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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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hältnisse unwissend seyn, die die Harmonie der Seele
ausmachen; denn eine niederträchtige Sinnesart
macht die eigentliche Dissonanz und Disproportion
aus. Und ob gleich nichtswürdige Menschen auch
ihren hohen Ton und natürliche Fähigkeit zu han-
deln haben können; so ist es doch nicht möglich,
daß richtige Urtheilskraft und sittliches Gefühl
sich da finden sollten, wo Harmonie und Redlich-
keit mangeln."

Es ist zu wünschen, daß diejenigen, die das Rich-
teramt im Reich des Geschmaks auf sich genommen
haben, die Dichter öfterer und ernstlicher, als sie
es thun, an die Würde ihres Berufs erinneren.
Gar zu ofte loben sie den feinen Witz, den fließen-
den und angenehmen Ausdruk, ohne darauf zu se-
hen, ob diese, an sich zwar angenehme und nöthige
Theile der poetischen Kunst, auf eine Materie ange-
wendet worden, die Menschen, denen es nicht blos
um angenehmen Zeitvertreib, oder um unbestimmte
und leicht wieder vorübergehende Aufwallungen der
Empfindung zu thun ist, intressant seyn können.
Es gehört wahrlich viel dazu, dem feinesten und ver-
ständigsten Theil einer Nation etwas zu sagen, das
auf seine Art zu denken und zu| handeln vortheil-
haften Einflus habe. Der Dichter, der sich eines
solchen Erfolges schmeicheln will, muß nothwendig
über Menschen, Sitten, Handlungen und Geschäfte,
entweder schärfer und richtiger gedacht haben, als
die, für welche er schreibt; oder er muß wenigstens,
wenn er sie darin nicht übertrifft, dem, was sie
schon wissen und denken, in ihren Gemüthern einen
höhern Grad der Lebhaftigkeit und Würksamkeit zu
geben wissen, wenn sie anders auf seinen Gesang
hören sollen. Dazu gehören nicht blos Talente,
wenn sie auch mit jeder zum Ausdruk nöthigen
Fertigkeit verbunden sind; nur eine große Kennt-
nis des menschlichen Herzens, eine scharfsinnige
Beobachtung der Sitten, ein feines und richtiges
Gefühl des Guten, und eine gesunde Beurtheilungs-
kraft des wahren und falschen in den Maaßregeln des
gemeinen und öffentlichen Lebens, mit jenen zur Kunst
gehörigen Talenten und Fertigkeiten verbunden, ma-
chen einen Dichter aus, der gerechten Anspruch auf
die Hochachtung seiner Nation machen kann.

Dichtkunst. Poesie.

Die Kunst den Vorstellungen, die nnter den Aus-
druk der Rede fallen, nach Beschaffenheit der Ab-

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sicht den höchsten Grad der sinnlichen Kraft zu
geben.
Der Dichter hat dieses mit dem Redner
gemein, daß er vermittelst der Rede in andern ge-
wisse Vorstellungen erweket; aber die besondre Art,
wie jeder seinen Zwek zu erreichen sucht, macht den
Unterschied zwischen der Beredsamkeit und Dicht-
kunst. Der Redner behandelt seinen Stoff als ein
Mensch, der sich besitzet, der sieht, beurtheilet und
empfindet, was vor ihm liegt; der Dichter wird
von seinem Gegenstand lebhafter gerühret, er wird
davon so hingerissen, daß er in Begeisterung oder
doch in eine Träumung geräth, in welcher seine
Phantasie freyer und lebhafter würket. Daher kommt
es, daß er seinen Gegenstand anders sieht, als an-
dre Menschen, daß ihm das Vergangene und Zu-
künftige, als gegenwärtig, das blos eingebildete,
als würklich vorhanden vorkommt, daß seine Vor-
stellungskraft durch die geringste Veranlasung eine
Menge Nebenbegriffe aufweket, die ihn eben so leb-
haft rühren, als die, welche unmittelbar in seiner
Materie liegen. Die Rede des Dichters wird also
ihrem Jnhalt nach sinnlicher, und an Materie rei-
cher; er mischet unter das würklich vorhandene viel
eingebildetes, dem er den Schein des würklichen giebt;
die Vorstellungen haben weniger Zusammenhang,
als in dem Vortrag des Redners. Nicht nur die
Materie wird durch diese ungleiche Art, wie der
Redner und Dichter jeder von derselben gerührt
wird, sehr verschieden behandelt; es zeiget sich auch
natürlicher Weise eine eben so grosse Verschieden-
heit in beyder Ausdruk. Der Ton des Redners, so
stark, so nachdrüklich und pathetisch er auch wird, ist
doch immer der Ton eines Menschen, der weiß, was
er spricht, und vor wem er spricht; aber der Ton
des Dichters ist durchaus, auch da wo er blos sanft
fließt, schwermerisch und durch abgemessene Schritte,
durch mehr Klang und Musik von dem Ton der ge-
meinen Rede unterschieden; es ist der Ton eines
Menschen, der, von seiner Materie ungewöhnlich
gerührt, auch ungewöhnlich davon spricht, dessen
Worte, wenn es auch gemeine Worte sind, we-
nigstens in dem Ton das Gepräge einer tiefen
Rührung der Seele haben. Auch der Ausdruk des
Redners ist von des Dichters seinem stark unter-
schieden. Jener nihmt ihn aus der gewöhnlichen
Sprache der Menschen, dieser findet den gemeinen
Ausdruk selten stark genug; ungewöhnliche Figuren
und Versetzungen, kühne Methaphern, Bilder, die

