Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Dic
(*) S.
[Plu]tarch
im Solon.
sehr wichtige Entschlüsse beyzubringen (*). Wir wol-
len ihm sagen, daß auch Werke von großem und
ernsthaften Jnhalt von der Seite der Annehmlich-
keit betrachtet, große Vorzüge haben können. Daß
der lehrreiche Homer,

Qui quid sit pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non,
(*) Hor.
Epist. I.
2.
Plenius ac melius Chrysippo et Crantore dicit (*).

reizende Annehmlichkeiten zur Ergözung der Einbil-
dungskraft habe [Spaltenumbruch] (+).

Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen
ehrenhaften Platz unter wolgesitteten und verständi-
gen Menschen gerne gönnen, so erstrekt sich dieses
nicht auf diejenigen, die uns mit eben so unwitzig
als unsittlichen Gesängen, gleich Fröschen, die aus
Sümpfen quaxen, beschwerlich fallen. Die Zahl
solcher Undichter ist so groß, daß sie die Poesie
überhaupt in die Gefahr setzen, als etwas verächt-
liches angesehen zu werden; sie sind es, die der
edelsten aller edlen Künste die schweeren Vorwürfe
zugezogen haben, darüber Opitz klagt, und die noch
itzt diese göttliche Kunst drüken. Der Vater der
deutschen Dichter sagt, daß einige "aus der Poe-
terey, nicht weiß ich, was für ein geringes Wesen
machen, und sie wo nicht gar verwerfen, doch nicht
sonderlich achten, auch wol vorgeben, man wisse ei-
nen Poeten in öffentlichen Aemtern wenig, oder gar
nicht zu gebrauchen, weil er sich in dieser angeneh-
men Thorheit und ruhigen Wollust so vertiefe, daß
er die andern Künste und Wissenschaften, von wel-
chen man rechten Nutz und Ehre schöpfen kann, ge-
meiniglich hindan setze. Ja wenn sie einen gar ver-
ächtlich haben wollen, so nennen sie ihn einen Poe-
ten: Wie denn Erasmo Roterodamo von groben
Leuten geschehen - - - Sie wissen ferner viel von
ihren Lügen, ärgerlichen Schriften und Leben zu sa-
gen, und erinnern, es sey keiner ein guter Poet, er
müsse denn zugleich ein böser Mensch seyn. (++)"
Diese Vorwürfe scheinen einen groben Unverstand,
[Spaltenumbruch]

Dic
oder tollkühne Schmähsucht zum Grund zu haben,
so bald man sich erinnert, daß Homer, Sophokles,
Euripides
und Männer von dieser Art, Dichter ge-
wesen sind; aber was für eine grosse Liste von alten
und neuen Dichtern könnte man nicht geben, auf
die diese Beschuldigung mit Recht kann gelegt wer-
den? Man kann sowol zur Beschimpfung der schlech-
ten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts
nachdrüklichers anführen, als die folgenden Worte
eines der feinesten Kenner (*). Jch muß gestehen,(*) S.
Shaftes-
bury Ad-
vice to an
Author,
Part. l.
sect.
3.

sagt er, daß schweerlich eine abgeschmaktere Gattung
Menschen irgend wo zu finden ist, als die, denen
man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertig-
keit woltönend zusprechen, wegen eines unüberlegten
abgeschmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft,
den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der
den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem
eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer
Künstler oder Baumeister in dieser Art, so wol
Menschen als Sitten schildern, der einer Handlung
ihre gehörige Form und ihre Verhältnisse geben
kann, ist, wo ich nicht irre, ein ganz anders Ge-
schöpf. Denn ein solcher Dichter ist in der That
ein andrer Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter
Jupiter. Gleich jenem obersten Künstler oder der
allgemeinen bildenden Natur, formet er ein Ganzes,
wol zusammenhangend, und in sich selbst wol abge-
messen, mit richtiger Anordnung und Zusammenfü-
gung seiner Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder
Leidenschaft, und kennet genau jeder derselben Ton
und Maaß, wodurch er sie mit Richtigkeit schildert;
er zeichnet das Erhabene der Empfindungen und
der Handlung, und unterscheidet das Schöne von
dem Häßlichen, das Liebenswürdige von dem Ver-
ächtlichen. Der sittliche Künstler, der auf diese
Weise dem Schöpfer nachahmen kann, und eine sol-
che Kenntnis der innern Gestalt und des Baues sei-
ner Mitgeschöpfe hat, wird, wie ich denke, schweer-
lich sich selbst mißkennen, oder über diejenigen Ver-

