Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Einleitung. §. 12. ge. Von der alten classischen Mythologie nämlich hatPaulus die richtige Einsicht, dass in ihr die Voraussetzung eines Eingreifens höherer Wesen in das menschliche Trei- ben nicht blos Einkleidung, noch weniger frommer Betrug gewesen sei; es stand, wie er ausdrücklich versichert, nicht so, als ob die Menschen, und namentlich die Dichter, die sichtbaren und natürlichen Ursachen der Fakta für sich richtig gewusst, und nur zur Verherrlichung des Gesche- henen die übersinnlichen Ursachen hinzugedacht hätten: vielmehr haben alle, und auch die Dichter, das Dasein und Einwirken unsichtbarer Wesen so gewiss, als das Sichtbare selbst, geglaubt. Nun aber auf die Anfänge der N. T.lichen Geschichte angewendet, solle, meint Dr. Pau- lus, das Wort Mythus gewöhnlich die Bedeutung einer Einkleidung haben, in welche man erst in der Folgezeit die frühsten, nicht genau bekannten Ereignisse absichtlich eingehüllt habe; es solle also hier nicht wie dort eine be- wusstlose, unwillkührliche, sondern eine bewusste und ab- sichtliche Dichtung bezeichnen. Allein wer giebt dem ge- nannten Ausleger das Recht, einen so verkehrten Begriff von N. T.lichen Mythen zum Grunde zu legen, als sollten sie künstliche Produkte absichtsvoller Dichtung sein, eine Vorstellung, welche von allen, die auf gründliche Weise über Mythen in der heiligen Geschichte gehandelt haben, ausdrücklich ausgeschlossen worden ist? 9) Freilich denkt er sich die Sache eigentlich so, im classischen Alterthum sei das Mythische die psychologische Täuschung der bei der Sache Gegenwärtigen, Mitredenden und Mithandeln- 9) s. o. §. 8. namentlich die in Anmerkung 2 und 7. angeführ-
ten Schriften. -- In demselben Irrsal mit Paulus zeigt sich auch Hess in der oben angeführten Abhandlung befangen, wenn er daraus, dass die biblischen Schriftsteller eigentlich verstanden sein wollen, beweisen zu können meint, dass ihre Erzählungen keine Mythen seien. Einleitung. §. 12. ge. Von der alten classischen Mythologie nämlich hatPaulus die richtige Einsicht, daſs in ihr die Voraussetzung eines Eingreifens höherer Wesen in das menschliche Trei- ben nicht blos Einkleidung, noch weniger frommer Betrug gewesen sei; es stand, wie er ausdrücklich versichert, nicht so, als ob die Menschen, und namentlich die Dichter, die sichtbaren und natürlichen Ursachen der Fakta für sich richtig gewuſst, und nur zur Verherrlichung des Gesche- henen die übersinnlichen Ursachen hinzugedacht hätten: vielmehr haben alle, und auch die Dichter, das Dasein und Einwirken unsichtbarer Wesen so gewiſs, als das Sichtbare selbst, geglaubt. Nun aber auf die Anfänge der N. T.lichen Geschichte angewendet, solle, meint Dr. Pau- lus, das Wort Mythus gewöhnlich die Bedeutung einer Einkleidung haben, in welche man erst in der Folgezeit die frühsten, nicht genau bekannten Ereignisse absichtlich eingehüllt habe; es solle also hier nicht wie dort eine be- wuſstlose, unwillkührliche, sondern eine bewuſste und ab- sichtliche Dichtung bezeichnen. Allein wer giebt dem ge- nannten Ausleger das Recht, einen so verkehrten Begriff von N. T.lichen Mythen zum Grunde zu legen, als sollten sie künstliche Produkte absichtsvoller Dichtung sein, eine Vorstellung, welche von allen, die auf gründliche Weise über Mythen in der heiligen Geschichte gehandelt haben, ausdrücklich ausgeschlossen worden ist? 9) Freilich denkt er sich die Sache eigentlich so, im classischen Alterthum sei das Mythische die psychologische Täuschung der bei der Sache Gegenwärtigen, Mitredenden und Mithandeln- 9) s. o. §. 8. namentlich die in Anmerkung 2 und 7. angeführ-
