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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 142.
beiden Willen immer dasselbe wollen: allein theils giebt
diess nur moralische, nicht persönliche Einheit, theils ist
es von göttlichem und menschlichem Willen nicht einmal
möglich, indem ein menschlicher Wille, der wesentlich nur
Einzelnes und eines um des andern willen will, mit einem
göttlichen, dessen Gegenstand das Ganze in seiner Ent-
wicklung ist, so wenig das Gleiche wollen kann, als ein
discursiver menschlicher Verstand mit dem intuitiven gött-
lichen dasselbe denken; woraus zugleich von selbst her-
vorgeht, dass eine Mittheilung der Eigenschaften zwischen
den beiden Naturen sich nicht annehmen lässt.

Einer ähnlichen Kritik entgieng auch die Lehre von
der Thätigkeit Christi nicht. Abgesehen von dem, was in
formeller Hinsicht gegen die Eintheilung derselben in die
drei Ämter eingewendet wurde, waren es im prophetischen
hauptsächlich die Begriffe von Offenbarung und Wunder,
die man in Anspruch nahm, weil sie weder objektiv mit
richtigen Vorstellungen von Gott und Welt in ihrem gegen-
seitigen Verhältniss, noch subjektiv mit den Gesetzen des
menschlichen Erkenntnissvermögens sich zu vertragen schie-
nen. Unmöglich könne der vollkommene Gott eine Natur
geschaffen haben, die von Zeit zu Zeit einer ausserordent-
lichen Nachhülfe des Schöpfers bedürfte, noch insbesonde-
re eine menschliche Natur, die nicht durch Entfaltung ih-
rer mitgegebenen Anlagen ihre Bestimmung zu erreichen
vermöchte; unmöglich könne der Unveränderliche bald auf
diese, bald auf jene Weise, das einemal mittelbar, das an-
dremal unmittelbar, auf die Welt einwirken, sondern im-
mer nur auf die gleiche, nämlich an sich und auf das Ganze
unmittelbar, für uns aber und auf das Einzelne mittelbar.
Eine Unterbrechung des Naturzusammenhangs und der
Entwicklung der Menschheit durch unmittelbares Eingrei-
fen Gottes anzunehmen, hiesse allem vernünftigen Denken
entsagen; im einzelnen Fall aber sei eine Offenbarung und
Wunder als solche nicht einmal zuverlässig zu erkennen,

Schluſsabhandlung. §. 142.
beiden Willen immer dasselbe wollen: allein theils giebt
dieſs nur moralische, nicht persönliche Einheit, theils ist
es von göttlichem und menschlichem Willen nicht einmal
möglich, indem ein menschlicher Wille, der wesentlich nur
Einzelnes und eines um des andern willen will, mit einem
göttlichen, dessen Gegenstand das Ganze in seiner Ent-
wicklung ist, so wenig das Gleiche wollen kann, als ein
discursiver menschlicher Verstand mit dem intuitiven gött-
lichen dasselbe denken; woraus zugleich von selbst her-
vorgeht, daſs eine Mittheilung der Eigenschaften zwischen
den beiden Naturen sich nicht annehmen läſst.

Einer ähnlichen Kritik entgieng auch die Lehre von
der Thätigkeit Christi nicht. Abgesehen von dem, was in
formeller Hinsicht gegen die Eintheilung derselben in die
drei Ämter eingewendet wurde, waren es im prophetischen
hauptsächlich die Begriffe von Offenbarung und Wunder,
die man in Anspruch nahm, weil sie weder objektiv mit
richtigen Vorstellungen von Gott und Welt in ihrem gegen-
seitigen Verhältniſs, noch subjektiv mit den Gesetzen des
menschlichen Erkenntniſsvermögens sich zu vertragen schie-
nen. Unmöglich könne der vollkommene Gott eine Natur
geschaffen haben, die von Zeit zu Zeit einer ausserordent-
lichen Nachhülfe des Schöpfers bedürfte, noch insbesonde-
re eine menschliche Natur, die nicht durch Entfaltung ih-
rer mitgegebenen Anlagen ihre Bestimmung zu erreichen
vermöchte; unmöglich könne der Unveränderliche bald auf
diese, bald auf jene Weise, das einemal mittelbar, das an-
dremal unmittelbar, auf die Welt einwirken, sondern im-
mer nur auf die gleiche, nämlich an sich und auf das Ganze
unmittelbar, für uns aber und auf das Einzelne mittelbar.
Eine Unterbrechung des Naturzusammenhangs und der
Entwicklung der Menschheit durch unmittelbares Eingrei-
fen Gottes anzunehmen, hieſse allem vernünftigen Denken
entsagen; im einzelnen Fall aber sei eine Offenbarung und
Wunder als solche nicht einmal zuverläſsig zu erkennen,

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[704/0723] Schluſsabhandlung. §. 142. beiden Willen immer dasselbe wollen: allein theils giebt dieſs nur moralische, nicht persönliche Einheit, theils ist es von göttlichem und menschlichem Willen nicht einmal möglich, indem ein menschlicher Wille, der wesentlich nur Einzelnes und eines um des andern willen will, mit einem göttlichen, dessen Gegenstand das Ganze in seiner Ent- wicklung ist, so wenig das Gleiche wollen kann, als ein discursiver menschlicher Verstand mit dem intuitiven gött- lichen dasselbe denken; woraus zugleich von selbst her- vorgeht, daſs eine Mittheilung der Eigenschaften zwischen den beiden Naturen sich nicht annehmen läſst. Einer ähnlichen Kritik entgieng auch die Lehre von der Thätigkeit Christi nicht. Abgesehen von dem, was in formeller Hinsicht gegen die Eintheilung derselben in die drei Ämter eingewendet wurde, waren es im prophetischen hauptsächlich die Begriffe von Offenbarung und Wunder, die man in Anspruch nahm, weil sie weder objektiv mit richtigen Vorstellungen von Gott und Welt in ihrem gegen- seitigen Verhältniſs, noch subjektiv mit den Gesetzen des menschlichen Erkenntniſsvermögens sich zu vertragen schie- nen. Unmöglich könne der vollkommene Gott eine Natur geschaffen haben, die von Zeit zu Zeit einer ausserordent- lichen Nachhülfe des Schöpfers bedürfte, noch insbesonde- re eine menschliche Natur, die nicht durch Entfaltung ih- rer mitgegebenen Anlagen ihre Bestimmung zu erreichen vermöchte; unmöglich könne der Unveränderliche bald auf diese, bald auf jene Weise, das einemal mittelbar, das an- dremal unmittelbar, auf die Welt einwirken, sondern im- mer nur auf die gleiche, nämlich an sich und auf das Ganze unmittelbar, für uns aber und auf das Einzelne mittelbar. Eine Unterbrechung des Naturzusammenhangs und der Entwicklung der Menschheit durch unmittelbares Eingrei- fen Gottes anzunehmen, hieſse allem vernünftigen Denken entsagen; im einzelnen Fall aber sei eine Offenbarung und Wunder als solche nicht einmal zuverläſsig zu erkennen,

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 704. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/723>, abgerufen am 23.11.2024.