hält-
(+) Ha grand' obligazione l'animo mio a quel poeta, a
quel dipintore, il quale col arte sua mi conduce a rimmirar,
come con gli occhi propri, la famosa caduta di Troja, le
prodezze d' Achille, o d'Enea, e tanti maravigliosi giri
d'Ulysse ramingo sul mare. Muratori della persetta poesia
L. I. c.
14.
(++) Opitz von der deutschen Poeterey im III. Cap. Die
Klagen, die der Jesuit Strada über den Mißbrauch der
[Spaltenumbruch] Poesie zu seiner Zeit führet, sind auch itzt nicht unzeitig.
Adeo deformia et soeda carminum portenta nostra haec
aetas videt, adeo postremi quique poetarum lutulenti fluunt
hauriuntque de saece; ut sanctum poetae olim nomen timide
jam a bonis usurpetur, perinde quasi honesto ingenuoque
viro poetam salutari convicio ac dehonestamento sit. Stra-
da Prolus. Acad. L. I. prol.
3.
Erster Theil. J i

[Spaltenumbruch]

Dic
(*) S.
[Plu]tarch
im Solon.
ſehr wichtige Entſchluͤſſe beyzubringen (*). Wir wol-
len ihm ſagen, daß auch Werke von großem und
ernſthaften Jnhalt von der Seite der Annehmlich-
keit betrachtet, große Vorzuͤge haben koͤnnen. Daß
der lehrreiche Homer,

Qui quid ſit pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non,
(*) Hor.
Epiſt. I.
2.
Plenius ac melius Chryſippo et Crantore dicit (*).

reizende Annehmlichkeiten zur Ergoͤzung der Einbil-
dungskraft habe [Spaltenumbruch] (†).

Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen
ehrenhaften Platz unter wolgeſitteten und verſtaͤndi-
gen Menſchen gerne goͤnnen, ſo erſtrekt ſich dieſes
nicht auf diejenigen, die uns mit eben ſo unwitzig
als unſittlichen Geſaͤngen, gleich Froͤſchen, die aus
Suͤmpfen quaxen, beſchwerlich fallen. Die Zahl
ſolcher Undichter iſt ſo groß, daß ſie die Poeſie
uͤberhaupt in die Gefahr ſetzen, als etwas veraͤcht-
liches angeſehen zu werden; ſie ſind es, die der
edelſten aller edlen Kuͤnſte die ſchweeren Vorwuͤrfe
zugezogen haben, daruͤber Opitz klagt, und die noch
itzt dieſe goͤttliche Kunſt druͤken. Der Vater der
deutſchen Dichter ſagt, daß einige „aus der Poe-
terey, nicht weiß ich, was fuͤr ein geringes Weſen
machen, und ſie wo nicht gar verwerfen, doch nicht
ſonderlich achten, auch wol vorgeben, man wiſſe ei-
nen Poeten in oͤffentlichen Aemtern wenig, oder gar
nicht zu gebrauchen, weil er ſich in dieſer angeneh-
men Thorheit und ruhigen Wolluſt ſo vertiefe, daß
er die andern Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, von wel-
chen man rechten Nutz und Ehre ſchoͤpfen kann, ge-
meiniglich hindan ſetze. Ja wenn ſie einen gar ver-
aͤchtlich haben wollen, ſo nennen ſie ihn einen Poe-
ten: Wie denn Erasmo Roterodamo von groben
Leuten geſchehen - - - Sie wiſſen ferner viel von
ihren Luͤgen, aͤrgerlichen Schriften und Leben zu ſa-
gen, und erinnern, es ſey keiner ein guter Poet, er
muͤſſe denn zugleich ein boͤſer Menſch ſeyn. (††)
Dieſe Vorwuͤrfe ſcheinen einen groben Unverſtand,
[Spaltenumbruch]

