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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Erstes Kapitel. §. 112.
von ihm begonnenen Werkes, also auch den Tempel zu
Jerusalem, in welchem, als der Basis des Priestercultus,
er eines der stärksten erkannte, aus dem Wege räumen
würde. Allein auf einen, wenn er aus bloss menschlicher
Berechnung hervorgieng, so äusserst unsichern Schluss
konnte Jesus ohne die keckste Vermessenheit keine so feier-
liche Versicherung, und namentlich die Gewissheit nicht
bauen, dass die Zerstörung noch im Lauf eines Menschen-
alters eintreten werde. Wenn man aber das besonders be-
fremdlich gefunden hat, dass mit einzelnen Zügen der Weis-
sagung Jesu der Erfolg zusammengetroffen sein soll: so
wird eben dieses Zusammentreffen in Anspruch genommen.
Das Jerusalem prophezeihte kuklousthai upo sratopedon
werde von Titus bei Josephus gerade als unausführbar be-
zeichnet 11); ebenso, wenn das Aufwerfen eines kharax um
die Stadt vorausgesagt werde, so melde Josephus, dass,
nachdem der erste Versuch eines khoma durch Brandstif-
tung von Seiten der Belagerten vereitelt worden, Titus
vom Aufwerfen weiterer Dämme abgestanden sei 12); von
falschen Messiasen, die in der Zeit von Jesu Tod bis zur
Zerstörung Jerusalems aufgestanden wären, melde die Ge-
schichte nichts; die Völkerbewegungen und Naturerschei-
nungen in jener Periode seien bei Weitem nicht so bedeu-
tend gewesen, wie sie hier geschildert werden; namentlich
aber sei in diesen Reden gar keine Zerstörung Jerusalems,
sondern nur des Tempels, der Stadt aber bloss eremosis
und pateisthai upo ethnon vorhergesagt: lauter Abweichun-
gen der Weissagung vom Erfolg, welche nicht stattfinden
würden, wenn entweder ein übernatürlicher Blick in die
Zukunft, oder ein vaticinium post eventum im Spiele wäre.

11) b. j. 5, 12, 1: Kuklosasthai te gar te sratia ten polin, dia
to megethos kai duskhorian ouk eumares einai kai sphaleron allos
pros tas epitheseis.
12) b. j. 5, 11, 1 ff. 12, 1.

Erstes Kapitel. §. 112.
von ihm begonnenen Werkes, also auch den Tempel zu
Jerusalem, in welchem, als der Basis des Priestercultus,
er eines der stärksten erkannte, aus dem Wege räumen
würde. Allein auf einen, wenn er aus bloſs menschlicher
Berechnung hervorgieng, so äusserst unsichern Schluſs
konnte Jesus ohne die keckste Vermessenheit keine so feier-
liche Versicherung, und namentlich die Gewiſsheit nicht
bauen, daſs die Zerstörung noch im Lauf eines Menschen-
alters eintreten werde. Wenn man aber das besonders be-
fremdlich gefunden hat, daſs mit einzelnen Zügen der Weis-
sagung Jesu der Erfolg zusammengetroffen sein soll: so
wird eben dieses Zusammentreffen in Anspruch genommen.
Das Jerusalem prophezeihte κυκλοῦσϑαι ὑπὸ ςρατοπέδων
werde von Titus bei Josephus gerade als unausführbar be-
zeichnet 11); ebenso, wenn das Aufwerfen eines χάραξ um
die Stadt vorausgesagt werde, so melde Josephus, daſs,
nachdem der erste Versuch eines χῶμα durch Brandstif-
tung von Seiten der Belagerten vereitelt worden, Titus
vom Aufwerfen weiterer Dämme abgestanden sei 12); von
falschen Messiasen, die in der Zeit von Jesu Tod bis zur
Zerstörung Jerusalems aufgestanden wären, melde die Ge-
schichte nichts; die Völkerbewegungen und Naturerschei-
nungen in jener Periode seien bei Weitem nicht so bedeu-
tend gewesen, wie sie hier geschildert werden; namentlich
aber sei in diesen Reden gar keine Zerstörung Jerusalems,
sondern nur des Tempels, der Stadt aber bloſs ἐρήμωσις
und πατεῖσϑαι ὑπὸ ἐϑνῶν vorhergesagt: lauter Abweichun-
gen der Weissagung vom Erfolg, welche nicht stattfinden
würden, wenn entweder ein übernatürlicher Blick in die
Zukunft, oder ein vaticinium post eventum im Spiele wäre.

11) b. j. 5, 12, 1: Κυκλὡσασϑαί τε γὰρ τῇ ςρατιᾷ τὴν πόλιν, διὰ
τὸ μέγεϑος καὶ δυςχωρίαν ουκ εὐμαρὲς εῖναι καὶ σφαλερὸν ἄλλως
πρὸς τὰς ἐπιϑέσεις.
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[361/0380] Erstes Kapitel. §. 112. von ihm begonnenen Werkes, also auch den Tempel zu Jerusalem, in welchem, als der Basis des Priestercultus, er eines der stärksten erkannte, aus dem Wege räumen würde. Allein auf einen, wenn er aus bloſs menschlicher Berechnung hervorgieng, so äusserst unsichern Schluſs konnte Jesus ohne die keckste Vermessenheit keine so feier- liche Versicherung, und namentlich die Gewiſsheit nicht bauen, daſs die Zerstörung noch im Lauf eines Menschen- alters eintreten werde. Wenn man aber das besonders be- fremdlich gefunden hat, daſs mit einzelnen Zügen der Weis- sagung Jesu der Erfolg zusammengetroffen sein soll: so wird eben dieses Zusammentreffen in Anspruch genommen. Das Jerusalem prophezeihte κυκλοῦσϑαι ὑπὸ ςρατοπέδων werde von Titus bei Josephus gerade als unausführbar be- zeichnet 11); ebenso, wenn das Aufwerfen eines χάραξ um die Stadt vorausgesagt werde, so melde Josephus, daſs, nachdem der erste Versuch eines χῶμα durch Brandstif- tung von Seiten der Belagerten vereitelt worden, Titus vom Aufwerfen weiterer Dämme abgestanden sei 12); von falschen Messiasen, die in der Zeit von Jesu Tod bis zur Zerstörung Jerusalems aufgestanden wären, melde die Ge- schichte nichts; die Völkerbewegungen und Naturerschei- nungen in jener Periode seien bei Weitem nicht so bedeu- tend gewesen, wie sie hier geschildert werden; namentlich aber sei in diesen Reden gar keine Zerstörung Jerusalems, sondern nur des Tempels, der Stadt aber bloſs ἐρήμωσις und πατεῖσϑαι ὑπὸ ἐϑνῶν vorhergesagt: lauter Abweichun- gen der Weissagung vom Erfolg, welche nicht stattfinden würden, wenn entweder ein übernatürlicher Blick in die Zukunft, oder ein vaticinium post eventum im Spiele wäre. 11) b. j. 5, 12, 1: Κυκλὡσασϑαί τε γὰρ τῇ ςρατιᾷ τὴν πόλιν, διὰ τὸ μέγεϑος καὶ δυςχωρίαν ουκ εὐμαρὲς εῖναι καὶ σφαλερὸν ἄλλως πρὸς τὰς ἐπιϑέσεις. 12) b. j. 5, 11, 1 ff. 12, 1.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/380>, abgerufen am 25.11.2024.