dem

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Dic
haͤltniſſe unwiſſend ſeyn, die die Harmonie der Seele
ausmachen; denn eine niedertraͤchtige Sinnesart
macht die eigentliche Diſſonanz und Disproportion
aus. Und ob gleich nichtswuͤrdige Menſchen auch
ihren hohen Ton und natuͤrliche Faͤhigkeit zu han-
deln haben koͤnnen; ſo iſt es doch nicht moͤglich,
daß richtige Urtheilskraft und ſittliches Gefuͤhl
ſich da finden ſollten, wo Harmonie und Redlich-
keit mangeln.‟

Es iſt zu wuͤnſchen, daß diejenigen, die das Rich-
teramt im Reich des Geſchmaks auf ſich genommen
haben, die Dichter oͤfterer und ernſtlicher, als ſie
es thun, an die Wuͤrde ihres Berufs erinneren.
Gar zu ofte loben ſie den feinen Witz, den fließen-
den und angenehmen Ausdruk, ohne darauf zu ſe-
hen, ob dieſe, an ſich zwar angenehme und noͤthige
Theile der poetiſchen Kunſt, auf eine Materie ange-
wendet worden, die Menſchen, denen es nicht blos
um angenehmen Zeitvertreib, oder um unbeſtimmte
und leicht wieder voruͤbergehende Aufwallungen der
Empfindung zu thun iſt, intreſſant ſeyn koͤnnen.
Es gehoͤrt wahrlich viel dazu, dem feineſten und ver-
ſtaͤndigſten Theil einer Nation etwas zu ſagen, das
auf ſeine Art zu denken und zu| handeln vortheil-
haften Einflus habe. Der Dichter, der ſich eines
ſolchen Erfolges ſchmeicheln will, muß nothwendig
uͤber Menſchen, Sitten, Handlungen und Geſchaͤfte,
entweder ſchaͤrfer und richtiger gedacht haben, als
die, fuͤr welche er ſchreibt; oder er muß wenigſtens,
wenn er ſie darin nicht uͤbertrifft, dem, was ſie
ſchon wiſſen und denken, in ihren Gemuͤthern einen
hoͤhern Grad der Lebhaftigkeit und Wuͤrkſamkeit zu
geben wiſſen, wenn ſie anders auf ſeinen Geſang
hoͤren ſollen. Dazu gehoͤren nicht blos Talente,
wenn ſie auch mit jeder zum Ausdruk noͤthigen
Fertigkeit verbunden ſind; nur eine große Kennt-
nis des menſchlichen Herzens, eine ſcharfſinnige
Beobachtung der Sitten, ein feines und richtiges
Gefuͤhl des Guten, und eine geſunde Beurtheilungs-
kraft des wahren und falſchen in den Maaßregeln des
gemeinen und oͤffentlichen Lebens, mit jenen zur Kunſt
gehoͤrigen Talenten und Fertigkeiten verbunden, ma-
chen einen Dichter aus, der gerechten Anſpruch auf
die Hochachtung ſeiner Nation machen kann.

Dichtkunſt. Poeſie.