ten Schriften. — In demselben Irrsal mit Paulus zeigt sich auch Hess in der oben angeführten Abhandlung befangen, wenn er daraus, dass die biblischen Schriftsteller eigentlich verstanden sein wollen, beweisen zu können meint, dass ihre Erzählungen keine Mythen seien. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0082" n="58"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 12.</fw><lb/> ge. Von der alten classischen Mythologie nämlich hat<lb/><hi rendition="#k">Paulus</hi> die richtige Einsicht, daſs in ihr die Voraussetzung<lb/> eines Eingreifens höherer Wesen in das menschliche Trei-<lb/> ben nicht blos Einkleidung, noch weniger frommer Betrug<lb/> gewesen sei; es stand, wie er ausdrücklich versichert, nicht<lb/> so, als ob die Menschen, und namentlich die Dichter, die<lb/> sichtbaren und natürlichen Ursachen der Fakta für sich<lb/> richtig gewuſst, und nur zur Verherrlichung des Gesche-<lb/> henen die übersinnlichen Ursachen hinzugedacht hätten:<lb/> vielmehr haben alle, und auch die Dichter, das Dasein<lb/> und Einwirken unsichtbarer Wesen so gewiſs, als das<lb/> Sichtbare selbst, geglaubt. Nun aber auf die Anfänge der<lb/> N. T.lichen Geschichte angewendet, solle, meint Dr. <hi rendition="#k">Pau-<lb/> lus</hi>, das Wort Mythus gewöhnlich die Bedeutung einer<lb/> Einkleidung haben, in welche man erst in der Folgezeit<lb/> die frühsten, nicht genau bekannten Ereignisse absichtlich<lb/> eingehüllt habe; es solle also hier nicht wie dort eine be-<lb/> wuſstlose, unwillkührliche, sondern eine bewuſste und ab-<lb/> sichtliche Dichtung bezeichnen. Allein wer giebt dem ge-<lb/> nannten Ausleger das Recht, einen so verkehrten Begriff<lb/> von N. T.lichen Mythen zum Grunde zu legen, als sollten<lb/> sie künstliche Produkte absichtsvoller Dichtung sein, eine<lb/> Vorstellung, welche von allen, die auf gründliche Weise<lb/> über Mythen in der heiligen Geschichte gehandelt haben,<lb/> ausdrücklich ausgeschlossen worden ist? <note place="foot" n="9)">s. o. §. 8. namentlich die in Anmerkung 2 und 7. angeführ-<lb/> ten Schriften. — In demselben Irrsal mit <hi rendition="#k">Paulus</hi> zeigt sich<lb/> auch <hi rendition="#k">Hess</hi> in der oben angeführten Abhandlung befangen,<lb/> wenn er daraus, dass die biblischen Schriftsteller eigentlich<lb/> verstanden sein wollen, beweisen zu können meint, dass<lb/> ihre Erzählungen keine Mythen seien.</note> Freilich denkt<lb/> er sich die Sache eigentlich so, im classischen Alterthum<lb/> sei das Mythische die psychologische Täuschung der bei<lb/> der Sache Gegenwärtigen, Mitredenden und Mithandeln-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0082]
Einleitung. §. 12.
ge. Von der alten classischen Mythologie nämlich hat
Paulus die richtige Einsicht, daſs in ihr die Voraussetzung
eines Eingreifens höherer Wesen in das menschliche Trei-
ben nicht blos Einkleidung, noch weniger frommer Betrug
gewesen sei; es stand, wie er ausdrücklich versichert, nicht
so, als ob die Menschen, und namentlich die Dichter, die
sichtbaren und natürlichen Ursachen der Fakta für sich
richtig gewuſst, und nur zur Verherrlichung des Gesche-
henen die übersinnlichen Ursachen hinzugedacht hätten:
vielmehr haben alle, und auch die Dichter, das Dasein
und Einwirken unsichtbarer Wesen so gewiſs, als das
Sichtbare selbst, geglaubt. Nun aber auf die Anfänge der
N. T.lichen Geschichte angewendet, solle, meint Dr. Pau-
lus, das Wort Mythus gewöhnlich die Bedeutung einer
Einkleidung haben, in welche man erst in der Folgezeit
die frühsten, nicht genau bekannten Ereignisse absichtlich
eingehüllt habe; es solle also hier nicht wie dort eine be-
wuſstlose, unwillkührliche, sondern eine bewuſste und ab-
sichtliche Dichtung bezeichnen. Allein wer giebt dem ge-
nannten Ausleger das Recht, einen so verkehrten Begriff
von N. T.lichen Mythen zum Grunde zu legen, als sollten
sie künstliche Produkte absichtsvoller Dichtung sein, eine
Vorstellung, welche von allen, die auf gründliche Weise
über Mythen in der heiligen Geschichte gehandelt haben,
ausdrücklich ausgeschlossen worden ist? 9) Freilich denkt
er sich die Sache eigentlich so, im classischen Alterthum
sei das Mythische die psychologische Täuschung der bei
der Sache Gegenwärtigen, Mitredenden und Mithandeln-
9) s. o. §. 8. namentlich die in Anmerkung 2 und 7. angeführ-
ten Schriften. — In demselben Irrsal mit Paulus zeigt sich
auch Hess in der oben angeführten Abhandlung befangen,
wenn er daraus, dass die biblischen Schriftsteller eigentlich
verstanden sein wollen, beweisen zu können meint, dass
ihre Erzählungen keine Mythen seien.
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