Am meisten Schwierigkeit macht hier natürlich die Differenz, dass bei Johannes die von den Synoptikern ein- stimmig berichtete Einsetzung des Abendmahls fehlt, und an ihrer Statt eine ganz andere Handlung Jesu, eine Fuss- waschung, gemeldet wird. Freilich, wenn man sich durch den ganzen bisherigen Verlauf der evangelischen Geschich- te mit der Annahme hindurchgeholfen hat, Johannes habe den Zweck gehabt, die übrigen Evangelien zu ergänzen, so kommt man auch über diese Schwierigkeit so gut oder so schlecht wie über die andern alle hinweg. Die Ein- setzung des Abendmahls, heisst es, fand Johannes bei den drei ersten Evangelisten auf eine Weise erzählt schon vor, welche mit seiner eigenen Erinnerung völlig übereinstimm- te, wesswegen er sich denn nicht bewogen fand, sie zu wiederholen 1). Allein, wenn wirklich der vierte Evange- list von den schon in den drei ersten Evangelien aufge- zeichneten Geschichten nur diejenigen noch einmal erzäh- len wollte, an deren Darstellung er etwas zu berichtigen oder zu ergänzen fand: warum erzählt er dann die Spei- sungsgeschichte, an der er nichts irgend Erhebliches zu bessern weiss, noch einmal, die Stiftung des Abendmahls dagegen nicht, bei welcher ihn doch schon die Differen- zen der Synoptiker in Anordnung der Scene und Fassung der Worte Jesu, hauptsächlich aber der Umstand, dass sie, nach seiner Darstellung irrig, jene Einsetzung am Pa- schaabend vorgehen lassen, zur Mittheilung eines authen- tischen Berichts hätte veranlassen müssen? Mit Rücksicht auf diese Schwierigkeit giebt man nun wohl die Behaup- tung auf, der Verfasser des vierten Evangeliums habe eine Kenntniss von den drei ersten, und die Absicht, sie zu ergänzen und zu berichtigen, gehabt: doch aber soll er die vulgäre mündliche Evangelientradition gekannt und bei seinen Lesern vorausgesezt, und in dieser Rücksicht die
1)Paulus, 3, b, S. 499. Olshausen, 2, S. 294.
Das Leben Jesu II. Band. 27
Zweites Kapitel. §. 118.
Am meisten Schwierigkeit macht hier natürlich die Differenz, daſs bei Johannes die von den Synoptikern ein- stimmig berichtete Einsetzung des Abendmahls fehlt, und an ihrer Statt eine ganz andere Handlung Jesu, eine Fuſs- waschung, gemeldet wird. Freilich, wenn man sich durch den ganzen bisherigen Verlauf der evangelischen Geschich- te mit der Annahme hindurchgeholfen hat, Johannes habe den Zweck gehabt, die übrigen Evangelien zu ergänzen, so kommt man auch über diese Schwierigkeit so gut oder so schlecht wie über die andern alle hinweg. Die Ein- setzung des Abendmahls, heiſst es, fand Johannes bei den drei ersten Evangelisten auf eine Weise erzählt schon vor, welche mit seiner eigenen Erinnerung völlig übereinstimm- te, weſswegen er sich denn nicht bewogen fand, sie zu wiederholen 1). Allein, wenn wirklich der vierte Evange- list von den schon in den drei ersten Evangelien aufge- zeichneten Geschichten nur diejenigen noch einmal erzäh- len wollte, an deren Darstellung er etwas zu berichtigen oder zu ergänzen fand: warum erzählt er dann die Spei- sungsgeschichte, an der er nichts irgend Erhebliches zu bessern weiſs, noch einmal, die Stiftung des Abendmahls dagegen nicht, bei welcher ihn doch schon die Differen- zen der Synoptiker in Anordnung der Scene und Fassung der Worte Jesu, hauptsächlich aber der Umstand, daſs sie, nach seiner Darstellung irrig, jene Einsetzung am Pa- schaabend vorgehen lassen, zur Mittheilung eines authen- tischen Berichts hätte veranlassen müssen? Mit Rücksicht auf diese Schwierigkeit giebt man nun wohl die Behaup- tung auf, der Verfasser des vierten Evangeliums habe eine Kenntniſs von den drei ersten, und die Absicht, sie zu ergänzen und zu berichtigen, gehabt: doch aber soll er die vulgäre mündliche Evangelientradition gekannt und bei seinen Lesern vorausgesezt, und in dieser Rücksicht die
1)Paulus, 3, b, S. 499. Olshausen, 2, S. 294.
Das Leben Jesu II. Band. 27
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Zweites Kapitel. §. 118.
Am meisten Schwierigkeit macht hier natürlich die
Differenz, daſs bei Johannes die von den Synoptikern ein-
stimmig berichtete Einsetzung des Abendmahls fehlt, und
an ihrer Statt eine ganz andere Handlung Jesu, eine Fuſs-
waschung, gemeldet wird. Freilich, wenn man sich durch
den ganzen bisherigen Verlauf der evangelischen Geschich-
te mit der Annahme hindurchgeholfen hat, Johannes habe
den Zweck gehabt, die übrigen Evangelien zu ergänzen,
so kommt man auch über diese Schwierigkeit so gut oder
so schlecht wie über die andern alle hinweg. Die Ein-
setzung des Abendmahls, heiſst es, fand Johannes bei den
drei ersten Evangelisten auf eine Weise erzählt schon vor,
welche mit seiner eigenen Erinnerung völlig übereinstimm-
te, weſswegen er sich denn nicht bewogen fand, sie zu
wiederholen 1). Allein, wenn wirklich der vierte Evange-
list von den schon in den drei ersten Evangelien aufge-
zeichneten Geschichten nur diejenigen noch einmal erzäh-
len wollte, an deren Darstellung er etwas zu berichtigen
oder zu ergänzen fand: warum erzählt er dann die Spei-
sungsgeschichte, an der er nichts irgend Erhebliches zu
bessern weiſs, noch einmal, die Stiftung des Abendmahls
dagegen nicht, bei welcher ihn doch schon die Differen-
zen der Synoptiker in Anordnung der Scene und Fassung
der Worte Jesu, hauptsächlich aber der Umstand, daſs
sie, nach seiner Darstellung irrig, jene Einsetzung am Pa-
schaabend vorgehen lassen, zur Mittheilung eines authen-
tischen Berichts hätte veranlassen müssen? Mit Rücksicht
auf diese Schwierigkeit giebt man nun wohl die Behaup-
tung auf, der Verfasser des vierten Evangeliums habe eine
Kenntniſs von den drei ersten, und die Absicht, sie zu
ergänzen und zu berichtigen, gehabt: doch aber soll er
die vulgäre mündliche Evangelientradition gekannt und bei
seinen Lesern vorausgesezt, und in dieser Rücksicht die
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/436>, abgerufen am 24.11.2024.
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