Dic
oder tollkuͤhne Schmaͤhſucht zum Grund zu haben,
ſo bald man ſich erinnert, daß Homer, Sophokles,
Euripides
und Maͤnner von dieſer Art, Dichter ge-
weſen ſind; aber was fuͤr eine groſſe Liſte von alten
und neuen Dichtern koͤnnte man nicht geben, auf
die dieſe Beſchuldigung mit Recht kann gelegt wer-
den? Man kann ſowol zur Beſchimpfung der ſchlech-
ten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts
nachdruͤklichers anfuͤhren, als die folgenden Worte
eines der feineſten Kenner (*). Jch muß geſtehen,(*) S.
Shaftes-
bury Ad-
vice to an
Author,
Part. l.
ſect.
3.

ſagt er, daß ſchweerlich eine abgeſchmaktere Gattung
Menſchen irgend wo zu finden iſt, als die, denen
man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertig-
keit woltoͤnend zuſprechen, wegen eines unuͤberlegten
abgeſchmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft,
den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der
den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem
eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer
Kuͤnſtler oder Baumeiſter in dieſer Art, ſo wol
Menſchen als Sitten ſchildern, der einer Handlung
ihre gehoͤrige Form und ihre Verhaͤltniſſe geben
kann, iſt, wo ich nicht irre, ein ganz anders Ge-
ſchoͤpf. Denn ein ſolcher Dichter iſt in der That
ein andrer Schoͤpfer, ein wahrer Prometheus unter
Jupiter. Gleich jenem oberſten Kuͤnſtler oder der
allgemeinen bildenden Natur, formet er ein Ganzes,
wol zuſammenhangend, und in ſich ſelbſt wol abge-
meſſen, mit richtiger Anordnung und Zuſammenfuͤ-
gung ſeiner Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder
Leidenſchaft, und kennet genau jeder derſelben Ton
und Maaß, wodurch er ſie mit Richtigkeit ſchildert;
er zeichnet das Erhabene der Empfindungen und
der Handlung, und unterſcheidet das Schoͤne von
dem Haͤßlichen, das Liebenswuͤrdige von dem Ver-
aͤchtlichen. Der ſittliche Kuͤnſtler, der auf dieſe
Weiſe dem Schoͤpfer nachahmen kann, und eine ſol-
che Kenntnis der innern Geſtalt und des Baues ſei-
ner Mitgeſchoͤpfe hat, wird, wie ich denke, ſchweer-
lich ſich ſelbſt mißkennen, oder uͤber diejenigen Ver-

