chenen Sünderin in die Salbungsgeschichte des Lukas ge- kommen seien? War in der urchristlichen Sage einerseits die Kunde von einer Frau, die Jesum gesalbt hatte, desswegen angegriffen, von Jesu aber vertheidigt, und andrerseits von einem Weibe, das wegen vieler Sünden vor ihm angeklagt, von ihm aber losgesprochen worden war: wie leicht konn- ten, vermittelt durch die Vorstellung einer auch als Busse zu fassenden Fusssalbung, beide Geschichten ineinander- fliessen, und die salbende zugleich zur Sünderin, die Sün- derin zugleich zur salbenden werden? Dass dann der Schauplaz der Lossprechung ein Gastmahl wurde, kam auch aus der Erzählung von der Salbung; der Gastgeber muss- te ein Pharisäer sein, theils weil die Anklage der Sünde- rin von pharisäischer Seite ausgegangen sein sollte, theils hat sich uns Lukas sonst schon als Liebhaber von Phari- säermahlen gezeigt; die Reden Jesu endlich mögen zum Theil aus der ursprünglichen Erzählung von der Sünderin genommen, zum Theil von verwandten Fällen entlehnt sein. Die rein erhaltenen Geschichten hätten wir so einerseits bei den zwei ersten Evaugelisten, andrerseits bei dem vier- ten oder wer der Verfasser der Perikope von der Ehe- brecherin ist; denn ist hier gleich schon manches Sagen- hafte mituntergelaufen, so ist doch von der Salbung noch nichts eingemischt.
Haben wir hiemit die eine Umgestaltung der Erzäh- lung von der salbenden Frau, nämlich ihre Herabsetzung zur Sünderin, aus dem Einfluss einer andern verwandten Anekdote erklärt, welche in der ersten Christenheit im Umlauf war: so können wir jezt versuchsweise uns umse- hen, ob nicht auch zu der entgegengesezten, übrigens für sich schon leicht erklärlichen, Umbildung der Unbekann- ten in die Maria von Bethanien ein ähnlicher äusserer Ein- fluss mitgewirkt habe? Dieser könnte nur von der Einen Geschichte ausgegangen sein, welche uns (ausser ihrem Auf- treten bei der Wiederbelebung des Lazarus) von dieser Ma-
Achtes Kapitel. §. 86.
chenen Sünderin in die Salbungsgeschichte des Lukas ge- kommen seien? War in der urchristlichen Sage einerseits die Kunde von einer Frau, die Jesum gesalbt hatte, deſswegen angegriffen, von Jesu aber vertheidigt, und andrerseits von einem Weibe, das wegen vieler Sünden vor ihm angeklagt, von ihm aber losgesprochen worden war: wie leicht konn- ten, vermittelt durch die Vorstellung einer auch als Buſse zu fassenden Fuſssalbung, beide Geschichten ineinander- flieſsen, und die salbende zugleich zur Sünderin, die Sün- derin zugleich zur salbenden werden? Daſs dann der Schauplaz der Lossprechung ein Gastmahl wurde, kam auch aus der Erzählung von der Salbung; der Gastgeber muſs- te ein Pharisäer sein, theils weil die Anklage der Sünde- rin von pharisäischer Seite ausgegangen sein sollte, theils hat sich uns Lukas sonst schon als Liebhaber von Phari- säermahlen gezeigt; die Reden Jesu endlich mögen zum Theil aus der ursprünglichen Erzählung von der Sünderin genommen, zum Theil von verwandten Fällen entlehnt sein. Die rein erhaltenen Geschichten hätten wir so einerseits bei den zwei ersten Evaugelisten, andrerseits bei dem vier- ten oder wer der Verfasser der Perikope von der Ehe- brecherin ist; denn ist hier gleich schon manches Sagen- hafte mituntergelaufen, so ist doch von der Salbung noch nichts eingemischt.
Haben wir hiemit die eine Umgestaltung der Erzäh- lung von der salbenden Frau, nämlich ihre Herabsetzung zur Sünderin, aus dem Einfluſs einer andern verwandten Anekdote erklärt, welche in der ersten Christenheit im Umlauf war: so können wir jezt versuchsweise uns umse- hen, ob nicht auch zu der entgegengesezten, übrigens für sich schon leicht erklärlichen, Umbildung der Unbekann- ten in die Maria von Bethanien ein ähnlicher äusserer Ein- fluſs mitgewirkt habe? Dieser könnte nur von der Einen Geschichte ausgegangen sein, welche uns (ausser ihrem Auf- treten bei der Wiederbelebung des Lazarus) von dieser Ma-
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Achtes Kapitel. §. 86.
chenen Sünderin in die Salbungsgeschichte des Lukas ge-
kommen seien? War in der urchristlichen Sage einerseits
die Kunde von einer Frau, die Jesum gesalbt hatte, deſswegen
angegriffen, von Jesu aber vertheidigt, und andrerseits von
einem Weibe, das wegen vieler Sünden vor ihm angeklagt,
von ihm aber losgesprochen worden war: wie leicht konn-
ten, vermittelt durch die Vorstellung einer auch als Buſse
zu fassenden Fuſssalbung, beide Geschichten ineinander-
flieſsen, und die salbende zugleich zur Sünderin, die Sün-
derin zugleich zur salbenden werden? Daſs dann der
Schauplaz der Lossprechung ein Gastmahl wurde, kam
auch aus der Erzählung von der Salbung; der Gastgeber muſs-
te ein Pharisäer sein, theils weil die Anklage der Sünde-
rin von pharisäischer Seite ausgegangen sein sollte, theils
hat sich uns Lukas sonst schon als Liebhaber von Phari-
säermahlen gezeigt; die Reden Jesu endlich mögen zum
Theil aus der ursprünglichen Erzählung von der Sünderin
genommen, zum Theil von verwandten Fällen entlehnt sein.
Die rein erhaltenen Geschichten hätten wir so einerseits
bei den zwei ersten Evaugelisten, andrerseits bei dem vier-
ten oder wer der Verfasser der Perikope von der Ehe-
brecherin ist; denn ist hier gleich schon manches Sagen-
hafte mituntergelaufen, so ist doch von der Salbung noch
nichts eingemischt.
Haben wir hiemit die eine Umgestaltung der Erzäh-
lung von der salbenden Frau, nämlich ihre Herabsetzung
zur Sünderin, aus dem Einfluſs einer andern verwandten
Anekdote erklärt, welche in der ersten Christenheit im
Umlauf war: so können wir jezt versuchsweise uns umse-
hen, ob nicht auch zu der entgegengesezten, übrigens für
sich schon leicht erklärlichen, Umbildung der Unbekann-
ten in die Maria von Bethanien ein ähnlicher äusserer Ein-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/751>, abgerufen am 24.11.2024.
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