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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Zwote Betrachtung.

Wer kann dieses Geheimniß fassen? Aber eben
das Unbegreifliche dieses Leidens kann mich auf die Ur-
sachen desselben führen. Gewiß, dieses ist die Stunde
des Gerichts, welche über den Bürgen des menschlichen
Geschlechts kommen sollte. In diesen Augenblicken der
Angst warf der Herr alle unsere Sünden auf ihn, und
vollzog an ihm mit richterlicher Strenge alle die Stra-
fen, welche eine Welt voll Sünder verdient hatte. Vor
seinem allsehenden Auge giengen jetzt alle Uebertretungen
vorüber, von der ersten Sünde Adams an bis zu der-
jenigen, welche von dem letzten Menschen wird began-
gen werden. Die Todesangst aller Sterbenden, ihre
Furcht vor Tod, Grab und Gericht, alle namenlosen
Quaalen, die das aufgewachte Gewissen eines Sünders
empfinden kann, dies alles lag auf ihm, und drückte
ihn zur Erde nieder. Ach, welche Angst wird mein
Jesus in diesen Umständen gefühlt haben! Ist es schon
schrecklich, wenn ein Sünder um seiner Missethaten
willen gerichtet wird, ist das schon eine unbeschreibliche
Quaal, wenn uns unsre eigenen Sünden ergreifen, und
Gott uns in seinem Zorn züchtiget: wie unerträglich mag
alsdann das Elend seyn, wenn die Sünden der ganzen
Welt, als ein unübersehliches Gebürge, auf uns liegen!
Ist es also wohl ein Wunder, wenn Jesus hier in seiner
Noth zittert, zagt, mit dem Tode ringt, und vor dem
Zorn des Richters in Staub dahin sinkt? Ach! ich
Elender! Wie würde es mir ergangen seyn, wenn ich
in diesen Stunden der Angst an der Stelle meines Mitt-
lers gewesen wäre? Wenn der Allerheiligste im Gerich-
te Gottes trauren und zagen muß, welchen Tod, welche
Verzweiflung, welche Höllenangst hätte ich fühlen müs-
sen! Ach, nur ein Blick des erzürnten Richters würde

mich
Zwote Betrachtung.

Wer kann dieſes Geheimniß faſſen? Aber eben
das Unbegreifliche dieſes Leidens kann mich auf die Ur-
ſachen deſſelben führen. Gewiß, dieſes iſt die Stunde
des Gerichts, welche über den Bürgen des menſchlichen
Geſchlechts kommen ſollte. In dieſen Augenblicken der
Angſt warf der Herr alle unſere Sünden auf ihn, und
vollzog an ihm mit richterlicher Strenge alle die Stra-
fen, welche eine Welt voll Sünder verdient hatte. Vor
ſeinem allſehenden Auge giengen jetzt alle Uebertretungen
vorüber, von der erſten Sünde Adams an bis zu der-
jenigen, welche von dem letzten Menſchen wird began-
gen werden. Die Todesangſt aller Sterbenden, ihre
Furcht vor Tod, Grab und Gericht, alle namenloſen
Quaalen, die das aufgewachte Gewiſſen eines Sünders
empfinden kann, dies alles lag auf ihm, und drückte
ihn zur Erde nieder. Ach, welche Angſt wird mein
Jeſus in dieſen Umſtänden gefühlt haben! Iſt es ſchon
ſchrecklich, wenn ein Sünder um ſeiner Miſſethaten
willen gerichtet wird, iſt das ſchon eine unbeſchreibliche
Quaal, wenn uns unſre eigenen Sünden ergreifen, und
Gott uns in ſeinem Zorn züchtiget: wie unerträglich mag
alsdann das Elend ſeyn, wenn die Sünden der ganzen
Welt, als ein unüberſehliches Gebürge, auf uns liegen!
Iſt es alſo wohl ein Wunder, wenn Jeſus hier in ſeiner
Noth zittert, zagt, mit dem Tode ringt, und vor dem
Zorn des Richters in Staub dahin ſinkt? Ach! ich
Elender! Wie würde es mir ergangen ſeyn, wenn ich
in dieſen Stunden der Angſt an der Stelle meines Mitt-
lers geweſen wäre? Wenn der Allerheiligſte im Gerich-
te Gottes trauren und zagen muß, welchen Tod, welche
Verzweiflung, welche Höllenangſt hätte ich fühlen müſ-
ſen! Ach, nur ein Blick des erzürnten Richters würde

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[20/0042] Zwote Betrachtung. Wer kann dieſes Geheimniß faſſen? Aber eben das Unbegreifliche dieſes Leidens kann mich auf die Ur- ſachen deſſelben führen. Gewiß, dieſes iſt die Stunde des Gerichts, welche über den Bürgen des menſchlichen Geſchlechts kommen ſollte. In dieſen Augenblicken der Angſt warf der Herr alle unſere Sünden auf ihn, und vollzog an ihm mit richterlicher Strenge alle die Stra- fen, welche eine Welt voll Sünder verdient hatte. Vor ſeinem allſehenden Auge giengen jetzt alle Uebertretungen vorüber, von der erſten Sünde Adams an bis zu der- jenigen, welche von dem letzten Menſchen wird began- gen werden. Die Todesangſt aller Sterbenden, ihre Furcht vor Tod, Grab und Gericht, alle namenloſen Quaalen, die das aufgewachte Gewiſſen eines Sünders empfinden kann, dies alles lag auf ihm, und drückte ihn zur Erde nieder. Ach, welche Angſt wird mein Jeſus in dieſen Umſtänden gefühlt haben! Iſt es ſchon ſchrecklich, wenn ein Sünder um ſeiner Miſſethaten willen gerichtet wird, iſt das ſchon eine unbeſchreibliche Quaal, wenn uns unſre eigenen Sünden ergreifen, und Gott uns in ſeinem Zorn züchtiget: wie unerträglich mag alsdann das Elend ſeyn, wenn die Sünden der ganzen Welt, als ein unüberſehliches Gebürge, auf uns liegen! Iſt es alſo wohl ein Wunder, wenn Jeſus hier in ſeiner Noth zittert, zagt, mit dem Tode ringt, und vor dem Zorn des Richters in Staub dahin ſinkt? Ach! ich Elender! Wie würde es mir ergangen ſeyn, wenn ich in dieſen Stunden der Angſt an der Stelle meines Mitt- lers geweſen wäre? Wenn der Allerheiligſte im Gerich- te Gottes trauren und zagen muß, welchen Tod, welche Verzweiflung, welche Höllenangſt hätte ich fühlen müſ- ſen! Ach, nur ein Blick des erzürnten Richters würde mich

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/42>, abgerufen am 24.11.2024.