Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Drittes Kapitel. §. 128.
das Unbestimmte zu Ohren gekommen, dass bei der Ver-
theilung der Kleider Jesu die Soldaten das Loos in An-
wendung gebracht haben, und diess haben sie aus Unkennt-
niss der näheren Verhältnisse so verstanden, als ob über
sämmtliche Kleidungsstücke Jesu das Loos geworfen wor-
den wäre. Allein, wenn schon der Umstand, dass gerade
Johannes allein es ist, der die Psalmstelle ausdrücklich
anführt, eine vorzügliche Berücksichtigung derselben von
seiner Seite beweist, so ist überhaupt diese Abweichung
der Evangelisten eine solche, welche einer verschiedenen
Auslegung jener Stelle auf's Genaueste entspricht. Wenn
der Psalm von einem Vertheilen der Kleider und Verloo-
sen des Gewandes redet, so ist im Sinne des hebräischen
Parallelismus das zweite nur nähere Bestimmung des er-
sten, und in richtigem Verständniss hievon setzen die Syn-
optiker das eine der beiden Verba in's Participium. Wer
aber entweder diese Eigenheit des hebräischen Sprachge-
brauchs nicht berücksichtigte, oder ein Interesse hatte, je-
den einzelnen Zug der Weissagung als besonders erfüll-
ten herauszuheben, der konnte jene näher bestimmende
copula als hinzufügend fassen, und so in dem Verloosen
einen von dem Vertheilen verschiedenen Akt finden. Dann
musste auch der imatismos (l@bv'sh), welcher ursprünglich
ein synonymum von imatia (b'@gadiym) war, ein von diesen
verschiedenes Kleidungsstück werden, dessen nähere Be-
stimmung, weil sie im Wort auf keine Weise lag, dem
Belieben überlassen blieb. Der vierte Evangelist bestimmte
es als khiton, und weil er seinen Lesern auch einen Grund
schuldig zu sein glaubte, warum auf dieses Stück ein von
der Vertheilung der übrigen so verschiedenes Verfahren
angewendet worden sei, brachte er heraus, der Grund,
warum man das Unterkleid lieber verloosen als zertheilen
wollte, werde wohl gewesen sein, dass es keine das Zer-
trennen begünstigenden Nähte gehabt (aRRaphos), aus Einem

Drittes Kapitel. §. 128.
das Unbestimmte zu Ohren gekommen, daſs bei der Ver-
theilung der Kleider Jesu die Soldaten das Loos in An-
wendung gebracht haben, und dieſs haben sie aus Unkennt-
niſs der näheren Verhältnisse so verstanden, als ob über
sämmtliche Kleidungsstücke Jesu das Loos geworfen wor-
den wäre. Allein, wenn schon der Umstand, daſs gerade
Johannes allein es ist, der die Psalmstelle ausdrücklich
anführt, eine vorzügliche Berücksichtigung derselben von
seiner Seite beweist, so ist überhaupt diese Abweichung
der Evangelisten eine solche, welche einer verschiedenen
Auslegung jener Stelle auf's Genaueste entspricht. Wenn
der Psalm von einem Vertheilen der Kleider und Verloo-
sen des Gewandes redet, so ist im Sinne des hebräischen
Parallelismus das zweite nur nähere Bestimmung des er-
sten, und in richtigem Verständniſs hievon setzen die Syn-
optiker das eine der beiden Verba in's Participium. Wer
aber entweder diese Eigenheit des hebräischen Sprachge-
brauchs nicht berücksichtigte, oder ein Interesse hatte, je-
den einzelnen Zug der Weissagung als besonders erfüll-
ten herauszuheben, der konnte jene näher bestimmende
copula als hinzufügend fassen, und so in dem Verloosen
einen von dem Vertheilen verschiedenen Akt finden. Dann
muſste auch der ἱματισμὸς (לְבוּשׁ), welcher ursprünglich
ein synonymum von ἱμάτια (בְּגָדִים) war, ein von diesen
verschiedenes Kleidungsstück werden, dessen nähere Be-
stimmung, weil sie im Wort auf keine Weise lag, dem
Belieben überlassen blieb. Der vierte Evangelist bestimmte
es als χιτὼν, und weil er seinen Lesern auch einen Grund
schuldig zu sein glaubte, warum auf dieses Stück ein von
der Vertheilung der übrigen so verschiedenes Verfahren
angewendet worden sei, brachte er heraus, der Grund,
warum man das Unterkleid lieber verloosen als zertheilen
wollte, werde wohl gewesen sein, daſs es keine das Zer-
trennen begünstigenden Nähte gehabt (ἄῤῥαφος), aus Einem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0562" n="543"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Drittes Kapitel</hi>. §. 128.</fw><lb/>
das Unbestimmte zu Ohren gekommen, da&#x017F;s bei der Ver-<lb/>
theilung der Kleider Jesu die Soldaten das Loos in An-<lb/>
wendung gebracht haben, und die&#x017F;s haben sie aus Unkennt-<lb/>
ni&#x017F;s der näheren Verhältnisse so verstanden, als ob über<lb/>
sämmtliche Kleidungsstücke Jesu das Loos geworfen wor-<lb/>
den wäre. Allein, wenn schon der Umstand, da&#x017F;s gerade<lb/>
