Wahrscheinlichkeit folgen, dass sie auch unter den Juden zu Jesu Zeit vorhanden gewesen: so hingegen, da nach den neuesten Untersuchungen wohl die Lehre von einer in der messianischen Zeit vorzunehmenden Sühnung des Volks (Ezech. 36, 25. 37, 23. Zach. 13, 1. Dan. 9, 24.) sich im A. T. findet, aber keine Spur davon, dass diese Sühnung durch Leiden und Tod des Messias zu Stande kommen sol- le 6): so ist von dieser Seite her keine Entscheidung der vorgelegten Frage zu erwarten. Näher liegen der Zeit Je- su die A. T.lichen Apokryphen: aber da diese überhaupt vom Messias schweigen, so kann auch von jenem speciellen Zug im Bilde desselben keine Rede sein 7); so wie auch von den beiden das fragliche Zeitalter am nächsten berüh- renden Schriftstellern, Philo und Josephus, der leztere die messianischen Hoffnungen seiner Nation verschweigt 8), der erstere wohl messianische Zeiten und einen messiasartigen Helden, aber nichts von einem Leiden desselben hat 9). Es bleiben also nur das N. T. und die späteren jüdischen Schriften als Quellen übrig.
Im N. T. hat es fast durchaus das Ansehen, als hätte an einen leidenden und sterbenden Messias unter den mit Jesu lebenden Juden Niemand gedacht. Wenn der Mehr- zahl der Juden die Lehre vom gekreuzigten Messias ein skandalon war; wenn die Jünger Jesu in seine wiederhol- ten deutlichen Todesverkündigungen sich nicht finden konn- ten: so sieht diess doch gar nicht aus, als ob die Lehre von einem leidenden Messias unter den Juden jener Zeit im Umlauf gewesen wäre; vielmehr stimmt mit diesen Um- ständen die Behauptung völlig überein, welche der vierte Evangelist dem jüdischen okhlos in den Mund legt (12, 34.),
Wahrscheinlichkeit folgen, daſs sie auch unter den Juden zu Jesu Zeit vorhanden gewesen: so hingegen, da nach den neuesten Untersuchungen wohl die Lehre von einer in der messianischen Zeit vorzunehmenden Sühnung des Volks (Ezech. 36, 25. 37, 23. Zach. 13, 1. Dan. 9, 24.) sich im A. T. findet, aber keine Spur davon, daſs diese Sühnung durch Leiden und Tod des Messias zu Stande kommen sol- le 6): so ist von dieser Seite her keine Entscheidung der vorgelegten Frage zu erwarten. Näher liegen der Zeit Je- su die A. T.lichen Apokryphen: aber da diese überhaupt vom Messias schweigen, so kann auch von jenem speciellen Zug im Bilde desselben keine Rede sein 7); so wie auch von den beiden das fragliche Zeitalter am nächsten berüh- renden Schriftstellern, Philo und Josephus, der leztere die messianischen Hoffnungen seiner Nation verschweigt 8), der erstere wohl messianische Zeiten und einen messiasartigen Helden, aber nichts von einem Leiden desselben hat 9). Es bleiben also nur das N. T. und die späteren jüdischen Schriften als Quellen übrig.
Im N. T. hat es fast durchaus das Ansehen, als hätte an einen leidenden und sterbenden Messias unter den mit Jesu lebenden Juden Niemand gedacht. Wenn der Mehr- zahl der Juden die Lehre vom gekreuzigten Messias ein σκάνδαλον war; wenn die Jünger Jesu in seine wiederhol- ten deutlichen Todesverkündigungen sich nicht finden konn- ten: so sieht dieſs doch gar nicht aus, als ob die Lehre von einem leidenden Messias unter den Juden jener Zeit im Umlauf gewesen wäre; vielmehr stimmt mit diesen Um- ständen die Behauptung völlig überein, welche der vierte Evangelist dem jüdischen ὄχλος in den Mund legt (12, 34.),
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[316/0335]
Dritter Abschnitt.
Wahrscheinlichkeit folgen, daſs sie auch unter den Juden
zu Jesu Zeit vorhanden gewesen: so hingegen, da nach
den neuesten Untersuchungen wohl die Lehre von einer in
der messianischen Zeit vorzunehmenden Sühnung des Volks
(Ezech. 36, 25. 37, 23. Zach. 13, 1. Dan. 9, 24.) sich im
A. T. findet, aber keine Spur davon, daſs diese Sühnung
durch Leiden und Tod des Messias zu Stande kommen sol-
le 6): so ist von dieser Seite her keine Entscheidung der
vorgelegten Frage zu erwarten. Näher liegen der Zeit Je-
su die A. T.lichen Apokryphen: aber da diese überhaupt
vom Messias schweigen, so kann auch von jenem speciellen
Zug im Bilde desselben keine Rede sein 7); so wie auch
von den beiden das fragliche Zeitalter am nächsten berüh-
renden Schriftstellern, Philo und Josephus, der leztere die
messianischen Hoffnungen seiner Nation verschweigt 8), der
erstere wohl messianische Zeiten und einen messiasartigen
Helden, aber nichts von einem Leiden desselben hat 9). Es
bleiben also nur das N. T. und die späteren jüdischen
Schriften als Quellen übrig.
Im N. T. hat es fast durchaus das Ansehen, als hätte
an einen leidenden und sterbenden Messias unter den mit
Jesu lebenden Juden Niemand gedacht. Wenn der Mehr-
zahl der Juden die Lehre vom gekreuzigten Messias ein
σκάνδαλον war; wenn die Jünger Jesu in seine wiederhol-
ten deutlichen Todesverkündigungen sich nicht finden konn-
ten: so sieht dieſs doch gar nicht aus, als ob die Lehre
von einem leidenden Messias unter den Juden jener Zeit
im Umlauf gewesen wäre; vielmehr stimmt mit diesen Um-
ständen die Behauptung völlig überein, welche der vierte
Evangelist dem jüdischen ὄχλος in den Mund legt (12, 34.),
6) de Wette, bibl. Dogm. §. 201 f. Baumgarten-Grusius, bibl.
Theol. §. 54.
7) s. de Wette, a. a. O. §. 189 ff.
8) vgl. de Wette, a. a. O. §. 193.
9) Gfrörer, Philo, 1, S. 495 ff.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/335>, abgerufen am 24.11.2024.
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