haͤlt-
(†) Ha grand’ obligazione l’animo mio a quel poeta, a
quel dipintore, il quale col arte ſua mi conduce à rimmirar,
come con gli occhi propri, la famoſa caduta di Troja, le
prodezze d’ Achille, o d’Enea, e tanti maraviglioſi giri
d’Ulyſſe ramingo ſul mare. Muratori della perſetta poeſia
L. I. c.
14.
(††) Opitz von der deutſchen Poeterey im III. Cap. Die
Klagen, die der Jeſuit Strada uͤber den Mißbrauch der
[Spaltenumbruch] Poeſie zu ſeiner Zeit fuͤhret, ſind auch itzt nicht unzeitig.
Adeo deformia et ſoeda carminum portenta noſtra hæc
ætas videt, adeo poſtremi quique poetarum lutulenti fluunt
hauriuntque de ſæce; ut ſanctum poetæ olim nomen timide
jam à bonis uſurpetur, perinde quaſi honeſto ingenuoque
viro poetam ſalutari convicio ac dehoneſtamento ſit. Stra-
da Proluſ. Acad. L. I. prol.
3.
Erſter Theil. J i
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0261" n="249"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dic</hi></fw><lb/><note place="left">(*) S.<lb/><supplied>Plu</supplied>tarch<lb/>
im Solon.</note>&#x017F;ehr wichtige Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e beyzubringen (*). Wir wol-<lb/>
len ihm &#x017F;agen, daß auch Werke von großem und<lb/>
ern&#x017F;thaften Jnhalt von der Seite der Annehmlich-<lb/>
keit betrachtet, große Vorzu&#x0364;ge haben ko&#x0364;nnen. Daß<lb/>
der lehrreiche Homer,</p><lb/>
          <cit>
            <quote><hi rendition="#aq">Qui quid &#x017F;it pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non,</hi><lb/><note place="left">(*) <hi rendition="#aq">Hor.<lb/>
Epi&#x017F;t. I.</hi> 2.</note><hi rendition="#aq">Plenius ac melius Chry&#x017F;ippo et Crantore dicit</hi> (*).</quote>
          </cit><lb/>
          <p>reizende Annehmlichkeiten zur Ergo&#x0364;zung der Einbil-<lb/>
dungskraft habe <cb/>
<note place="foot" n="(&#x2020;)"><hi rendition="#aq">Ha grand&#x2019; obligazione l&#x2019;animo mio a quel poeta, a<lb/>
quel dipintore, il quale col arte &#x017F;ua mi conduce à rimmirar,<lb/>
come con gli occhi propri, la famo&#x017F;a caduta di Troja, le<lb/>
prodezze d&#x2019; Achille, o d&#x2019;Enea, e tanti maraviglio&#x017F;i giri<lb/>
d&#x2019;Uly&#x017F;&#x017F;e ramingo &#x017F;ul mare. Muratori della per&#x017F;etta poe&#x017F;ia<lb/>
L. I. c.</hi> 14.</note>.</p><lb/>
          <p>Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen<lb/>
ehrenhaften Platz unter wolge&#x017F;itteten und ver&#x017F;ta&#x0364;ndi-<lb/>
gen Men&#x017F;chen gerne go&#x0364;nnen, &#x017F;o er&#x017F;trekt &#x017F;ich die&#x017F;es<lb/>
nicht auf diejenigen, die uns mit eben &#x017F;o unwitzig<lb/>
als un&#x017F;ittlichen Ge&#x017F;a&#x0364;ngen, gleich Fro&#x0364;&#x017F;chen, die aus<lb/>
Su&#x0364;mpfen quaxen, be&#x017F;chwerlich fallen. Die Zahl<lb/>
&#x017F;olcher Undichter i&#x017F;t &#x017F;o groß, daß &#x017F;ie die Poe&#x017F;ie<lb/>
u&#x0364;berhaupt in die Gefahr &#x017F;etzen, als etwas vera&#x0364;cht-<lb/>
liches ange&#x017F;ehen zu werden; &#x017F;ie &#x017F;ind es, die der<lb/>
edel&#x017F;ten aller edlen Ku&#x0364;n&#x017F;te die &#x017F;chweeren Vorwu&#x0364;rfe<lb/>
zugezogen haben, daru&#x0364;ber <hi rendition="#fr">Opitz</hi> klagt, und die noch<lb/>
itzt die&#x017F;e go&#x0364;ttliche Kun&#x017F;t dru&#x0364;ken. Der Vater der<lb/>
deut&#x017F;chen Dichter &#x017F;agt, daß einige &#x201E;aus der Poe-<lb/>
terey, nicht weiß ich, was fu&#x0364;r ein geringes We&#x017F;en<lb/>
