Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite
Schlussabhandlung. §. 142.

Das Wesentliche und Haltbare der rationalistischen
Einwürfe gegen diese Lehre hat am schärfsten Schleier-
macher
zusammengestellt, und auch hierin, wie in vielen
Stücken, die negative Kritik des kirchlichen Dogma zum
Abschluss geführt 6). Vor Allem findet er bedenklich, dass
durch den Ausdruck: göttliche und menschliche Natur, Gött-
liches und Menschliches unter Eine Kategorie gestellt wer-
de, und zwar unter die Kategorie von Natur, was doch
wesentlich nur ein beschränktes, im Gegensaz begriffenes
Sein bedeute. Dann aber, statt dass sonst Eine Natur vie-
len Einzelwesen oder Personen gemeinsam sei, solle hier
umgekehrt Eine Person an zwei verschiedenen Naturen
Theil haben. Sei nun Person eine stetige Lebenseinheit,
Natur aber der Inbegriff von Gesetzen, nach welchen die
Lebenszustände sich verlaufen: so sei nicht zu begreifen,
wie zwei durchaus verschiedene Systeme von Lebenszustän-
den in Einen Mittelpunkt zusammenlaufen können. Beson-
ders klar wird nach Schleiermacher diese Undenkbarkeit
in der Behauptung eines zweifachen Willens in Christo,
welchem man folgerichtig auch einen doppelten Verstand
zur Seite stellen müsste, wobei dann, wie Verstand und
Wille die Persönlichkeit constituiren, die Zerspaltung Chri-
sti in zwei Personen entschieden wäre. Zwar sollen die

2, §. 137 ff.; auch Kant, Relig. innerhalb der Grenzen der
blossen Vernunft, 2tes Stück, 2ter Absch. b).
6) Glaubenslehre, 2, §§. 96--98. -- Indem ich diese Schleier-
macher
'sche Kritik als vollkommen berechtigt anerkenne, stel-
le ich mich in direkten Widerspruch mit dem Urtheil von
Rosenkranz, welcher (Jahrb. für wiss. Kritik, 1831. Dec.
S. 935--41.) "seinen Unwillen nicht zurückhalten kann über
die theologisch seichte und philologisch kleinlichte Manier,
mit welcher Schleiermacher in diesem Lehrstück das Haupt-
dogma des christlichen Glaubens von der Menschwerdung
Gottes zu untergraben sucht.
" Die Verwechslung, auf wel-
cher dieses Urtheil beruht, wird sich weiter unten aufdecken.
Schluſsabhandlung. §. 142.

Das Wesentliche und Haltbare der rationalistischen
Einwürfe gegen diese Lehre hat am schärfsten Schleier-
macher
zusammengestellt, und auch hierin, wie in vielen
Stücken, die negative Kritik des kirchlichen Dogma zum
Abschluſs geführt 6). Vor Allem findet er bedenklich, daſs
durch den Ausdruck: göttliche und menschliche Natur, Gött-
liches und Menschliches unter Eine Kategorie gestellt wer-
de, und zwar unter die Kategorie von Natur, was doch
wesentlich nur ein beschränktes, im Gegensaz begriffenes
Sein bedeute. Dann aber, statt daſs sonst Eine Natur vie-
len Einzelwesen oder Personen gemeinsam sei, solle hier
umgekehrt Eine Person an zwei verschiedenen Naturen
Theil haben. Sei nun Person eine stetige Lebenseinheit,
Natur aber der Inbegriff von Gesetzen, nach welchen die
Lebenszustände sich verlaufen: so sei nicht zu begreifen,
wie zwei durchaus verschiedene Systeme von Lebenszustän-
den in Einen Mittelpunkt zusammenlaufen können. Beson-
ders klar wird nach Schleiermacher diese Undenkbarkeit
in der Behauptung eines zweifachen Willens in Christo,
welchem man folgerichtig auch einen doppelten Verstand
zur Seite stellen müſste, wobei dann, wie Verstand und
Wille die Persönlichkeit constituiren, die Zerspaltung Chri-
sti in zwei Personen entschieden wäre. Zwar sollen die

2, §. 137 ff.; auch Kant, Relig. innerhalb der Grenzen der
blossen Vernunft, 2tes Stück, 2ter Absch. b).
6) Glaubenslehre, 2, §§. 96—98. — Indem ich diese Schleier-
macher
'sche Kritik als vollkommen berechtigt anerkenne, stel-
le ich mich in direkten Widerspruch mit dem Urtheil von
Rosenkranz, welcher (Jahrb. für wiss. Kritik, 1831. Dec.
S. 935—41.) „seinen Unwillen nicht zurückhalten kann über
die theologisch seichte und philologisch kleinlichte Manier,
mit welcher Schleiermacher in diesem Lehrstück das Haupt-
dogma des christlichen Glaubens von der Menschwerdung
Gottes zu untergraben sucht.
“ Die Verwechslung, auf wel-
cher dieses Urtheil beruht, wird sich weiter unten aufdecken.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0722" n="703"/>
          <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Schlu&#x017F;sabhandlung</hi>. §. 142.</fw><lb/>
          <p>Das Wesentliche und Haltbare der rationalistischen<lb/>
Einwürfe gegen diese Lehre hat am schärfsten <hi rendition="#k">Schleier-<lb/>
macher</hi> zusammengestellt, und auch hierin, wie in vielen<lb/>
Stücken, die negative Kritik des kirchlichen Dogma zum<lb/>
Abschlu&#x017F;s geführt <note place="foot" n="6)">Glaubenslehre, 2, §§. 96&#x2014;98. &#x2014; Indem ich diese <hi rendition="#k">Schleier-<lb/>
macher</hi>'sche Kritik als vollkommen berechtigt anerkenne, stel-<lb/>
le ich mich in direkten Widerspruch mit dem Urtheil von<lb/><hi rendition="#k">Rosenkranz</hi>, welcher (Jahrb. für wiss. Kritik, 1831. Dec.<lb/>
S. 935&#x2014;41.) &#x201E;<quote>seinen Unwillen nicht zurückhalten kann über<lb/>
die theologisch seichte und philologisch kleinlichte Manier,<lb/>
mit welcher <hi rendition="#k">Schleiermacher</hi> in diesem Lehrstück das Haupt-<lb/>
dogma des christlichen Glaubens von der Menschwerdung<lb/>
Gottes zu untergraben sucht.</quote>&#x201C; Die Verwechslung, auf wel-<lb/>
cher dieses Urtheil beruht, wird sich weiter unten aufdecken.</note>. Vor Allem findet er bedenklich, da&#x017F;s<lb/>
durch den Ausdruck: göttliche und menschliche Natur, Gött-<lb/>
liches und Menschliches unter Eine Kategorie gestellt wer-<lb/>
de, und zwar unter die Kategorie von Natur, was doch<lb/>
wesentlich nur ein beschränktes, im Gegensaz begriffenes<lb/>
Sein bedeute. Dann aber, statt da&#x017F;s sonst Eine Natur vie-<lb/>
len Einzelwesen oder Personen gemeinsam sei, solle hier<lb/>
umgekehrt Eine Person an zwei verschiedenen Naturen<lb/>
Theil haben. Sei nun Person eine stetige Lebenseinheit,<lb/>
Natur aber der Inbegriff von Gesetzen, nach welchen die<lb/>
Lebenszustände sich verlaufen: so sei nicht zu begreifen,<lb/>
wie zwei durchaus verschiedene Systeme von Lebenszustän-<lb/>
den in Einen Mittelpunkt zusammenlaufen können. Beson-<lb/>
ders klar wird nach <hi rendition="#k">Schleiermacher</hi> diese Undenkbarkeit<lb/>
in der Behauptung eines zweifachen Willens in Christo,<lb/>
welchem man folgerichtig auch einen doppelten Verstand<lb/>
zur Seite stellen mü&#x017F;ste, wobei dann, wie Verstand und<lb/>
Wille die Persönlichkeit constituiren, die Zerspaltung Chri-<lb/>
sti in zwei Personen entschieden wäre. Zwar sollen die<lb/><note xml:id="seg2pn_21_2" prev="#seg2pn_21_1" place="foot" n="5)">2, §. 137 ff.; auch <hi rendition="#k">Kant</hi>, Relig. innerhalb der Grenzen der<lb/>
blossen Vernunft, 2tes Stück, 2ter Absch. b).</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[703/0722] Schluſsabhandlung. §. 142. Das Wesentliche und Haltbare der rationalistischen Einwürfe gegen diese Lehre hat am schärfsten Schleier- macher zusammengestellt, und auch hierin, wie in vielen Stücken, die negative Kritik des kirchlichen Dogma zum Abschluſs geführt 6). Vor Allem findet er bedenklich, daſs durch den Ausdruck: göttliche und menschliche Natur, Gött- liches und Menschliches unter Eine Kategorie gestellt wer- de, und zwar unter die Kategorie von Natur, was doch wesentlich nur ein beschränktes, im Gegensaz begriffenes Sein bedeute. Dann aber, statt daſs sonst Eine Natur vie- len Einzelwesen oder Personen gemeinsam sei, solle hier umgekehrt Eine Person an zwei verschiedenen Naturen Theil haben. Sei nun Person eine stetige Lebenseinheit, Natur aber der Inbegriff von Gesetzen, nach welchen die Lebenszustände sich verlaufen: so sei nicht zu begreifen, wie zwei durchaus verschiedene Systeme von Lebenszustän- den in Einen Mittelpunkt zusammenlaufen können. Beson- ders klar wird nach Schleiermacher diese Undenkbarkeit in der Behauptung eines zweifachen Willens in Christo, welchem man folgerichtig auch einen doppelten Verstand zur Seite stellen müſste, wobei dann, wie Verstand und Wille die Persönlichkeit constituiren, die Zerspaltung Chri- sti in zwei Personen entschieden wäre. Zwar sollen die 5) 6) Glaubenslehre, 2, §§. 96—98. — Indem ich diese Schleier- macher'sche Kritik als vollkommen berechtigt anerkenne, stel- le ich mich in direkten Widerspruch mit dem Urtheil von Rosenkranz, welcher (Jahrb. für wiss. Kritik, 1831. Dec. S. 935—41.) „seinen Unwillen nicht zurückhalten kann über die theologisch seichte und philologisch kleinlichte Manier, mit welcher Schleiermacher in diesem Lehrstück das Haupt- dogma des christlichen Glaubens von der Menschwerdung Gottes zu untergraben sucht.“ Die Verwechslung, auf wel- cher dieses Urtheil beruht, wird sich weiter unten aufdecken. 5) 2, §. 137 ff.; auch Kant, Relig. innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 2tes Stück, 2ter Absch. b).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/722
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 703. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/722>, abgerufen am 23.11.2024.