Die Kunſt den Vorſtellungen, die nnter den Aus-
druk der Rede fallen, nach Beſchaffenheit der Ab-

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Dic
ſicht den hoͤchſten Grad der ſinnlichen Kraft zu
geben.
Der Dichter hat dieſes mit dem Redner
gemein, daß er vermittelſt der Rede in andern ge-
wiſſe Vorſtellungen erweket; aber die beſondre Art,
wie jeder ſeinen Zwek zu erreichen ſucht, macht den
Unterſchied zwiſchen der Beredſamkeit und Dicht-
kunſt. Der Redner behandelt ſeinen Stoff als ein
Menſch, der ſich beſitzet, der ſieht, beurtheilet und
empfindet, was vor ihm liegt; der Dichter wird
von ſeinem Gegenſtand lebhafter geruͤhret, er wird
davon ſo hingeriſſen, daß er in Begeiſterung oder
doch in eine Traͤumung geraͤth, in welcher ſeine
Phantaſie freyer und lebhafter wuͤrket. Daher kommt
es, daß er ſeinen Gegenſtand anders ſieht, als an-
dre Menſchen, daß ihm das Vergangene und Zu-
kuͤnftige, als gegenwaͤrtig, das blos eingebildete,
als wuͤrklich vorhanden vorkommt, daß ſeine Vor-
ſtellungskraft durch die geringſte Veranlaſung eine
Menge Nebenbegriffe aufweket, die ihn eben ſo leb-
haft ruͤhren, als die, welche unmittelbar in ſeiner
Materie liegen. Die Rede des Dichters wird alſo
ihrem Jnhalt nach ſinnlicher, und an Materie rei-
cher; er miſchet unter das wuͤrklich vorhandene viel
eingebildetes, dem er den Schein des wuͤrklichen giebt;
die Vorſtellungen haben weniger Zuſammenhang,
als in dem Vortrag des Redners. Nicht nur die
Materie wird durch dieſe ungleiche Art, wie der
Redner und Dichter jeder von derſelben geruͤhrt
wird, ſehr verſchieden behandelt; es zeiget ſich auch
natuͤrlicher Weiſe eine eben ſo groſſe Verſchieden-
heit in beyder Ausdruk. Der Ton des Redners, ſo
ſtark, ſo nachdruͤklich und pathetiſch er auch wird, iſt
doch immer der Ton eines Menſchen, der weiß, was
er ſpricht, und vor wem er ſpricht; aber der Ton
des Dichters iſt durchaus, auch da wo er blos ſanft
fließt, ſchwermeriſch und durch abgemeſſene Schritte,
durch mehr Klang und Muſik von dem Ton der ge-
meinen Rede unterſchieden; es iſt der Ton eines
Menſchen, der, von ſeiner Materie ungewoͤhnlich
geruͤhrt, auch ungewoͤhnlich davon ſpricht, deſſen
Worte, wenn es auch gemeine Worte ſind, we-
nigſtens in dem Ton das Gepraͤge einer tiefen
Ruͤhrung der Seele haben. Auch der Ausdruk des
Redners iſt von des Dichters ſeinem ſtark unter-
ſchieden. Jener nihmt ihn aus der gewoͤhnlichen
Sprache der Menſchen, dieſer findet den gemeinen
Ausdruk ſelten ſtark genug; ungewoͤhnliche Figuren
und Verſetzungen, kuͤhne Methaphern, Bilder, die

