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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 12.
thische durch die Rücksicht auf die Angemessenheit an den
Geist und die Vorstellungsweise eines Volks und einer Zeit
in Aufsuchung der den Erzählungen zum Grunde liegen-
den Ideen gebunden ist.

Gegen diese neue Ansicht von der heiligen Geschichte
sprachen sich übrigens beide Parteien, Orthodoxe wie Ra-
tionalisten, aus. Gleich Anfangs, so lange die mythische
Auffassung noch innerhalb der Grenzen der A. T.lichen
Urgeschichte stand, hat sich von ersterer Seite namentlich
Hess gegen dieselbe geäussert 2). So unglaublich man es
finden mag, so läuft doch der ganze Inhalt seiner ziem-
lich umfangreichen Abhandlung auf die drei Schlüsse hin-
aus, welche jede weitere Bemerkung überflüssig machen,
ausser der, dass Hess keineswegs der letzte Orthodoxe war,
welcher die mythische Erklärungsart durch solche Waffen
bekämpfen zu können meinte. 1) Mythen sind uneigent-
lich zu verstehen; nun wollen aber die biblischen Geschicht-
schreiber eigentlich verstanden sein: folglich erzählen sie
keine Mythen. 2) Mythologie ist etwas Heidnisches; die
Bibel ist ein christliches Buch: also enthält sie keine My-
thologie. Der dritte Schluss ist complicirter, und wie sich
unten zeigen wird, auch mehrsagend: Wenn blos in den
ältesten biblischen Büchern, die weniger historisch ver-
bürgt sind, Wunderbares vorkäme, in den späteren aber
nicht mehr, so könnte man das Wunderbare für ein Kenn-
zeichen des Mythischen halten; nun aber kommt das Wun-
derbare in den späteren, unleugbar historischen Büchern
noch ebenso vor, wie in den frühsten: folglich kann es
nicht als ein Kriterium des Mythischen gelten. Selbst die
schaalste natürliche Erklärung, wenn sie nur noch etwas
von Geschichte stehen liess, mochte sie auch jeden höhe-

2) Grenzbestimmung dessen, was in der Bibel Mythus u. s. f.,
und was wirkliche Geschichte ist. In seiner Bibliothek der
heiligen Geschichte 2. Bd. S. 155 ff.

Einleitung. §. 12.
thische durch die Rücksicht auf die Angemessenheit an den
Geist und die Vorstellungsweise eines Volks und einer Zeit
in Aufsuchung der den Erzählungen zum Grunde liegen-
den Ideen gebunden ist.

Gegen diese neue Ansicht von der heiligen Geschichte
sprachen sich übrigens beide Parteien, Orthodoxe wie Ra-
tionalisten, aus. Gleich Anfangs, so lange die mythische
Auffassung noch innerhalb der Grenzen der A. T.lichen
Urgeschichte stand, hat sich von ersterer Seite namentlich
Hess gegen dieselbe geäussert 2). So unglaublich man es
finden mag, so läuft doch der ganze Inhalt seiner ziem-
lich umfangreichen Abhandlung auf die drei Schlüsse hin-
aus, welche jede weitere Bemerkung überflüssig machen,
ausser der, daſs Hess keineswegs der letzte Orthodoxe war,
welcher die mythische Erklärungsart durch solche Waffen
bekämpfen zu können meinte. 1) Mythen sind uneigent-
lich zu verstehen; nun wollen aber die biblischen Geschicht-
schreiber eigentlich verstanden sein: folglich erzählen sie
keine Mythen. 2) Mythologie ist etwas Heidnisches; die
Bibel ist ein christliches Buch: also enthält sie keine My-
thologie. Der dritte Schluſs ist complicirter, und wie sich
unten zeigen wird, auch mehrsagend: Wenn blos in den
ältesten biblischen Büchern, die weniger historisch ver-
bürgt sind, Wunderbares vorkäme, in den späteren aber
nicht mehr, so könnte man das Wunderbare für ein Kenn-
zeichen des Mythischen halten; nun aber kommt das Wun-
derbare in den späteren, unleugbar historischen Büchern
noch ebenso vor, wie in den frühsten: folglich kann es
nicht als ein Kriterium des Mythischen gelten. Selbst die
schaalste natürliche Erklärung, wenn sie nur noch etwas
von Geschichte stehen lieſs, mochte sie auch jeden höhe-

2) Grenzbestimmung dessen, was in der Bibel Mythus u. s. f.,
und was wirkliche Geschichte ist. In seiner Bibliothek der
heiligen Geschichte 2. Bd. S. 155 ff.
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[53/0077] Einleitung. §. 12. thische durch die Rücksicht auf die Angemessenheit an den Geist und die Vorstellungsweise eines Volks und einer Zeit in Aufsuchung der den Erzählungen zum Grunde liegen- den Ideen gebunden ist. Gegen diese neue Ansicht von der heiligen Geschichte sprachen sich übrigens beide Parteien, Orthodoxe wie Ra- tionalisten, aus. Gleich Anfangs, so lange die mythische Auffassung noch innerhalb der Grenzen der A. T.lichen Urgeschichte stand, hat sich von ersterer Seite namentlich Hess gegen dieselbe geäussert 2). So unglaublich man es finden mag, so läuft doch der ganze Inhalt seiner ziem- lich umfangreichen Abhandlung auf die drei Schlüsse hin- aus, welche jede weitere Bemerkung überflüssig machen, ausser der, daſs Hess keineswegs der letzte Orthodoxe war, welcher die mythische Erklärungsart durch solche Waffen bekämpfen zu können meinte. 1) Mythen sind uneigent- lich zu verstehen; nun wollen aber die biblischen Geschicht- schreiber eigentlich verstanden sein: folglich erzählen sie keine Mythen. 2) Mythologie ist etwas Heidnisches; die Bibel ist ein christliches Buch: also enthält sie keine My- thologie. Der dritte Schluſs ist complicirter, und wie sich unten zeigen wird, auch mehrsagend: Wenn blos in den ältesten biblischen Büchern, die weniger historisch ver- bürgt sind, Wunderbares vorkäme, in den späteren aber nicht mehr, so könnte man das Wunderbare für ein Kenn- zeichen des Mythischen halten; nun aber kommt das Wun- derbare in den späteren, unleugbar historischen Büchern noch ebenso vor, wie in den frühsten: folglich kann es nicht als ein Kriterium des Mythischen gelten. Selbst die schaalste natürliche Erklärung, wenn sie nur noch etwas von Geschichte stehen lieſs, mochte sie auch jeden höhe- 2) Grenzbestimmung dessen, was in der Bibel Mythus u. s. f., und was wirkliche Geschichte ist. In seiner Bibliothek der heiligen Geschichte 2. Bd. S. 155 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/77>, abgerufen am 28.04.2024.