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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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Tagebuch von einer nach Nizza

Sonst fehlt es dem hiesigen Landmanne gewiß
nicht an Fleiß und Arbeitsamkeit. Jch habe bereits
des geschickten Pflügens erwähnt; diesen Nachmittag
traf ich Felder an, die mit der Spathe umgegraben,
und wie Gartenland behandelt wurden. Weiter hin
traf ich einen Bauer an, der eben einen Acker zur
Wintersaat umpflügte; hinter dem Pfluge gieng sein
Weib, das alles losgemachte Unkraut auflas und ab-
schüttelte. Es fehlet also diesen Leuten nur an bes-
serm Land und an mehr Freyheit, um in gutem Wohl-
stand zu leben.

St. Valier.

Diesen Abend kam ich bey guter Zeit nach St.
Valier,
einer alten ekelhaften Stadt. Zum Glück
fand ich in einer Vorstadt einen Gasthof, wo ich ab-
stieg. Weil noch eine gute Stunde lang Tag war,
unternahm ich einen Spaziergang, um die Lage des
Orts zu sehen. Die Vorstadt besteht in einer ziem-
lich langen Reihe Häuser, die zwischen der Stadt-
mauer und der Rhone liegen. Jch eilte die längst
an einer alten halb zerfallenen Stadtmauer hinlaufende
Straße herunter, um ins Freye zu kommen. Am
Ende dieser Straße kam ich an die Rhone, und er-
götzte mich an der herrlichen Aussicht über diesen Fluß
und die schönen jenseit desselben liegenden Hügel, die
meist aus Weinbergen bestehen. Von hier konnte
ich an einem schönen Ufer der Rhone wieder hinter den
Häusern der Vorstadt herauf gehen, und sah also die
Häuser, an deren Vorderseite ich herunter gegangen
war, nun von hinten. Hier sah ich zu meiner Be-
stürzung an den Hinterseiten dieser Häuser nichts als
Ekel und Elend. Kein Fenster geht nach dieser so
herrlichen Gegend heraus; sondern Abtritte, Hühner-

ställe
Tagebuch von einer nach Nizza

Sonſt fehlt es dem hieſigen Landmanne gewiß
nicht an Fleiß und Arbeitſamkeit. Jch habe bereits
des geſchickten Pfluͤgens erwaͤhnt; dieſen Nachmittag
traf ich Felder an, die mit der Spathe umgegraben,
und wie Gartenland behandelt wurden. Weiter hin
traf ich einen Bauer an, der eben einen Acker zur
Winterſaat umpfluͤgte; hinter dem Pfluge gieng ſein
Weib, das alles losgemachte Unkraut auflas und ab-
ſchuͤttelte. Es fehlet alſo dieſen Leuten nur an beſ-
ſerm Land und an mehr Freyheit, um in gutem Wohl-
ſtand zu leben.

St. Valier.

Dieſen Abend kam ich bey guter Zeit nach St.
Valier,
einer alten ekelhaften Stadt. Zum Gluͤck
fand ich in einer Vorſtadt einen Gaſthof, wo ich ab-
ſtieg. Weil noch eine gute Stunde lang Tag war,
unternahm ich einen Spaziergang, um die Lage des
Orts zu ſehen. Die Vorſtadt beſteht in einer ziem-
lich langen Reihe Haͤuſer, die zwiſchen der Stadt-
mauer und der Rhone liegen. Jch eilte die laͤngſt
an einer alten halb zerfallenen Stadtmauer hinlaufende
Straße herunter, um ins Freye zu kommen. Am
Ende dieſer Straße kam ich an die Rhone, und er-
goͤtzte mich an der herrlichen Ausſicht uͤber dieſen Fluß
und die ſchoͤnen jenſeit deſſelben liegenden Huͤgel, die
meiſt aus Weinbergen beſtehen. Von hier konnte
ich an einem ſchoͤnen Ufer der Rhone wieder hinter den
Haͤuſern der Vorſtadt herauf gehen, und ſah alſo die
Haͤuſer, an deren Vorderſeite ich herunter gegangen
war, nun von hinten. Hier ſah ich zu meiner Be-
ſtuͤrzung an den Hinterſeiten dieſer Haͤuſer nichts als
Ekel und Elend. Kein Fenſter geht nach dieſer ſo
herrlichen Gegend heraus; ſondern Abtritte, Huͤhner-

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[92/0112] Tagebuch von einer nach Nizza Sonſt fehlt es dem hieſigen Landmanne gewiß nicht an Fleiß und Arbeitſamkeit. Jch habe bereits des geſchickten Pfluͤgens erwaͤhnt; dieſen Nachmittag traf ich Felder an, die mit der Spathe umgegraben, und wie Gartenland behandelt wurden. Weiter hin traf ich einen Bauer an, der eben einen Acker zur Winterſaat umpfluͤgte; hinter dem Pfluge gieng ſein Weib, das alles losgemachte Unkraut auflas und ab- ſchuͤttelte. Es fehlet alſo dieſen Leuten nur an beſ- ſerm Land und an mehr Freyheit, um in gutem Wohl- ſtand zu leben. Dieſen Abend kam ich bey guter Zeit nach St. Valier, einer alten ekelhaften Stadt. Zum Gluͤck fand ich in einer Vorſtadt einen Gaſthof, wo ich ab- ſtieg. Weil noch eine gute Stunde lang Tag war, unternahm ich einen Spaziergang, um die Lage des Orts zu ſehen. Die Vorſtadt beſteht in einer ziem- lich langen Reihe Haͤuſer, die zwiſchen der Stadt- mauer und der Rhone liegen. Jch eilte die laͤngſt an einer alten halb zerfallenen Stadtmauer hinlaufende Straße herunter, um ins Freye zu kommen. Am Ende dieſer Straße kam ich an die Rhone, und er- goͤtzte mich an der herrlichen Ausſicht uͤber dieſen Fluß und die ſchoͤnen jenſeit deſſelben liegenden Huͤgel, die meiſt aus Weinbergen beſtehen. Von hier konnte ich an einem ſchoͤnen Ufer der Rhone wieder hinter den Haͤuſern der Vorſtadt herauf gehen, und ſah alſo die Haͤuſer, an deren Vorderſeite ich herunter gegangen war, nun von hinten. Hier ſah ich zu meiner Be- ſtuͤrzung an den Hinterſeiten dieſer Haͤuſer nichts als Ekel und Elend. Kein Fenſter geht nach dieſer ſo herrlichen Gegend heraus; ſondern Abtritte, Huͤhner- ſtaͤlle

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/112>, abgerufen am 24.11.2024.