machen, und &#x017F;ie wo nicht gar verwerfen, doch nicht<lb/>
&#x017F;onderlich achten, auch wol vorgeben, man wi&#x017F;&#x017F;e ei-<lb/>
nen Poeten in o&#x0364;ffentlichen Aemtern wenig, oder gar<lb/>
nicht zu gebrauchen, weil er &#x017F;ich in die&#x017F;er angeneh-<lb/>
men Thorheit und ruhigen Wollu&#x017F;t &#x017F;o vertiefe, daß<lb/>
er die andern Ku&#x0364;n&#x017F;te und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, von wel-<lb/>
chen man rechten Nutz und Ehre &#x017F;cho&#x0364;pfen kann, ge-<lb/>
meiniglich hindan &#x017F;etze. Ja wenn &#x017F;ie einen gar ver-<lb/>
a&#x0364;chtlich haben wollen, &#x017F;o nennen &#x017F;ie ihn einen Poe-<lb/>
ten: Wie denn <hi rendition="#fr">Erasmo Roterodamo</hi> von groben<lb/>
Leuten ge&#x017F;chehen - - - Sie wi&#x017F;&#x017F;en ferner viel von<lb/>
ihren Lu&#x0364;gen, a&#x0364;rgerlichen Schriften und Leben zu &#x017F;a-<lb/>
gen, und erinnern, es &#x017F;ey keiner ein guter Poet, er<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e denn zugleich ein bo&#x0364;&#x017F;er Men&#x017F;ch &#x017F;eyn. <note place="foot" n="(&#x2020;&#x2020;)">Opitz von der deut&#x017F;chen Poeterey im <hi rendition="#aq">III.</hi> Cap. Die<lb/>
Klagen, die der Je&#x017F;uit Strada u&#x0364;ber den Mißbrauch der<lb/><cb/>
Poe&#x017F;ie zu &#x017F;einer Zeit fu&#x0364;hret, &#x017F;ind auch itzt nicht unzeitig.<lb/><hi rendition="#aq">Adeo deformia et &#x017F;oeda carminum portenta no&#x017F;tra hæc<lb/>
ætas videt, adeo po&#x017F;tremi quique poetarum lutulenti fluunt<lb/>
hauriuntque de &#x017F;æce; ut &#x017F;anctum poetæ olim nomen timide<lb/>
jam à bonis u&#x017F;urpetur, perinde qua&#x017F;i hone&#x017F;to ingenuoque<lb/>
viro poetam &#x017F;alutari convicio ac dehone&#x017F;tamento &#x017F;it. Stra-<lb/>
da Prolu&#x017F;. Acad. L. I. prol.</hi> 3.</note>&#x201F;<lb/>
Die&#x017F;e Vorwu&#x0364;rfe &#x017F;cheinen einen groben Unver&#x017F;tand,<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dic</hi></fw><lb/>
oder tollku&#x0364;hne Schma&#x0364;h&#x017F;ucht zum Grund zu haben,<lb/>
&#x017F;o bald man &#x017F;ich erinnert, daß <hi rendition="#fr">Homer, Sophokles,<lb/>
Euripides</hi> und Ma&#x0364;nner von die&#x017F;er Art, Dichter ge-<lb/>
we&#x017F;en &#x017F;ind; aber was fu&#x0364;r eine gro&#x017F;&#x017F;e Li&#x017F;te von alten<lb/>
und neuen Dichtern ko&#x0364;nnte man nicht geben, auf<lb/>
die die&#x017F;e Be&#x017F;chuldigung mit Recht kann gelegt wer-<lb/>
den? Man kann &#x017F;owol zur Be&#x017F;chimpfung der &#x017F;chlech-<lb/>
ten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts<lb/>
nachdru&#x0364;klichers anfu&#x0364;hren, als die folgenden Worte<lb/>
eines der feine&#x017F;ten Kenner (*). Jch muß ge&#x017F;tehen,<note place="right">(*) S.<lb/><hi rendition="#aq">Shaftes-<lb/>
bury Ad-<lb/>
vice to an<lb/>
Author,<lb/>
Part. l.<lb/>
&#x017F;ect.</hi> 3.</note><lb/>
&#x017F;agt er, daß &#x017F;chweerlich eine abge&#x017F;chmaktere Gattung<lb/>
Men&#x017F;chen irgend wo zu finden i&#x017F;t, als die, denen<lb/>
man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertig-<lb/>
keit wolto&#x0364;nend zu&#x017F;prechen, wegen eines unu&#x0364;berlegten<lb/>
abge&#x017F;chmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft,<lb/>
den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der<lb/>
den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem<lb/>
eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler oder Baumei&#x017F;ter in die&#x017F;er Art, &#x017F;o wol<lb/>
Men&#x017F;chen als Sitten &#x017F;childern, der einer Handlung<lb/>
ihre geho&#x0364;rige Form und ihre Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e geben<lb/>
kann, i&#x017F;t, wo ich nicht irre, ein ganz anders Ge-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pf. Denn ein &#x017F;olcher Dichter i&#x017F;t in der That<lb/>
ein andrer <hi rendition="#fr">Scho&#x0364;pfer,</hi> ein wahrer <hi rendition="#fr">Prometheus</hi> unter<lb/><hi rendition="#fr">Jupiter.</hi> Gleich jenem ober&#x017F;ten Ku&#x0364;n&#x017F;tler oder der<lb/>
allgemeinen bildenden Natur, formet er ein <hi rendition="#fr">Ganzes,</hi><lb/>
wol zu&#x017F;ammenhangend, und in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t wol abge-<lb/>
me&#x017F;&#x017F;en, mit richtiger Anordnung und Zu&#x017F;ammenfu&#x0364;-<lb/>
gung &#x017F;einer Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder<lb/>
Leiden&#x017F;chaft, und kennet genau jeder der&#x017F;elben Ton<lb/>
und Maaß, wodurch er &#x017F;ie mit Richtigkeit &#x017F;childert;<lb/>
er zeichnet das <hi rendition="#fr">Erhabene</hi> der Empfindungen und<lb/>
der Handlung, und unter&#x017F;cheidet das Scho&#x0364;ne von<lb/>
dem Ha&#x0364;ßlichen, das Liebenswu&#x0364;rdige von dem Ver-<lb/>
a&#x0364;chtlichen. Der &#x017F;ittliche Ku&#x0364;n&#x017F;tler, der auf die&#x017F;e<lb/>
Wei&#x017F;e dem Scho&#x0364;pfer nachahmen kann, und eine &#x017F;ol-<lb/>
che Kenntnis der innern Ge&#x017F;talt und des Baues &#x017F;ei-<lb/>
ner Mitge&#x017F;cho&#x0364;pfe hat, wird, wie ich denke, &#x017F;chweer-<lb/>
lich &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t mißkennen, oder u&#x0364;ber diejenigen Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ha&#x0364;lt-</fw><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Er&#x017F;ter Theil.</hi> J i</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0261] Dic Dic ſehr wichtige Entſchluͤſſe beyzubringen (*). Wir wol- len ihm ſagen, daß auch Werke von großem und ernſthaften Jnhalt von der Seite der Annehmlich- keit betrachtet, große Vorzuͤge haben koͤnnen. Daß der lehrreiche Homer, (*) S. Plutarch im Solon. Qui quid ſit pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non, Plenius ac melius Chryſippo et Crantore dicit (*). reizende Annehmlichkeiten zur Ergoͤzung der Einbil- dungskraft habe (†). Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen ehrenhaften Platz unter wolgeſitteten und verſtaͤndi- gen Menſchen gerne goͤnnen, ſo erſtrekt ſich dieſes nicht auf diejenigen, die uns mit eben ſo unwitzig als unſittlichen Geſaͤngen, gleich Froͤſchen, die aus Suͤmpfen quaxen, beſchwerlich fallen. Die Zahl ſolcher Undichter iſt ſo groß, daß ſie die Poeſie uͤberhaupt in die Gefahr ſetzen, als etwas veraͤcht- liches angeſehen zu werden; ſie ſind es, die der edelſten aller edlen Kuͤnſte die ſchweeren Vorwuͤrfe zugezogen haben, daruͤber Opitz klagt, und die noch itzt dieſe goͤttliche Kunſt druͤken. Der Vater der deutſchen Dichter ſagt, daß einige „aus der Poe- terey, nicht weiß ich, was fuͤr ein geringes Weſen machen, und ſie wo nicht gar verwerfen, doch nicht ſonderlich achten, auch wol vorgeben, man wiſſe ei- nen Poeten in oͤffentlichen Aemtern wenig, oder gar nicht zu gebrauchen, weil er ſich in dieſer angeneh- men Thorheit und ruhigen Wolluſt ſo vertiefe, daß er die andern Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, von