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[250/0262] Dic Dic haͤltniſſe unwiſſend ſeyn, die die Harmonie der Seele ausmachen; denn eine niedertraͤchtige Sinnesart macht die eigentliche Diſſonanz und Disproportion aus. Und ob gleich nichtswuͤrdige Menſchen auch ihren hohen Ton und natuͤrliche Faͤhigkeit zu han- deln haben koͤnnen; ſo iſt es doch nicht moͤglich, daß richtige Urtheilskraft und ſittliches Gefuͤhl ſich da finden ſollten, wo Harmonie und Redlich- keit mangeln.‟ Es iſt zu wuͤnſchen, daß diejenigen, die das Rich- teramt im Reich des Geſchmaks auf ſich genommen haben, die Dichter oͤfterer und ernſtlicher, als ſie es thun, an die Wuͤrde ihres Berufs erinneren. Gar zu ofte loben ſie den feinen Witz, den fließen- den und angenehmen Ausdruk, ohne darauf zu ſe- hen, ob dieſe, an ſich zwar angenehme und noͤthige Theile der poetiſchen Kunſt, auf eine Materie ange- wendet worden, die Menſchen, denen es nicht blos um angenehmen Zeitvertreib, oder um unbeſtimmte und leicht wieder voruͤbergehende Aufwallungen der Empfindung zu thun iſt, intreſſant ſeyn koͤnnen. Es gehoͤrt wahrlich viel dazu, dem feineſten und ver- ſtaͤndigſten Theil einer Nation etwas zu ſagen, das auf ſeine Art zu denken und zu| handeln vortheil- haften Einflus habe. Der Dichter, der ſich eines ſolchen Erfolges ſchmeicheln will, muß nothwendig uͤber Menſchen, Sitten, Handlungen und Geſchaͤfte, entweder ſchaͤrfer und richtiger gedacht haben, als die, fuͤr welche er ſchreibt; oder er muß wenigſtens, wenn er ſie darin nicht uͤbertrifft, dem, was ſie ſchon wiſſen und denken, in ihren Gemuͤthern einen hoͤhern Grad der Lebhaftigkeit und Wuͤrkſamkeit zu geben wiſſen, wenn ſie anders auf ſeinen Geſang hoͤren ſollen. Dazu gehoͤren nicht blos Talente, wenn ſie auch mit jeder zum Ausdruk noͤthigen Fertigkeit verbunden ſind; nur eine große Kennt- nis des menſchlichen Herzens, eine ſcharfſinnige Beobachtung der Sitten, ein feines und richtiges Gefuͤhl des Guten, und eine geſunde Beurtheilungs- kraft des wahren und falſchen in den Maaßregeln des gemeinen und oͤffentlichen Lebens, mit jenen zur Kunſt gehoͤrigen Talenten und Fertigkeiten verbunden, ma- chen einen Dichter aus, der gerechten Anſpruch auf die Hochachtung ſeiner Nation machen kann. Dichtkunſt. Poeſie. Die Kunſt den Vorſtellungen, die nnter den Aus- druk der Rede fallen, nach Beſchaffenheit der Ab- ſicht den hoͤchſten Grad der ſinnlichen Kraft zu geben. Der Dichter hat dieſes mit dem Redner gemein, daß er vermittelſt der Rede in andern ge- wiſſe Vorſtellungen erweket; aber die beſondre Art, wie jeder ſeinen Zwek zu erreichen ſucht, macht den Unterſchied zwiſchen der Beredſamkeit und Dicht- kunſt. Der Redner behandelt ſeinen Stoff als ein Menſch, der ſich beſitzet, der ſieht, beurtheilet und empfindet, was vor ihm liegt; der Dichter wird von ſeinem Gegenſtand lebhafter geruͤhret, er wird davon ſo hingeriſſen, daß er in Begeiſterung oder doch in eine Traͤumung geraͤth, in welcher ſeine Phantaſie freyer und lebhafter wuͤrket. Daher kommt es, daß er ſeinen Gegenſtand anders ſieht, als an- dre Menſchen, daß ihm das Vergangene und Zu- kuͤnftige, als gegenwaͤrtig, das blos eingebildete, als wuͤrklich vorhanden vorkommt, daß ſeine Vor- ſtellungskraft durch die geringſte Veranlaſung eine Menge Nebenbegriffe aufweket, die ihn eben ſo leb- haft ruͤhren, als die, welche unmittelbar in ſeiner Materie liegen. Die Rede des Dichters wird alſo ihrem Jnhalt nach ſinnlicher, und an Materie rei- cher; er miſchet unter das wuͤrklich vorhandene viel eingebildetes, dem er den Schein des wuͤrklichen giebt; die Vorſtellungen haben weniger Zuſammenhang, als in dem Vortrag des Redners. Nicht nur die Materie wird durch dieſe ungleiche Art, wie der Redner und Dichter jeder von derſelben geruͤhrt wird, ſehr verſchieden behandelt; es zeiget ſich auch natuͤrlicher Weiſe eine eben ſo groſſe Verſchieden- heit in beyder Ausdruk. Der Ton des Redners, ſo ſtark, ſo nachdruͤklich und pathetiſch er auch wird, iſt doch immer der Ton eines Menſchen, der weiß, was er ſpricht, und vor wem er ſpricht; aber der Ton des Dichters iſt durchaus, auch da wo er blos ſanft fließt, ſchwermeriſch und durch abgemeſſene Schritte, durch mehr Klang und Muſik von dem Ton der ge- meinen Rede unterſchieden; es iſt der Ton eines Menſchen, der, von ſeiner Materie ungewoͤhnlich geruͤhrt, auch ungewoͤhnlich davon ſpricht, deſſen Worte, wenn es auch gemeine Worte ſind, we- nigſtens in dem Ton das Gepraͤge einer tiefen Ruͤhrung der Seele haben. Auch der Ausdruk des Redners iſt von des Dichters ſeinem ſtark unter- ſchieden. Jener nihmt ihn aus der gewoͤhnlichen Sprache der Menſchen, dieſer findet den gemeinen Ausdruk ſelten ſtark genug; ungewoͤhnliche Figuren und Verſetzungen, kuͤhne Methaphern, Bilder, die dem

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/262>, abgerufen am 24.11.2024.