Johannes allein es ist, der die Psalmstelle ausdrücklich<lb/>
anführt, eine vorzügliche Berücksichtigung derselben von<lb/>
seiner Seite beweist, so ist überhaupt diese Abweichung<lb/>
der Evangelisten eine solche, welche einer verschiedenen<lb/>
Auslegung jener Stelle auf's Genaueste entspricht. Wenn<lb/>
der Psalm von einem Vertheilen der Kleider und Verloo-<lb/>
sen des Gewandes redet, so ist im Sinne des hebräischen<lb/>
Parallelismus das zweite nur nähere Bestimmung des er-<lb/>
sten, und in richtigem Verständni&#x017F;s hievon setzen die Syn-<lb/>
optiker das eine der beiden Verba in's Participium. Wer<lb/>
aber entweder diese Eigenheit des hebräischen Sprachge-<lb/>
brauchs nicht berücksichtigte, oder ein Interesse hatte, je-<lb/>
den einzelnen Zug der Weissagung als besonders erfüll-<lb/>
ten herauszuheben, der konnte jene näher bestimmende<lb/><hi rendition="#i">copula</hi> als hinzufügend fassen, und so in dem Verloosen<lb/>
einen von dem Vertheilen verschiedenen Akt finden. Dann<lb/>
mu&#x017F;ste auch der <foreign xml:lang="ell">&#x1F31;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B9;&#x03C3;&#x03BC;&#x1F78;&#x03C2;</foreign> (<foreign xml:lang="heb">&#x05DC;&#x05B0;&#x05D1;&#x05D5;&#x05BC;&#x05E9;&#x05C1;</foreign>), welcher ursprünglich<lb/>
ein <hi rendition="#i">synonymum</hi> von <foreign xml:lang="ell">&#x1F31;&#x03BC;&#x03AC;&#x03C4;&#x03B9;&#x03B1;</foreign> (<foreign xml:lang="heb">&#x05D1;&#x05BC;&#x05B0;&#x05D2;&#x05B8;&#x05D3;&#x05B4;&#x05D9;&#x05DD;</foreign>) war, ein von diesen<lb/>
verschiedenes Kleidungsstück werden, dessen nähere Be-<lb/>
stimmung, weil sie im Wort auf keine Weise lag, dem<lb/>
Belieben überlassen blieb. Der vierte Evangelist bestimmte<lb/>
es als <foreign xml:lang="ell">&#x03C7;&#x03B9;&#x03C4;&#x1F7C;&#x03BD;</foreign>, und weil er seinen Lesern auch einen Grund<lb/>
schuldig zu sein glaubte, warum auf dieses Stück ein von<lb/>
der Vertheilung der übrigen so verschiedenes Verfahren<lb/>
angewendet worden sei, brachte er heraus, der Grund,<lb/>
warum man das Unterkleid lieber verloosen als zertheilen<lb/>
wollte, werde wohl gewesen sein, da&#x017F;s es keine das Zer-<lb/>
trennen begünstigenden Nähte gehabt (<foreign xml:lang="ell">&#x1F04;&#x1FE4;&#x1FE5;&#x03B1;&#x03C6;&#x03BF;&#x03C2;</foreign>), aus Einem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[543/0562] Drittes Kapitel. §. 128. das Unbestimmte zu Ohren gekommen, daſs bei der Ver- theilung der Kleider Jesu die Soldaten das Loos in An- wendung gebracht haben, und dieſs haben sie aus Unkennt- niſs der näheren Verhältnisse so verstanden, als ob über sämmtliche Kleidungsstücke Jesu das Loos geworfen wor- den wäre. Allein, wenn schon der Umstand, daſs gerade Johannes allein es ist, der die Psalmstelle ausdrücklich anführt, eine vorzügliche Berücksichtigung derselben von seiner Seite beweist, so ist überhaupt diese Abweichung der Evangelisten eine solche, welche einer verschiedenen Auslegung jener Stelle auf's Genaueste entspricht. Wenn der Psalm von einem Vertheilen der Kleider und Verloo- sen des Gewandes redet, so ist im Sinne des hebräischen Parallelismus das zweite nur nähere Bestimmung des er- sten, und in richtigem Verständniſs hievon setzen die Syn- optiker das eine der beiden Verba in's Participium. Wer aber entweder diese Eigenheit des hebräischen Sprachge- brauchs nicht berücksichtigte, oder ein Interesse hatte, je- den einzelnen Zug der Weissagung als besonders erfüll- ten herauszuheben, der konnte jene näher bestimmende copula als hinzufügend fassen, und so in dem Verloosen einen von dem Vertheilen verschiedenen Akt finden. Dann muſste auch der ἱματισμὸς (לְבוּשׁ), welcher ursprünglich ein synonymum von ἱμάτια (בְּגָדִים) war, ein von diesen verschiedenes Kleidungsstück werden, dessen nähere Be- stimmung, weil sie im Wort auf keine Weise lag, dem Belieben überlassen blieb. Der vierte Evangelist bestimmte es als χιτὼν, und weil er seinen Lesern auch einen Grund schuldig zu sein glaubte, warum auf dieses Stück ein von der Vertheilung der übrigen so verschiedenes Verfahren angewendet worden sei, brachte er heraus, der Grund, warum man das Unterkleid lieber verloosen als zertheilen wollte, werde wohl gewesen sein, daſs es keine das Zer- trennen begünstigenden Nähte gehabt (ἄῤῥαφος), aus Einem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/562
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/562>, abgerufen am 18.05.2024.