wel- chen man rechten Nutz und Ehre ſchoͤpfen kann, ge- meiniglich hindan ſetze. Ja wenn ſie einen gar ver- aͤchtlich haben wollen, ſo nennen ſie ihn einen Poe- ten: Wie denn Erasmo Roterodamo von groben Leuten geſchehen - - - Sie wiſſen ferner viel von ihren Luͤgen, aͤrgerlichen Schriften und Leben zu ſa- gen, und erinnern, es ſey keiner ein guter Poet, er muͤſſe denn zugleich ein boͤſer Menſch ſeyn. (††)‟ Dieſe Vorwuͤrfe ſcheinen einen groben Unverſtand, oder tollkuͤhne Schmaͤhſucht zum Grund zu haben, ſo bald man ſich erinnert, daß Homer, Sophokles, Euripides und Maͤnner von dieſer Art, Dichter ge- weſen ſind; aber was fuͤr eine groſſe Liſte von alten und neuen Dichtern koͤnnte man nicht geben, auf die dieſe Beſchuldigung mit Recht kann gelegt wer- den? Man kann ſowol zur Beſchimpfung der ſchlech- ten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts nachdruͤklichers anfuͤhren, als die folgenden Worte eines der feineſten Kenner (*). Jch muß geſtehen, ſagt er, daß ſchweerlich eine abgeſchmaktere Gattung Menſchen irgend wo zu finden iſt, als die, denen man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertig- keit woltoͤnend zuſprechen, wegen eines unuͤberlegten abgeſchmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft, den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer Kuͤnſtler oder Baumeiſter in dieſer Art, ſo wol Menſchen als Sitten ſchildern, der einer Handlung ihre gehoͤrige Form und ihre Verhaͤltniſſe geben kann, iſt, wo ich nicht irre, ein ganz anders Ge- ſchoͤpf. Denn ein ſolcher Dichter iſt in der That ein andrer Schoͤpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter. Gleich jenem oberſten Kuͤnſtler oder der allgemeinen bildenden Natur, formet er ein Ganzes, wol zuſammenhangend, und in ſich ſelbſt wol abge- meſſen, mit richtiger Anordnung und Zuſammenfuͤ- gung ſeiner Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder Leidenſchaft, und kennet genau jeder derſelben Ton und Maaß, wodurch er ſie mit Richtigkeit ſchildert; er zeichnet das Erhabene der Empfindungen und der Handlung, und unterſcheidet das Schoͤne von dem Haͤßlichen, das Liebenswuͤrdige von dem Ver- aͤchtlichen. Der ſittliche Kuͤnſtler, der auf dieſe Weiſe dem Schoͤpfer nachahmen kann, und eine ſol- che Kenntnis der innern Geſtalt und des Baues ſei- ner Mitgeſchoͤpfe hat, wird, wie ich denke, ſchweer- lich ſich ſelbſt mißkennen, oder uͤber diejenigen Ver- haͤlt- (*) S. Shaftes- bury Ad- vice to an Author, Part. l. ſect. 3. (†) Ha grand’ obligazione l’animo mio a quel poeta, a quel dipintore, il quale col arte ſua mi conduce à rimmirar, come con gli occhi propri, la famoſa caduta di Troja, le prodezze d’ Achille, o d’Enea, e tanti maraviglioſi giri d’Ulyſſe ramingo ſul mare. Muratori della perſetta poeſia L. I. c. 14. (††) Opitz von der deutſchen Poeterey im III. Cap. Die Klagen, die der Jeſuit Strada uͤber den Mißbrauch der Poeſie zu ſeiner Zeit fuͤhret, ſind auch itzt nicht unzeitig. Adeo deformia et ſoeda carminum portenta noſtra hæc ætas videt, adeo poſtremi quique poetarum lutulenti fluunt hauriuntque de ſæce; ut ſanctum poetæ olim nomen timide jam à bonis uſurpetur, perinde quaſi honeſto ingenuoque viro poetam ſalutari convicio ac dehoneſtamento ſit. Stra- da Proluſ. Acad. L. I. prol. 3. Erſter Theil. J i

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/261
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/261>, abgerufen am 24.11.2024.