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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Achte Betrachtung.
Jesus von seinen Jüngern verlassen.
Marc. 14, 50.
Die Jünger aber verliessen ihn alle, und flohen.

Was höre ich? Die Jünger verlassen Jesum und
fliehen. Sie waren es, die noch vor einigen
Stunden es betheuert hatten, sie wären bereit,
mit ihrem Meister in den Tod zu gehen. Wie? so plötz-
lich sind sie ihres theuren Versprechens uneingedenk wor-
den? Wie schnell wechseln in ihrem Herzen Muth und
Schüchternheit, Stärke und Schwachheit, Liebe und Kalt-
sinn ab! Man hätte denken sollen, diese einzigen Freun-
de, welche Jesus auf der Welt hatte, würden aus Pflicht
und Dankbarkeit den zärtlichsten Antheil an seinen vielfa-
chen Leiden genommen, und wann es auch Thränen geko-
stet hätte, Augenzeugen von seinem Heldenmuth unter dem
Leiden abgegeben haben. Dis war ja doch alles, was ihr
Meister von ihnen forderte. Sie sollten nicht selbst leiden,
sondern nur seine Martern betrachten. Sie sollten nicht
mit ihm sterben, sondern nur aus seinem Tod Stärkung
und Versöhnung nehmen, und sich dadurch tüchtig machen,
Prediger seines Kreuzes zu werden. Ich zum wenigsten,
wann ich so innig mit Jesu verbunden gewesen wäre, wie
sie waren, was würde ich nicht für meinen Meister gethan
haben? Ich würde jede Thräne, die er vergossen hätte,
ihm abgetrocknet, und jeden Seufzer in mein Herz gefaßt
haben. Nein, nimmermehr würde ich ihn verlassen haben.
Ich würde ihm von Gethsemane in das Richthauß, vom

Richt-
C 5




Achte Betrachtung.
Jeſus von ſeinen Jüngern verlaſſen.
Marc. 14, 50.
Die Jünger aber verlieſſen ihn alle, und flohen.

Was höre ich? Die Jünger verlaſſen Jeſum und
fliehen. Sie waren es, die noch vor einigen
Stunden es betheuert hatten, ſie wären bereit,
mit ihrem Meiſter in den Tod zu gehen. Wie? ſo plötz-
lich ſind ſie ihres theuren Verſprechens uneingedenk wor-
den? Wie ſchnell wechſeln in ihrem Herzen Muth und
Schüchternheit, Stärke und Schwachheit, Liebe und Kalt-
ſinn ab! Man hätte denken ſollen, dieſe einzigen Freun-
de, welche Jeſus auf der Welt hatte, würden aus Pflicht
und Dankbarkeit den zärtlichſten Antheil an ſeinen vielfa-
chen Leiden genommen, und wann es auch Thränen geko-
ſtet hätte, Augenzeugen von ſeinem Heldenmuth unter dem
Leiden abgegeben haben. Dis war ja doch alles, was ihr
Meiſter von ihnen forderte. Sie ſollten nicht ſelbſt leiden,
ſondern nur ſeine Martern betrachten. Sie ſollten nicht
mit ihm ſterben, ſondern nur aus ſeinem Tod Stärkung
und Verſöhnung nehmen, und ſich dadurch tüchtig machen,
Prediger ſeines Kreuzes zu werden. Ich zum wenigſten,
wann ich ſo innig mit Jeſu verbunden geweſen wäre, wie
ſie waren, was würde ich nicht für meinen Meiſter gethan
haben? Ich würde jede Thräne, die er vergoſſen hätte,
ihm abgetrocknet, und jeden Seufzer in mein Herz gefaßt
haben. Nein, nimmermehr würde ich ihn verlaſſen haben.
Ich würde ihm von Gethſemane in das Richthauß, vom

Richt-
C 5
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[41/0063] Achte Betrachtung. Jeſus von ſeinen Jüngern verlaſſen. Marc. 14, 50. Die Jünger aber verlieſſen ihn alle, und flohen. Was höre ich? Die Jünger verlaſſen Jeſum und fliehen. Sie waren es, die noch vor einigen Stunden es betheuert hatten, ſie wären bereit, mit ihrem Meiſter in den Tod zu gehen. Wie? ſo plötz- lich ſind ſie ihres theuren Verſprechens uneingedenk wor- den? Wie ſchnell wechſeln in ihrem Herzen Muth und Schüchternheit, Stärke und Schwachheit, Liebe und Kalt- ſinn ab! Man hätte denken ſollen, dieſe einzigen Freun- de, welche Jeſus auf der Welt hatte, würden aus Pflicht und Dankbarkeit den zärtlichſten Antheil an ſeinen vielfa- chen Leiden genommen, und wann es auch Thränen geko- ſtet hätte, Augenzeugen von ſeinem Heldenmuth unter dem Leiden abgegeben haben. Dis war ja doch alles, was ihr Meiſter von ihnen forderte. Sie ſollten nicht ſelbſt leiden, ſondern nur ſeine Martern betrachten. Sie ſollten nicht mit ihm ſterben, ſondern nur aus ſeinem Tod Stärkung und Verſöhnung nehmen, und ſich dadurch tüchtig machen, Prediger ſeines Kreuzes zu werden. Ich zum wenigſten, wann ich ſo innig mit Jeſu verbunden geweſen wäre, wie ſie waren, was würde ich nicht für meinen Meiſter gethan haben? Ich würde jede Thräne, die er vergoſſen hätte, ihm abgetrocknet, und jeden Seufzer in mein Herz gefaßt haben. Nein, nimmermehr würde ich ihn verlaſſen haben. Ich würde ihm von Gethſemane in das Richthauß, vom Richt- C 5

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/63>, abgerufen am 24.11.2024.