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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 12.
alten allegorischen Auslegung wieder genähert. Denn wäh-
rend die natürliche Erklärungsweise der Rationalisten sammt
der schmähenden der Naturalisten der Richtung angehört,
welche mit Aufopferung des göttlichen Gehaltes der heili-
gen Geschichte die leere historische Form derselben fest-
hält: so geht die mythische wie die allegorische darauf
aus, lieber umgekehrt mit Aufopferung der historischen
Wirklichkeit des Erzählten seine absolute Wahrheit fest-
zuhalten. Nach der den beiden letzteren Erklärungsarten
(wie auch der moralischen) zum Grunde liegenden Ansicht
giebt der Geschichtschreiber zwar etwas scheinbar Histo-
risches: aber ihm bewusst oder unbewusst 1) hat ein hö-
herer Geist diess Geschichtliche als blosse Hülle einer über-
geschichtlichen Wahrheit oder Meinung zubereitet, und
nur der wesentliche Unterschied findet zwischen den zu-
letzt angeführten Erklärungsweisen statt, dass nach der
allegorischen dieser höhere Geist unmittelbar der göttliche
selbst, nach der mythischen der Geist eines Volks oder
einer Gemeinde (nach der moralischen in der Regel der
des auslegenden Subjektes) ist, und somit die Erzählung
nach der ersteren Ansicht aus übernatürlicher Eingebung
sich herschreibt, nach der andern auf dem natürlichen
Wege der Sagenbildung sich entwickelt hat; womit noch
diess zusammenhängt, dass die allegorische Auslegung (und
die moralische) mit der ungebundensten Willkühr jeden
Gedanken, den sie für gotteswürdig (moralisch) hält, der
Geschichte als Inhalt unterschieben kann, wogegen die my-

1) Nach Philo hat Moses selbst den tieferen Sinn seiner Schrif-
ten beabsichtigt, s. Gfrörer I, S. 94.; auch nach Origenes
Comm. in Joann. Tom. 6, §. 2. Tom. 10, §. 4., hat der Pro-
phet und Evangelist ein gewisses Bewusstsein des tieferen
Sinns seiner Worte und Erzählungen: der mythischen An-
sicht zufolge wird sich der Berichterstatter der in seiner
Erzählung verkörperten Idee nicht rein als solcher, sondern
nur in der Form jener Erzählung bewusst.

Einleitung. §. 12.
alten allegorischen Auslegung wieder genähert. Denn wäh-
rend die natürliche Erklärungsweise der Rationalisten sammt
der schmähenden der Naturalisten der Richtung angehört,
welche mit Aufopferung des göttlichen Gehaltes der heili-
gen Geschichte die leere historische Form derselben fest-
hält: so geht die mythische wie die allegorische darauf
aus, lieber umgekehrt mit Aufopferung der historischen
Wirklichkeit des Erzählten seine absolute Wahrheit fest-
zuhalten. Nach der den beiden letzteren Erklärungsarten
(wie auch der moralischen) zum Grunde liegenden Ansicht
giebt der Geschichtschreiber zwar etwas scheinbar Histo-
risches: aber ihm bewuſst oder unbewuſst 1) hat ein hö-
herer Geist dieſs Geschichtliche als bloſse Hülle einer über-
geschichtlichen Wahrheit oder Meinung zubereitet, und
nur der wesentliche Unterschied findet zwischen den zu-
letzt angeführten Erklärungsweisen statt, daſs nach der
allegorischen dieser höhere Geist unmittelbar der göttliche
selbst, nach der mythischen der Geist eines Volks oder
einer Gemeinde (nach der moralischen in der Regel der
des auslegenden Subjektes) ist, und somit die Erzählung
nach der ersteren Ansicht aus übernatürlicher Eingebung
sich herschreibt, nach der andern auf dem natürlichen
Wege der Sagenbildung sich entwickelt hat; womit noch
dieſs zusammenhängt, daſs die allegorische Auslegung (und
die moralische) mit der ungebundensten Willkühr jeden
Gedanken, den sie für gotteswürdig (moralisch) hält, der
Geschichte als Inhalt unterschieben kann, wogegen die my-

1) Nach Philo hat Moses selbst den tieferen Sinn seiner Schrif-
ten beabsichtigt, s. Gfrörer I, S. 94.; auch nach Origenes
Comm. in Joann. Tom. 6, §. 2. Tom. 10, §. 4., hat der Pro-
phet und Evangelist ein gewisses Bewusstsein des tieferen
Sinns seiner Worte und Erzählungen: der mythischen An-
sicht zufolge wird sich der Berichterstatter der in seiner
Erzählung verkörperten Idee nicht rein als solcher, sondern
nur in der Form jener Erzählung bewusst.
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[52/0076] Einleitung. §. 12. alten allegorischen Auslegung wieder genähert. Denn wäh- rend die natürliche Erklärungsweise der Rationalisten sammt der schmähenden der Naturalisten der Richtung angehört, welche mit Aufopferung des göttlichen Gehaltes der heili- gen Geschichte die leere historische Form derselben fest- hält: so geht die mythische wie die allegorische darauf aus, lieber umgekehrt mit Aufopferung der historischen Wirklichkeit des Erzählten seine absolute Wahrheit fest- zuhalten. Nach der den beiden letzteren Erklärungsarten (wie auch der moralischen) zum Grunde liegenden Ansicht giebt der Geschichtschreiber zwar etwas scheinbar Histo- risches: aber ihm bewuſst oder unbewuſst 1) hat ein hö- herer Geist dieſs Geschichtliche als bloſse Hülle einer über- geschichtlichen Wahrheit oder Meinung zubereitet, und nur der wesentliche Unterschied findet zwischen den zu- letzt angeführten Erklärungsweisen statt, daſs nach der allegorischen dieser höhere Geist unmittelbar der göttliche selbst, nach der mythischen der Geist eines Volks oder einer Gemeinde (nach der moralischen in der Regel der des auslegenden Subjektes) ist, und somit die Erzählung nach der ersteren Ansicht aus übernatürlicher Eingebung sich herschreibt, nach der andern auf dem natürlichen Wege der Sagenbildung sich entwickelt hat; womit noch dieſs zusammenhängt, daſs die allegorische Auslegung (und die moralische) mit der ungebundensten Willkühr jeden Gedanken, den sie für gotteswürdig (moralisch) hält, der Geschichte als Inhalt unterschieben kann, wogegen die my- 1) Nach Philo hat Moses selbst den tieferen Sinn seiner Schrif- ten beabsichtigt, s. Gfrörer I, S. 94.; auch nach Origenes Comm. in Joann. Tom. 6, §. 2. Tom. 10, §. 4., hat der Pro- phet und Evangelist ein gewisses Bewusstsein des tieferen Sinns seiner Worte und Erzählungen: der mythischen An- sicht zufolge wird sich der Berichterstatter der in seiner Erzählung verkörperten Idee nicht rein als solcher, sondern nur in der Form jener Erzählung bewusst.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/76>, abgerufen am 27.04.2024.