte entſte- hen ſowol aus der beſondern Art des dichteriſchen Genies, als aus den beſondern Veranlaſungen da- zu. Von jenem iſt in dem vorhergehenden Artikel geſprochen worden; von dieſem aber wird in dem Ar- tikel Gedicht gehandelt. Demnach bleiben uns hier allgemeine Betrachtungen uͤber die Dichtkunſt, ihre Anwendung und Wuͤrkung uͤbrig Der Gegenſtand der Dichtkunſt, oder die Ma- terie, die ſie bearbeitet, iſt jede Vorſtellung des Geiſtes, die klar genug iſt, unter den Ausdruk der Rede zu fallen, und intereſſant genug, die Gemuͤther der Menſchen einzunehmen. Sie ſcheinet einen weitern Umfang zu haben, als die Beredſamkeit. Dieſe muß das Jntereſſante ihres Stoffs in der Materie ſelbſt ſuchen, da der Dichter durch die Waͤrme ſeiner Empfindung, Lebhaftigkeit ſeiner Ein- bildungskraft und den ſonderbaren Geſichtspunkt, in welchen ihn ſeine Laune ſetzet, auch den ſchlechte- ſten Stoff intreſſant machen kann. Der Geſang einer Nachtigall, ſo gar eines Jnſekts (*) kann ihn ſo reizen, ſeine Einbildungskraft und ſein Herz ſo erwaͤrmen, daß er in die angenehmſte Schwer- merey von ſanften Empfindungen zaͤrtlicher Art ge- raͤth, und manch liebliches Bild der Phantaſie vor ſeinen Augen ſieht; dieſes reitzt ihn durch einen dieſer Empfindung angemeſſenen Geſang auch uns in den an- genehmen Gemuͤthszuſtand zu ſetzen, darin er ſich be- findet. So bildet der Dichter durch ſein Genie ei- nen ſchlechten Stoff, den der Redner ungebraucht laſſen muß, zu einer angenehmen Materie, und dem, der ſchon an ſich ſelbſt reich iſt, giebt er durch ſeine eigene Gedanken, Phantaſien und Empfindun- gen, einen Ueberflus an jeder Art von Kraft. Was hat nicht Homer bey Vorſtellung der Belagerung von Troja gefuͤhlt, und Klopſtok bey dem Leiden und dem Tode Jeſu? Nichts ſcheinet ſo geringe, das die Dichtkunſt nicht intreſſant, und nichts ſo groß, das ſie nicht noch weit mehr vergroͤſſern koͤnne. Denn eigentlich zeiget der Dichter ſeinen Gegenſtand nicht, wie er in der Welt vorhanden iſt, ſondern wie ſein fruchtbares Genie ihn bildet, wie ſeine Phantaſie ihn ſchmuͤket, und was ſein empfindungs- volles Herz noch dabey empfindet, laͤßt er uns mit genieſſen. Wir ſehen durch ihn mehr die Scenen, die ſeine Phantaſie und ſein Herz beſchaͤftigen, als Scenen der Natur. Alſo wird einem Dichter, deſ- ſen Kopf und Herz merkwuͤrdig ſind, der geringſte Stoff Gelegenheit zu einem guten Werk: aber alle- mal wird er ihn nach der Stimmung ſeines Charak- ters waͤhlen; der einen groſſen und ernſthaften, der einen lieblichen; der einen traurigen, und der einen froͤhlichen. Aber in dieſer Wahl hat er, wenn ihn Verſtand und Ueberlegung nicht verlaͤßt, eine genaue Ruͤkſicht auf die, die ſeine Geſaͤnge hoͤ- ren ſollen. Nicht jeder außerordentliche Zuſtand ſeiner Einbildungskraft oder ſeines Herzens iſt ihm wichtig genug, um ihn auf dem Dreyfus des Apollo der Welt zu entfalten; ſo wol ſeine eigene Ehre, als das, was er der Geſellſchaft, darin er lebt, was er den Menſchen uͤberhaupt ſchuldig iſt, leitet ſeine Wahl, und dadurch verſichert er ſich der Hochach- tung und Dankbarkeit ſeiner Zeitgenoſſen und der ſpaͤtheſten Nachwelt. (*) S. Anakreons Ode auf die Cicada. Dieſes ſind die Wuͤrkungen der Dichtkunſt auf den Dichter. Nicht weniger wichtig ſind die, wel- che ſie auf die Gemuͤther der Menſchen hat, die dem Dichter ein aufmerkſames und empfindliches Ohr leihen. Wenn nach einer alten ſehr richtigen Bemerkung das Wort, das aus dem Herzen ent- ſtanden iſt, wieder in die Herzen dringt, ſo iſt der Dichter ein Meiſter uͤber die Herzen der Menſchen. Nicht nur die Gedanken und Bilder ſelbſt, die er vorlegt, tragen das Gepraͤge eines empfindſamen Herzens; auch der Ausdruk und der Ton der gan- zen Rede beſtaͤtigen es, und laſſen es uns unmit- telbar empfinden. Die unerforſchliche Tiefe des menſchlichen Herzens zeiget ſich auch darin, daß bisweilen Vorſtellungen, die ſehr oft ohne alle Wuͤrkung vor uns voruͤbergegangen, blos durch eine gluͤkliche Wendung, ſelbſt nur durch den Ton der Worte, in denen ſie uns wieder vorkommen, die Kraft gewinnen, ſich der ganzen Seele zu bemaͤch- tigen. Lieder, die nichts enthalten, als was man ſchon tauſendmal ohne Kraft gedacht und empfun- den J i 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/263
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/263>, abgerufen am 03.05.2024.