jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen werden, dass die angezeigten Stellen im Daniel auf die Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes sich beziehen 8), also die Deutung derselben, welche die Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol- che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom- men, sondern er müsste hierin seiner menschlichen Gei- steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein- zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird von hier aus auf die Vermuthung geführt, dass diese Re- den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son- dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha- be nur bedingt, für den Fall, dass die Nation sich nicht durch den Messias retten liesse, dem Tempel und der Stadt ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und diess in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei- ner Rede erst post eventum gegeben worden 9).
Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach- ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die Möglichkeit darzuthun, dass, was hier vorausgesagt wird, wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön- nen 10). Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem- pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man, durch den Schluss kommen, dass Gott alle Hindernisse des
8)Bertholdt, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff.; Pau- lus, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f.
9) bibl. Theol. 1, S. 247.
10)Paulus, Fritzsche, z. d. Absch.
Dritter Abschnitt.
jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen werden, daſs die angezeigten Stellen im Daniel auf die Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes sich beziehen 8), also die Deutung derselben, welche die Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol- che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom- men, sondern er müſste hierin seiner menschlichen Gei- steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein- zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird von hier aus auf die Vermuthung geführt, daſs diese Re- den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son- dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha- be nur bedingt, für den Fall, daſs die Nation sich nicht durch den Messias retten lieſse, dem Tempel und der Stadt ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und dieſs in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei- ner Rede erst post eventum gegeben worden 9).
Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach- ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die Möglichkeit darzuthun, daſs, was hier vorausgesagt wird, wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön- nen 10). Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem- pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man, durch den Schluſs kommen, daſs Gott alle Hindernisse des
8)Bertholdt, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff.; Pau- lus, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f.
9) bibl. Theol. 1, S. 247.
10)Paulus, Fritzsche, z. d. Absch.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0379"n="360"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Dritter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen<lb/>
werden, daſs die angezeigten Stellen im Daniel auf die<lb/>
Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes<lb/>
sich beziehen <noteplace="foot"n="8)"><hirendition="#k">Bertholdt</hi>, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff.; <hirendition="#k">Pau-<lb/>
lus</hi>, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f.</note>, also die Deutung derselben, welche die<lb/>
Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol-<lb/>
che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom-<lb/>
men, sondern er müſste hierin seiner menschlichen Gei-<lb/>
steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er<lb/>
mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von<lb/>
so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein-<lb/>
zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird<lb/>
von hier aus auf die Vermuthung geführt, daſs diese Re-<lb/>
den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht<lb/>
vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son-<lb/>
dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund<lb/>
gelegt worden seien. So nimmt z. B. <hirendition="#k">Kaiser</hi> an, Jesus ha-<lb/>
be nur bedingt, für den Fall, daſs die Nation sich nicht<lb/>
durch den Messias retten lieſse, dem Tempel und der Stadt<lb/>
ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und<lb/>
dieſs in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte<lb/>
Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei-<lb/>
ner Rede erst <hirendition="#i">post eventum</hi> gegeben worden <noteplace="foot"n="9)">bibl. Theol. 1, S. 247.</note>.</p><lb/><p>Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer<lb/>
übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach-<lb/>
ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die<lb/>
Möglichkeit darzuthun, daſs, was hier vorausgesagt wird,<lb/>
wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön-<lb/>
nen <noteplace="foot"n="10)"><hirendition="#k">Paulus, Fritzsche</hi>, z. d. Absch.</note>. Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem-<lb/>
pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man,<lb/>
durch den Schluſs kommen, daſs Gott alle Hindernisse des<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[360/0379]
Dritter Abschnitt.
jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen
werden, daſs die angezeigten Stellen im Daniel auf die
Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes
sich beziehen 8), also die Deutung derselben, welche die
Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol-
che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom-
men, sondern er müſste hierin seiner menschlichen Gei-
steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er
mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von
so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein-
zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird
von hier aus auf die Vermuthung geführt, daſs diese Re-
den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht
vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son-
dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund
gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha-
be nur bedingt, für den Fall, daſs die Nation sich nicht
durch den Messias retten lieſse, dem Tempel und der Stadt
ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und
dieſs in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte
Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei-
ner Rede erst post eventum gegeben worden 9).
Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer
übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach-
ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die
Möglichkeit darzuthun, daſs, was hier vorausgesagt wird,
wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön-
nen 10). Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem-
pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man,
durch den Schluſs kommen, daſs Gott alle Hindernisse des
8) Bertholdt, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff.; Pau-
lus, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f.
9) bibl. Theol. 1, S. 247.
10) Paulus, Fritzsche, z. d. Absch.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/379>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.