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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
vgl. 5, 37. Luc. 8, 51.) schien uns auf einem eigenen
Schluss des Referenten zu beruhen, und bei Johannes ha-
ben wir sogar fingirte Personen zu finden geglaubt; nun-
mehr aber, am Eingang zu den einzelnen Erzählungen,
wo wir stehen, wollen wir die schon erwähnten allge-
meinen Anfangs-, Schluss- und Übergangsformeln der ver-
schiedenen Evangelien aus dem angegebenen Gesichtspunkt
noch betrachten. Hier nämlich finden wir zwischen Mat-
thäus und den übrigen Synoptikern den Unterschied der
grösseren und geringeren Anschaulichkeit auf eine Weise
ausgeprägt, welche uns am besten belehren kann, was es
mit dieser Anschaulichkeit auf sich hat.

Wenn Matthäus (8, 16 f.) nur allgemein angiebt, dass
am Abend nach der Heilung der Schwiegermutter des Pe-
trus viele Dämonische zu Jesu gebracht worden seien, wel-
che er, sammt andern Kranken, alle geheilt habe: so sezt
Markus (1, 32.) höchst anschaulich, wie wenn er es selbst
gesehen hätte, hinzu, dass die ganze Stadt sich vor der
Thüre des Hauses, in welchem Jesus war, versammelt ha-
be; ein andermal lässt er so viel Volks zusammenströmen,
dass es das ganze Vorhaus sperrte (2, 2.); zwei weitere
Male macht er das Getümmel so gross, dass Jesus und sei-
ne Jünger nicht einmal zum Essen kommen können (3, 20.
6, 31.), und Lukas lässt gar einmal Myriaden Volks zu-
sammenkommen, in solchem Gedränge, ose katapatein al-
leles (12, 1.). Alles höchst anschauliche Züge offenbar,
aber deren Mangel dem Matthäus nur zur Ehre gereichen
kann; denn was sind sie anders, als sagenhafte Übertrei-
bungen, wie sie nach Schleiermacher's Bemerkung 6) na-
mentlich der Erzählung des Markus nicht selten ein fast
apokryphisches Ansehen geben? Wenn dann in detaillir-
ten Erzählungen, wie uns im Folgenden die Beispiele zahl-
reich genug vorkommen werden, während Matthäus einfach

6) Über den Lukas, S. 74 u. sonst.

Zweiter Abschnitt.
vgl. 5, 37. Luc. 8, 51.) schien uns auf einem eigenen
Schluſs des Referenten zu beruhen, und bei Johannes ha-
ben wir sogar fingirte Personen zu finden geglaubt; nun-
mehr aber, am Eingang zu den einzelnen Erzählungen,
wo wir stehen, wollen wir die schon erwähnten allge-
meinen Anfangs-, Schluſs- und Übergangsformeln der ver-
schiedenen Evangelien aus dem angegebenen Gesichtspunkt
noch betrachten. Hier nämlich finden wir zwischen Mat-
thäus und den übrigen Synoptikern den Unterschied der
gröſseren und geringeren Anschaulichkeit auf eine Weise
ausgeprägt, welche uns am besten belehren kann, was es
mit dieser Anschaulichkeit auf sich hat.

Wenn Matthäus (8, 16 f.) nur allgemein angiebt, daſs
am Abend nach der Heilung der Schwiegermutter des Pe-
trus viele Dämonische zu Jesu gebracht worden seien, wel-
che er, sammt andern Kranken, alle geheilt habe: so sezt
Markus (1, 32.) höchst anschaulich, wie wenn er es selbst
gesehen hätte, hinzu, daſs die ganze Stadt sich vor der
Thüre des Hauses, in welchem Jesus war, versammelt ha-
be; ein andermal läſst er so viel Volks zusammenströmen,
daſs es das ganze Vorhaus sperrte (2, 2.); zwei weitere
Male macht er das Getümmel so groſs, daſs Jesus und sei-
ne Jünger nicht einmal zum Essen kommen können (3, 20.
6, 31.), und Lukas läſst gar einmal Myriaden Volks zu-
sammenkommen, in solchem Gedränge, ὥςε καταπατεῖν ἀλ-
λήλες (12, 1.). Alles höchst anschauliche Züge offenbar,
aber deren Mangel dem Matthäus nur zur Ehre gereichen
kann; denn was sind sie anders, als sagenhafte Übertrei-
bungen, wie sie nach Schleiermacher's Bemerkung 6) na-
mentlich der Erzählung des Markus nicht selten ein fast
apokryphisches Ansehen geben? Wenn dann in detaillir-
ten Erzählungen, wie uns im Folgenden die Beispiele zahl-
reich genug vorkommen werden, während Matthäus einfach

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[682/0706] Zweiter Abschnitt. vgl. 5, 37. Luc. 8, 51.) schien uns auf einem eigenen Schluſs des Referenten zu beruhen, und bei Johannes ha- ben wir sogar fingirte Personen zu finden geglaubt; nun- mehr aber, am Eingang zu den einzelnen Erzählungen, wo wir stehen, wollen wir die schon erwähnten allge- meinen Anfangs-, Schluſs- und Übergangsformeln der ver- schiedenen Evangelien aus dem angegebenen Gesichtspunkt noch betrachten. Hier nämlich finden wir zwischen Mat- thäus und den übrigen Synoptikern den Unterschied der gröſseren und geringeren Anschaulichkeit auf eine Weise ausgeprägt, welche uns am besten belehren kann, was es mit dieser Anschaulichkeit auf sich hat. Wenn Matthäus (8, 16 f.) nur allgemein angiebt, daſs am Abend nach der Heilung der Schwiegermutter des Pe- trus viele Dämonische zu Jesu gebracht worden seien, wel- che er, sammt andern Kranken, alle geheilt habe: so sezt Markus (1, 32.) höchst anschaulich, wie wenn er es selbst gesehen hätte, hinzu, daſs die ganze Stadt sich vor der Thüre des Hauses, in welchem Jesus war, versammelt ha- be; ein andermal läſst er so viel Volks zusammenströmen, daſs es das ganze Vorhaus sperrte (2, 2.); zwei weitere Male macht er das Getümmel so groſs, daſs Jesus und sei- ne Jünger nicht einmal zum Essen kommen können (3, 20. 6, 31.), und Lukas läſst gar einmal Myriaden Volks zu- sammenkommen, in solchem Gedränge, ὥςε καταπατεῖν ἀλ- λήλες (12, 1.). Alles höchst anschauliche Züge offenbar, aber deren Mangel dem Matthäus nur zur Ehre gereichen kann; denn was sind sie anders, als sagenhafte Übertrei- bungen, wie sie nach Schleiermacher's Bemerkung 6) na- mentlich der Erzählung des Markus nicht selten ein fast apokryphisches Ansehen geben? Wenn dann in detaillir- ten Erzählungen, wie uns im Folgenden die Beispiele zahl- reich genug vorkommen werden, während Matthäus einfach 6) Über den Lukas, S. 74 u. sonst.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 682. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/706>, abgerufen am 18.05.2024.