Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.Achte Betrachtung. Richthauß nach Golgatha gefolgt seyn; ja ich würde nachder Ehre gestrebt haben, ihm an Simons Stelle sein Creuz nachzutragen. Und vielleicht -- vielleicht würde ich mit ihm in den Tod gegangen seyn. So denke ich, da ich in so grosser Entfernung, über sie
Achte Betrachtung. Richthauß nach Golgatha gefolgt ſeyn; ja ich würde nachder Ehre geſtrebt haben, ihm an Simons Stelle ſein Creuz nachzutragen. Und vielleicht — vielleicht würde ich mit ihm in den Tod gegangen ſeyn. So denke ich, da ich in ſo groſſer Entfernung, über ſie
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0064" n="42"/><fw place="top" type="header">Achte Betrachtung.</fw><lb/> Richthauß nach Golgatha gefolgt ſeyn; ja ich würde nach<lb/> der Ehre geſtrebt haben, ihm an Simons Stelle ſein Creuz<lb/> nachzutragen. Und vielleicht — vielleicht würde ich mit<lb/> ihm in den Tod gegangen ſeyn.</p><lb/> <p>So denke ich, da ich in ſo groſſer Entfernung, über<lb/> dieſen Umſtand nachdenke. Aber würde ich entſchloſſener<lb/> und heldenmüthiger, als die Jünger Jeſu geweſen ſeyn,<lb/> wenn ich das Leiden Jeſu in ſolcher Nähe betrachtet hät-<lb/> te? Würde ich weniger als ſie, befürchtet haben, da ſich<lb/> alle Umſtände vereinigten, Jeſum zugleich mit ſeinen An-<lb/> hängern aus dem Weg zu räumen? Ich ſtelle mir oft,<lb/> wenn ich geſund bin und alſo noch weit vom Grab entfernt<lb/> zu ſeyn glaube, den Tod als eine leichte Sache vor. Aber<lb/> werde ich auch noch ſo denken, wenn er in der Nähe iſt,<lb/> oder mir durch peinliche Krankheiten ſeine Gegenwart an-<lb/> kündiget? Und ſo leicht, wie ich mir dieſe Sache vorzu-<lb/> ſtellen ſuche, ſo leicht ſchien ſie auch den Jüngern zu ſeyn.<lb/> Als ſie wenig Tage vorher Jeſu die Verſicherung gaben,<lb/> ſelbſt in den Tod mit ihm zu gehen, da dachten ſie nicht,<lb/> wie bitter die Märtyrerleiden wären, und wie ſo ſchwach<lb/> ſie wären, dieſe Leiden zu überſtehen. Das vermeßne Zu-<lb/> trauen auf ihre Kräfte verblendete ihr Herz ſo ſehr, daß<lb/> ſie ihre Ohnmacht, ihre Furcht, ihre Sicherheit nicht be-<lb/> merkten. Und dis iſt eben der Fall, in welchem ich mich<lb/> befinde. Jetzt bin ich kühn genug, alles zu verſprechen;<lb/> aber wie wenig werde ich davon erfüllen, wenn ich durch<lb/> die Umſtände ſelbſt dazu aufgefordert werde! Ach nur<lb/> gar zu viele meiner Nebenchriſten haben ſo gute Geſinnun-<lb/> gen, als ich mich zu haben berede. Sie wagen ſich im<lb/> Vertrauen auf die Stärke und Unſchuld ihres Herzens<lb/> in die Welt. Sie bedenken nicht, wie leicht der Reiz der<lb/> Verführung ihr Herz beſiegen könne. Und oft zu ſpäte,<lb/> wenn ſie ſchon zu allen Laſtern hingeriſſen worden, ſehen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſie</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0064]
Achte Betrachtung.
Richthauß nach Golgatha gefolgt ſeyn; ja ich würde nach
der Ehre geſtrebt haben, ihm an Simons Stelle ſein Creuz
nachzutragen. Und vielleicht — vielleicht würde ich mit
ihm in den Tod gegangen ſeyn.
So denke ich, da ich in ſo groſſer Entfernung, über
dieſen Umſtand nachdenke. Aber würde ich entſchloſſener
und heldenmüthiger, als die Jünger Jeſu geweſen ſeyn,
wenn ich das Leiden Jeſu in ſolcher Nähe betrachtet hät-
te? Würde ich weniger als ſie, befürchtet haben, da ſich
alle Umſtände vereinigten, Jeſum zugleich mit ſeinen An-
hängern aus dem Weg zu räumen? Ich ſtelle mir oft,
wenn ich geſund bin und alſo noch weit vom Grab entfernt
zu ſeyn glaube, den Tod als eine leichte Sache vor. Aber
werde ich auch noch ſo denken, wenn er in der Nähe iſt,
oder mir durch peinliche Krankheiten ſeine Gegenwart an-
kündiget? Und ſo leicht, wie ich mir dieſe Sache vorzu-
ſtellen ſuche, ſo leicht ſchien ſie auch den Jüngern zu ſeyn.
Als ſie wenig Tage vorher Jeſu die Verſicherung gaben,
ſelbſt in den Tod mit ihm zu gehen, da dachten ſie nicht,
wie bitter die Märtyrerleiden wären, und wie ſo ſchwach
ſie wären, dieſe Leiden zu überſtehen. Das vermeßne Zu-
trauen auf ihre Kräfte verblendete ihr Herz ſo ſehr, daß
ſie ihre Ohnmacht, ihre Furcht, ihre Sicherheit nicht be-
merkten. Und dis iſt eben der Fall, in welchem ich mich
befinde. Jetzt bin ich kühn genug, alles zu verſprechen;
aber wie wenig werde ich davon erfüllen, wenn ich durch
die Umſtände ſelbſt dazu aufgefordert werde! Ach nur
gar zu viele meiner Nebenchriſten haben ſo gute Geſinnun-
gen, als ich mich zu haben berede. Sie wagen ſich im
Vertrauen auf die Stärke und Unſchuld ihres Herzens
in die Welt. Sie bedenken nicht, wie leicht der Reiz der
Verführung ihr Herz beſiegen könne. Und oft zu ſpäte,
wenn ſie ſchon zu allen Laſtern hingeriſſen worden, ſehen
ſie
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |