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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 89.
zunehmen sei, bleibe hier dahingestellt. Dass übrigens ei-
ne solche geistige und leibliche Diät des Exorcisten auf den
Besessenen von Wirkung sein sollte, hat man befremdlich
gefunden, und indem man eine solche mit Porphyrius 46)
eher dem Kranken angemessen dachte, hat man die pros-
eukhe kai neseia als eine dem Besessenen, um die Kur ra-
dikal zu machen, gegebene Vorschrift angesehen 47). Al-
lein in offenbarem Widerspruch gegen die Erzählung.
Denn wenn Fasten und Beten von Seiten des Kranken zum
Gelingen der Kur erforderlich gewesen wäre: so hätten
wir eine allmählige Heilung und keine plözliche, was doch
alle Kuren sind, die in den Evangelien von Jesu erzählt
werden, und wie namentlich diese durch das kai etherapeu-
the o pais apo tes oras ekeines bei Matthäus, so wie durch
das zwischen epetimese k. t. l. und apedoke k. t. l. hin-
eingestellte iasato bei Lukas deutlich genug bezeichnet
ist. Freilich will Paulus jenen Ausdruck des Matthäus
gerade zu seinem Vortheil wenden, indem er ihn so ver-
steht, von jener Zeit an sei nun der Knabe durch Anwen-
dung der vorgeschriebenen Diät allmählig vollends gesund
geworden. Allein man darf nur dieselbe Formel, wo sie
sonst in den Evangelien als Schlussformel von Heilungsge-
schichten vorkommt, betrachten, um sich von der Unmög-
lichkeit jener Deutung zu überzeugen. Wenn z. B. die
Geschichte von der Heilung der Blutflüssigen mit der Be-
merkung schliesst (Matth. 9, 22.): kai esothe e gune apo
tes oras ekeines, so wird man diess doch nicht überse-
zen wollen: et exinde mulier paulatim servabatur, son-
dern es kann nur heissen: servata erat, servatam se prae-
buit, ab illo temporis momento
. Ein Anderes, worauf
sich Paulus beruft, um zu beweisen, dass Jesus hier ein
fortzusetzendes Heilverfahren eingeleitet habe, ist das ape-

46) de abstinent. 2, p. 204 und 417 f. s. Winer, 1, S. 191.
47) Paulus, ex. Handb. 2, S. 471 f.

Neuntes Kapitel. §. 89.
zunehmen sei, bleibe hier dahingestellt. Daſs übrigens ei-
ne solche geistige und leibliche Diät des Exorcisten auf den
Besessenen von Wirkung sein sollte, hat man befremdlich
gefunden, und indem man eine solche mit Porphyrius 46)
eher dem Kranken angemessen dachte, hat man die προσ-
ευχὴ καὶ νηςεία als eine dem Besessenen, um die Kur ra-
dikal zu machen, gegebene Vorschrift angesehen 47). Al-
lein in offenbarem Widerspruch gegen die Erzählung.
Denn wenn Fasten und Beten von Seiten des Kranken zum
Gelingen der Kur erforderlich gewesen wäre: so hätten
wir eine allmählige Heilung und keine plözliche, was doch
alle Kuren sind, die in den Evangelien von Jesu erzählt
werden, und wie namentlich diese durch das καὶ ἐϑεραπεύ-
ϑη ὁ παῖς ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης bei Matthäus, so wie durch
das zwischen ἐπετίμησε κ. τ. λ. und ἀπέδωκε κ. τ. λ. hin-
eingestellte ἰάσατο bei Lukas deutlich genug bezeichnet
ist. Freilich will Paulus jenen Ausdruck des Matthäus
gerade zu seinem Vortheil wenden, indem er ihn so ver-
steht, von jener Zeit an sei nun der Knabe durch Anwen-
dung der vorgeschriebenen Diät allmählig vollends gesund
geworden. Allein man darf nur dieselbe Formel, wo sie
sonst in den Evangelien als Schluſsformel von Heilungsge-
schichten vorkommt, betrachten, um sich von der Unmög-
lichkeit jener Deutung zu überzeugen. Wenn z. B. die
Geschichte von der Heilung der Blutflüssigen mit der Be-
merkung schlieſst (Matth. 9, 22.): καὶ ἐσώϑη ἡ γυνὴ ἀπὸ
τῆς ὥρας ἐκείνης, so wird man dieſs doch nicht überse-
zen wollen: et exinde mulier paulatim servabatur, son-
dern es kann nur heiſsen: servata erat, servatam se prae-
buit, ab illo temporis momento
. Ein Anderes, worauf
sich Paulus beruft, um zu beweisen, daſs Jesus hier ein
fortzusetzendes Heilverfahren eingeleitet habe, ist das ἀπέ-

46) de abstinent. 2, p. 204 und 417 f. s. Winer, 1, S. 191.
47) Paulus, ex. Handb. 2, S. 471 f.
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[45/0064] Neuntes Kapitel. §. 89. zunehmen sei, bleibe hier dahingestellt. Daſs übrigens ei- ne solche geistige und leibliche Diät des Exorcisten auf den Besessenen von Wirkung sein sollte, hat man befremdlich gefunden, und indem man eine solche mit Porphyrius 46) eher dem Kranken angemessen dachte, hat man die προσ- ευχὴ καὶ νηςεία als eine dem Besessenen, um die Kur ra- dikal zu machen, gegebene Vorschrift angesehen 47). Al- lein in offenbarem Widerspruch gegen die Erzählung. Denn wenn Fasten und Beten von Seiten des Kranken zum Gelingen der Kur erforderlich gewesen wäre: so hätten wir eine allmählige Heilung und keine plözliche, was doch alle Kuren sind, die in den Evangelien von Jesu erzählt werden, und wie namentlich diese durch das καὶ ἐϑεραπεύ- ϑη ὁ παῖς ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης bei Matthäus, so wie durch das zwischen ἐπετίμησε κ. τ. λ. und ἀπέδωκε κ. τ. λ. hin- eingestellte ἰάσατο bei Lukas deutlich genug bezeichnet ist. Freilich will Paulus jenen Ausdruck des Matthäus gerade zu seinem Vortheil wenden, indem er ihn so ver- steht, von jener Zeit an sei nun der Knabe durch Anwen- dung der vorgeschriebenen Diät allmählig vollends gesund geworden. Allein man darf nur dieselbe Formel, wo sie sonst in den Evangelien als Schluſsformel von Heilungsge- schichten vorkommt, betrachten, um sich von der Unmög- lichkeit jener Deutung zu überzeugen. Wenn z. B. die Geschichte von der Heilung der Blutflüssigen mit der Be- merkung schlieſst (Matth. 9, 22.): καὶ ἐσώϑη ἡ γυνὴ ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης, so wird man dieſs doch nicht überse- zen wollen: et exinde mulier paulatim servabatur, son- dern es kann nur heiſsen: servata erat, servatam se prae- buit, ab illo temporis momento. Ein Anderes, worauf sich Paulus beruft, um zu beweisen, daſs Jesus hier ein fortzusetzendes Heilverfahren eingeleitet habe, ist das ἀπέ- 46) de abstinent. 2, p. 204 und 417 f. s. Winer, 1, S. 191. 47) Paulus, ex. Handb. 2, S. 471 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/64>, abgerufen am 09.05.2024.