Haben wir nun oben die einfache Erzählung sämmt- licher Synoptiker von der Blindenheilung bei Jericho nicht für historisch halten können, so sind wir diess bei der ge- heimnissvollen Schilderung des Einen Markus von der Heilung eines Blinden bei Bethsaida noch weniger im Stan- de, sondern wir müssen sie als ein Produkt der Sage mit mehr oder weniger Zuthaten des evangelischen Referen- ten ansehen, und ebenso die von ihm mit gleicher Eigen- thümlichkeit erzählte Heilung des kophos mogilalos. Denn auch bei dieser lezteren Geschichte fehlen uns neben den schon ausgeführten negativen Gründen gegen ihre histori- sche Glaubwürdigkeit die positiven Veranlassungen ihrer mythischen Entstehung nicht, da die Weissagung auf die messianische Zeit: tote-ota kophon akousontai --trane de esai glossa mogilalon (Jes. 35, 5. 6.) vorhanden war, und nach Matth. 11, 5. eigentlich verstanden wurde.
So günstig der natürlichen Erklärung auf den ersten Anblick die eben betrachteten Erzählungen des Markus zu sein schienen: so ungünstig und vernichtend, sollte man glauben, müsse die johanneische Erzählung, Kap. 9., auf sie fallen, wo nicht von einem Blinden schlechtweg, des- sen zufällig eingetretenes Übel leichter wieder zu heben sein mochte, sondern von einem Blindgeborenen die Rede ist. Doch wie die Ausleger dieser Richtung scharfsichtig sind, und den Muth nicht bald verlieren, so wissen sie auch hier manches ihnen Günstige zu entdecken. Vor Al- lem den Zustand des Kranken finden sie, so bestimmt auch das tuphlon ek genetes zu lauten scheint, doch nur unge- nau bezeichnet. Die Zeitbestimmung zwar, welche darin liegt, enthält sich Paulus, wiewohl ungern und eigentlich nur halb, umzustossen: um so mehr muss er dann aber an der Qualitätsbestimmung des Zustandes zu rütteln suchen. Tuphlos müsse nicht gerade totale Blindheit bezeichnen, und wenn Jesus den Kranken anweise, zum Siloateich zu gehen, nicht sich führen zu lassen, so müsse derselbe noch
Zweiter Abschnitt.
Haben wir nun oben die einfache Erzählung sämmt- licher Synoptiker von der Blindenheilung bei Jericho nicht für historisch halten können, so sind wir dieſs bei der ge- heimniſsvollen Schilderung des Einen Markus von der Heilung eines Blinden bei Bethsaida noch weniger im Stan- de, sondern wir müssen sie als ein Produkt der Sage mit mehr oder weniger Zuthaten des evangelischen Referen- ten ansehen, und ebenso die von ihm mit gleicher Eigen- thümlichkeit erzählte Heilung des κωφὸς μογιλάλος. Denn auch bei dieser lezteren Geschichte fehlen uns neben den schon ausgeführten negativen Gründen gegen ihre histori- sche Glaubwürdigkeit die positiven Veranlassungen ihrer mythischen Entstehung nicht, da die Weissagung auf die messianische Zeit: τότε-ὦτα κωφῶν ἀκου̍σονται —τρανη δὲ ἔςαι γλῶσσα μογιλάλων (Jes. 35, 5. 6.) vorhanden war, und nach Matth. 11, 5. eigentlich verstanden wurde.
So günstig der natürlichen Erklärung auf den ersten Anblick die eben betrachteten Erzählungen des Markus zu sein schienen: so ungünstig und vernichtend, sollte man glauben, müsse die johanneische Erzählung, Kap. 9., auf sie fallen, wo nicht von einem Blinden schlechtweg, des- sen zufällig eingetretenes Übel leichter wieder zu heben sein mochte, sondern von einem Blindgeborenen die Rede ist. Doch wie die Ausleger dieser Richtung scharfsichtig sind, und den Muth nicht bald verlieren, so wissen sie auch hier manches ihnen Günstige zu entdecken. Vor Al- lem den Zustand des Kranken finden sie, so bestimmt auch das τυφλὸν ἐκ γενετῆς zu lauten scheint, doch nur unge- nau bezeichnet. Die Zeitbestimmung zwar, welche darin liegt, enthält sich Paulus, wiewohl ungern und eigentlich nur halb, umzustoſsen: um so mehr muſs er dann aber an der Qualitätsbestimmung des Zustandes zu rütteln suchen. Τυφλὸς müsse nicht gerade totale Blindheit bezeichnen, und wenn Jesus den Kranken anweise, zum Siloateich zu gehen, nicht sich führen zu lassen, so müsse derselbe noch
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Zweiter Abschnitt.
Haben wir nun oben die einfache Erzählung sämmt-
licher Synoptiker von der Blindenheilung bei Jericho nicht
für historisch halten können, so sind wir dieſs bei der ge-
heimniſsvollen Schilderung des Einen Markus von der
Heilung eines Blinden bei Bethsaida noch weniger im Stan-
de, sondern wir müssen sie als ein Produkt der Sage mit
mehr oder weniger Zuthaten des evangelischen Referen-
ten ansehen, und ebenso die von ihm mit gleicher Eigen-
thümlichkeit erzählte Heilung des κωφὸς μογιλάλος. Denn
auch bei dieser lezteren Geschichte fehlen uns neben den
schon ausgeführten negativen Gründen gegen ihre histori-
sche Glaubwürdigkeit die positiven Veranlassungen ihrer
mythischen Entstehung nicht, da die Weissagung auf die
messianische Zeit: τότε-ὦτα κωφῶν ἀκου̍σονται —τρανη
δὲ ἔςαι γλῶσσα μογιλάλων (Jes. 35, 5. 6.) vorhanden
war, und nach Matth. 11, 5. eigentlich verstanden wurde.
So günstig der natürlichen Erklärung auf den ersten
Anblick die eben betrachteten Erzählungen des Markus zu
sein schienen: so ungünstig und vernichtend, sollte man
glauben, müsse die johanneische Erzählung, Kap. 9., auf
sie fallen, wo nicht von einem Blinden schlechtweg, des-
sen zufällig eingetretenes Übel leichter wieder zu heben
sein mochte, sondern von einem Blindgeborenen die Rede
ist. Doch wie die Ausleger dieser Richtung scharfsichtig
sind, und den Muth nicht bald verlieren, so wissen sie
auch hier manches ihnen Günstige zu entdecken. Vor Al-
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das τυφλὸν ἐκ γενετῆς zu lauten scheint, doch nur unge-
nau bezeichnet. Die Zeitbestimmung zwar, welche darin
liegt, enthält sich Paulus, wiewohl ungern und eigentlich
nur halb, umzustoſsen: um so mehr muſs er dann aber an
der Qualitätsbestimmung des Zustandes zu rütteln suchen.
Τυφλὸς müsse nicht gerade totale Blindheit bezeichnen,
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gehen, nicht sich führen zu lassen, so müsse derselbe noch
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/95>, abgerufen am 22.11.2024.
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