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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
den, welche die Evangelisten ohne ihre Schuld theilten,
und von welcher sich die orthodoxen Theologen, aber
durch eigne Schuld, nach 18 Jahrhunderten noch immer
nicht frei gemacht haben, glaubte jene Worte eigentlich
nehmen, und in diesem Sinn als am Messias erfüllt nach-
weisen zu müssen. -- Ob nun die Evangelisten die Klei-
derverloosung mehr aus historischen Nachrichten, die ih-
nen zu Gebote standen, oder aus der prophetischen Stelle,
welche sie verschiedentlich auslegten, geschöpft haben,
muss aus der Vergleichung ihrer Berichte sich ergeben.
Diese weichen darin von einander ab, dass, während den
Synoptikern zufolge sämmtliche Kleider durch das Loos
vertheilt wurden, was schon aus dem diemerisanto ta ima-
tia autou, ballontes kleron bei Matthäus (V. 35.) und der
ähnlichen Wendung des Lukas (V. 34.), am entschieden-
sten aber aus dem Zusaz des Markus: tis ti are (V. 24.),
erhellt: bei Johannes die übrigen Stücke ohne Loos ver-
theilt, und nur um das Unterkleid geloost wird (V. 23 f.).
Diese Abweichung wird gewöhnlich viel zu leicht genom-
men, und stillschweigend so behandelt, als ob die Dar-
stellung der Synoptiker zur johanneischen sich nur wie die
unbestimmtere zur bestimmteren verhielte. Kuinöl über-
sezt mit Rücksicht auf den Johannes das Matthäische
diemerizonto ballontes geradezu durch: partim divide-
bant, partim in sortem conjiciebant
; allein so lässt sich
nicht theilen, sondern das diemerizonto giebt an, was, das
ballontes kl., wie sie es gethan haben: ohnehin über das
tis ti are schweigt Kuinöl still, weil hierin unverkennbar
liegt, dass sie um mehrere Stücke geloost haben, während
sich nach Johannes das Loos nur auf Ein Kleidungsstück
bezog. Fragt es sich nun, welche von beiden widerspre-
chenden Angaben die richtige sei, so wird auf dem jetzi-
gen Standpunkt der vergleichenden Evangelienkritik die
Antwort ohne Zweifel so lauten, dass der Augenzeuge Jo-
hannes das Richtige gebe, den Synoptikern aber sei nur

Dritter Abschnitt.
den, welche die Evangelisten ohne ihre Schuld theilten,
und von welcher sich die orthodoxen Theologen, aber
durch eigne Schuld, nach 18 Jahrhunderten noch immer
nicht frei gemacht haben, glaubte jene Worte eigentlich
nehmen, und in diesem Sinn als am Messias erfüllt nach-
weisen zu müssen. — Ob nun die Evangelisten die Klei-
derverloosung mehr aus historischen Nachrichten, die ih-
nen zu Gebote standen, oder aus der prophetischen Stelle,
welche sie verschiedentlich auslegten, geschöpft haben,
muſs aus der Vergleichung ihrer Berichte sich ergeben.
Diese weichen darin von einander ab, daſs, während den
Synoptikern zufolge sämmtliche Kleider durch das Loos
vertheilt wurden, was schon aus dem διεμερίσαντο τὰ ἱμά-
τια αὐτοῦ, βάλλοντες κλῆρον bei Matthäus (V. 35.) und der
ähnlichen Wendung des Lukas (V. 34.), am entschieden-
sten aber aus dem Zusaz des Markus: τίς τί ᾄρῃ (V. 24.),
erhellt: bei Johannes die übrigen Stücke ohne Loos ver-
theilt, und nur um das Unterkleid geloost wird (V. 23 f.).
Diese Abweichung wird gewöhnlich viel zu leicht genom-
men, und stillschweigend so behandelt, als ob die Dar-
stellung der Synoptiker zur johanneischen sich nur wie die
unbestimmtere zur bestimmteren verhielte. Kuinöl über-
sezt mit Rücksicht auf den Johannes das Matthäische
διεμερίζοντο βάλλοντες geradezu durch: partim divide-
bant, partim in sortem conjiciebant
; allein so läſst sich
nicht theilen, sondern das διεμερίζοντο giebt an, was, das
βάλλοντες κλ., wie sie es gethan haben: ohnehin über das
τίς τί ᾄρῃ schweigt Kuinöl still, weil hierin unverkennbar
liegt, daſs sie um mehrere Stücke geloost haben, während
sich nach Johannes das Loos nur auf Ein Kleidungsstück
bezog. Fragt es sich nun, welche von beiden widerspre-
chenden Angaben die richtige sei, so wird auf dem jetzi-
gen Standpunkt der vergleichenden Evangelienkritik die
Antwort ohne Zweifel so lauten, daſs der Augenzeuge Jo-
hannes das Richtige gebe, den Synoptikern aber sei nur

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[542/0561] Dritter Abschnitt. den, welche die Evangelisten ohne ihre Schuld theilten, und von welcher sich die orthodoxen Theologen, aber durch eigne Schuld, nach 18 Jahrhunderten noch immer nicht frei gemacht haben, glaubte jene Worte eigentlich nehmen, und in diesem Sinn als am Messias erfüllt nach- weisen zu müssen. — Ob nun die Evangelisten die Klei- derverloosung mehr aus historischen Nachrichten, die ih- nen zu Gebote standen, oder aus der prophetischen Stelle, welche sie verschiedentlich auslegten, geschöpft haben, muſs aus der Vergleichung ihrer Berichte sich ergeben. Diese weichen darin von einander ab, daſs, während den Synoptikern zufolge sämmtliche Kleider durch das Loos vertheilt wurden, was schon aus dem διεμερίσαντο τὰ ἱμά- τια αὐτοῦ, βάλλοντες κλῆρον bei Matthäus (V. 35.) und der ähnlichen Wendung des Lukas (V. 34.), am entschieden- sten aber aus dem Zusaz des Markus: τίς τί ᾄρῃ (V. 24.), erhellt: bei Johannes die übrigen Stücke ohne Loos ver- theilt, und nur um das Unterkleid geloost wird (V. 23 f.). Diese Abweichung wird gewöhnlich viel zu leicht genom- men, und stillschweigend so behandelt, als ob die Dar- stellung der Synoptiker zur johanneischen sich nur wie die unbestimmtere zur bestimmteren verhielte. Kuinöl über- sezt mit Rücksicht auf den Johannes das Matthäische διεμερίζοντο βάλλοντες geradezu durch: partim divide- bant, partim in sortem conjiciebant; allein so läſst sich nicht theilen, sondern das διεμερίζοντο giebt an, was, das βάλλοντες κλ., wie sie es gethan haben: ohnehin über das τίς τί ᾄρῃ schweigt Kuinöl still, weil hierin unverkennbar liegt, daſs sie um mehrere Stücke geloost haben, während sich nach Johannes das Loos nur auf Ein Kleidungsstück bezog. Fragt es sich nun, welche von beiden widerspre- chenden Angaben die richtige sei, so wird auf dem jetzi- gen Standpunkt der vergleichenden Evangelienkritik die Antwort ohne Zweifel so lauten, daſs der Augenzeuge Jo- hannes das Richtige gebe, den Synoptikern aber sei nur

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/561>, abgerufen am 18.05.2024.